Wissenschaft & Forschung

Die Herstellung von Grippe-Impfstoffen in Hühnereiern ist zeitaufwendig und umständlich. Auch bei anderen immunologisch relevanten Präparaten ist die Herstellungsmethode der entscheidende Engpass. Für HIV und Hepatitis wurde jetzt die Herstellung mit Algen im Bioreaktor erfolgreich getestet.
Alle Jahre wieder im Juni trifft nach monatelanger Produktionsphase die neue Charge Grippe-Impfstoff in den Kliniken ein, die vor der nächsten Grippesaison noch getestet werden muss. Zwischen der Entscheidung dafür, welche Erregerstämme bei der Impfung berücksichtigt werden sollten, und der Verabreichung der Impfung selbst vergeht der größte Teil des Jahres. In dieser Zeit kann sich die Virenpopulation so stark verändern, dass die Impfung wirkungslos wird. Oder ein neuer Virenstamm wird unerwartet virulent und breitet sich so schnell aus, dass die Impfstoffhersteller chancenlos sind.Die Probleme mit der seit 70 Jahren verwendeten Impfung sind bekannt: Nur die im lebenden Organismus, also im Hühnerei gezüchteten Virenpartikel wirken. Einzelne Virenproteine lassen sich zwar in einfacheren Systemen rekombinant herstellen, aber diese sind weniger wirksam.Herstellungsprobleme gibt es auch bei anderen Wirkstoffen. Antikörper könnten Wunder wirken, aber ihre Herstellung erfordert lebende Säugetierzellen und ist deshalb astronomisch teuer. Einige Forschungsgruppen haben versucht, Pflanzen genetisch zu manipulieren, damit sie Antikörper komplett mit allen erforderlichen Modifikationen herstellen.1) Diese Verfahren sind allerdings nicht hinreichend effizient, um sie kommerziell zu nutzen.Neuere Arbeiten wecken Hoffnungen darauf, dass Algen Impfstoffe und Antikörper effizient biotechnisch produzieren könnten.<h2>Algen gegen Aids</h2>Die Grünalge Chlamydomonas reinhardtii (Abbildung 1) ist ein molekularbiologisch gut charakterisiertes Modellsystem, da sich ihr Genom im Labor leicht manipulieren lässt. Nur mit der gentechnischen Expression von Fremdproteinen wollte es bei dieser Alge bisher nicht so gut klappen wie etwa bei Bakterien oder Hefen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/KFCqt4MyRKeuquJ9D9Yq"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii. <named-content>Quelle: Dartmouth Electron Microscope Facility, Dartmouth College</named-content></figcaption></figure>
Die Arbeitsgruppe von Ralph Bock am Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam-Golm entwickelte Mutanten, die eine höhere Expressionsrate für Fremdgene aufweisen als die gängigen Stämme.2)Dann untersuchte sie, welche Bedeutung der ungewöhnlich hohe Guanin- und Cytosingehalt der Algen-DNA sowie die Codon-Wahl für die Expression von Fremdproteinen haben. Da für die 20 Aminosäuren des genetischen Codes und das Stoppsignal insgesamt 64 Dreierkombinationen der DNA-Buchstaben A, C, G und T zur Verfügung stehen, werden viele Aminosäuren von mehr als einer Kombination vertreten. Somit kann jede Art sowohl die Häufigkeit bestimmter Codons variieren als auch den Anteil der GC-Basenpaare, die mit ihren drei Wasserstoffbrückenbindungen etwas stabiler sind als AT-Paare mit zwei.Diese beiden Parameter hängen zusammen, da ein Austausch eines GC-Paars gegen ein AT-Paar beide beeinflusst, wirken aber unterschiedlich. Der GC-Gehalt beeinflusst die globale thermodynamische Stabilität der DNA und ist deshalb zum Beispiel bei hitzeliebenden Mikroben auffallend erhöht. Die Häufigkeit der Codonwahl hingegen muss mit der Verteilung der Transfer-RNA abgestimmt werden, die diese Codons erkennt und ihnen die entsprechenden Aminosäuren zuordnet.Durch systematische Expressionsversuche, in denen sie beide Parameter getrennt variierten, wiesen die Max-Planck-Forscher nach, dass die Codonwahl das limitierende Kriterium ist.3) Wenn die Alge ein Fremdgen mit abweichender Codonhäufigkeit exprimieren soll, gehen ihr die Transfer-RNAs aus, die sie sonst nicht so oft verwenden würde – und die Expression verlangsamt sich.Aufgrund dieser Erkenntnisse produzierte die Arbeitsgruppe nun einen vielversprechenden Impfstoff, nämlich das HIV-Oberflächenprotein p24, in der Alge. Dazu bearbeiteten die Forscher das HIV-Gen so, dass seine Codonhäufigkeit den Gewohnheiten der Alge entspricht, ohne dass sich dadurch die Abfolge der codierten Aminosäuren ändert. Mit derselben Methode erreichten sie auch die Expression eines weiteren Fremdproteins, des Genmarkers nptII.4)Die Anreicherung des exprimierten Fremdproteins in der Alge erreicht ähnliche Werte wie die in der Tabakpflanze. Im Gegensatz zu dieser gedeiht Chlamydomonas im Bioreaktor ohne Nährstoffquellen – außer dem Kohlendioxid aus der Luft und den Mineralien aus dem Wasser –, vermehrt sich rasch und ist gentechnisch leichter zu verändern. Chlamydomonas könnte mit dieser Methode zu einer konkurrenzfähigen Spezies in der biotechnischen Herstellung von Pharmawirkstoffen werden, hoffen die Autoren.<h2>Antikörper aus Kieselalgen</h2>Franziska Hempel und Kollegen am Zentrum für synthetische Mikrobiologie in Marburg exprimierten im Jahr 2011 einen monoklonalen menschlichen Antikörper der IgG-Klasse gegen das Oberflächenprotein der Hepatitis B komplett mit diesem Protein, also dem zugehörigen Antigen, in der Kieselalge Phaeodactylum tricornutum. Dieses Protein dient bereits als Impfstoff gegen Hepatitis B. Seine Herstellung in Hefekulturen ist allerdings teuer.Bei der Methode von Hempel et al. reicherte sich der Antikörper bereits nach wenigen Stunden in hoher Konzentration (8,7 % des löslichen Proteins) im endoplasmatischen Retikulum (ER) der Kieselalgen an.5) Diese Werte übertreffen bei weitem die Expression desselben Proteins in der Tabakpflanze. Auch wird der Impfstoff in der Kieselalge besser exprimiert als in der Tabakpflanze. In einem weiteren Schritt brachten Hempel und Kollegen die Kieselalge dazu, die Fremdproteine in das Wachstumsmedium abzusondern. Da die Alge sonst keine nennenswerte Menge an Protein ausscheidet, fallen die Fremdproteine bereits in reiner Form an, und ein Zellaufschluss mit Proteinaufreinigung ist nicht erforderlich.6)Die Herstellung rekombinanter Proteine in Kieselalgen im Bioreaktor umgeht außerdem einige Probleme, die bei Gefäßpflanzen unumgänglich sind, heben die Marburger Autoren hervor. Dazu gehören die langsame Generationenfolge, die Ausbreitung genetisch veränderter Samen sowie die Konkurrenz mit der Landwirtschaft um Ressourcen. Nach Isolierung der Pharmaproteine aus den Sekreten der Kieselalge könnten deren Rückstände zusätzlich Biokraftstoff erzeugen. Im Gegensatz zu den teuren und aufwendigen Zellkulturen mit Säugerzellen ist bei Pflanzen und Algen die Übertragung von Krankheitskeimen grundsätzlich ausgeschlossen.Die bemerkenswerteste Eigenheit der Kieselalgen, ihre filigrane Silikathülle,7) steht bei Bemühungen zur Proteinexpression eher im Weg: Das Silicium muss zur Verfügung gestellt und nachher wieder rezykliert werden. Doch könnte das gläserne Skelett dieser Algen womöglich auch als Medikamententransporter dienen. Die Arbeitsgruppen von Nils Kröger am B-Cube-Forschungszentrum der TU Dresden und Nicolas Voelcker an der University of South Australia in Mawson Lakes demonstrierten diesen neuen Ansatz vor kurzem, indem sie das antikörperbindende Protein G in der Kieselalge Thalassiosira pseudonana so exprimierten, dass sich dieses auf der Oberfläche der Silicaschale präsentiert, auch wenn die Kieselalge abgetötet und das Biosilica aufgereinigt wird.8)Die proteindekorierte Schale kann als Grundlage für zielgerichtete Waffen gegen Krebsgeschwüre dienen, wenn man etwa an das Protein G geeignete Antikörper zur Steuerung bindet. Die eigentlichen zytotoxischen Wirkstoffe verpackten die Forscher in Lipidvesikel, die sie durch elektrostatische Adhäsion an die Oberfläche der Diatomeenschale banden (Abbildung 2).<figure><img src="https://media.graphcms.com/3eQrmzQYQ966Gu3UkTDm"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Wirkprinzip therapeutischer Nanopartikel aus genetisch veränderter Kieselerde. Gentechnisch veränderte Kieselerde (grün) aus Diatomeen enthält in Liposomen eingeschlossene Arzneistoffmoleküle (gelb). Wird die Kieselerdeoberfläche mit zellspezifischen Antikörpern funktionalisiert, bindet das Nanopartikel an zusammenhängende Neuroblastomzellen (pink) und an suspendierte Lymphozyten (violett).8)</figcaption></figure>
<h2>Grüne Triebe</h2>Unterdessen geht die Forschung mit pflanzlichen Expressionssystemen weiter. Icon-Genetics in Halle, das zum Bayer-Konzern gehört, entwickelt personalisierte Impfstoffe zur Behandlung des oft mit AIDS assoziierten Non-Hodgkin-Lymphoms, einer Art Lymphsystemkrebs. Die Impfstoffe sind Antikörper, die sich vom Tumor des Patienten ableiten und dann in Tabakpflanzen in größerer Menge hergestellt werden. Vor kurzem zeigte eine klinische Studie (Phase I), dass die Antikörper sowohl verträglich sind als auch die Immunantwort gegen den Tumor stimulieren.Biolex in Pittsboro, North Carolina, musste hingegen bereits im Jahr 2012 seine Versuche aufgeben, menschliche Antikörper in Wasserlinsen herzustellen, und Konkurs anmelden.Greenovation in Freiburg hat unterdessen Moos als Produktionssystem auserkoren, und zwar die Art Physcomitrella patens. Das erste Produkt des Unternehmens ist die rekombinante Version der menschlichen α-Galaktosidase für die Ersatztherapie der Fabry-Krankheit, einer seltenen erblichen Stoffwechselstörung. Das Enzym befindet sich derzeit in der klinischen Erprobung. Drei weitere Wirkstoffkandidaten, die sich in dem Moossystem produzieren lassen, sind in der Pipeline.Ein pflanzliches System, das die Hühnereier für die Grippeimpfung ersetzt, müsste allerdings erst noch erfunden werden.Michael Groß ist freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 M. Groß, Nachr. Chem. 2007, 55, 412.</li><li>
2 J. Neupert, D. Karcher, R. Bock, Plant J. 2009, 57, 1140.</li><li>
3 R. Barahimipour, D. Strenkert, J. Neupert et al., Plant J. 2015, 84, 704.</li><li>
4 R. Barahimipour, J. Neupert, R. Bock, Plant Mol. Biol. 2016, 90, 403.</li><li>
5 F. Hempel, J. Lau, A. Klingl, U. G. Maier, PLoS ONE 2011, 6, e28424.</li><li>
6 F. Hempel, U. G. Maier, Microbial Cell Factories 2012, 11, 126.</li><li>
7 M. Groß, Nachr. Chem. 2011, 59, 734.</li><li>
8 B. Delalat, V. C. Sheppard, S. R. Ghaemi et al., Nature Comm. 2015, 6, 8791.</li></ul>

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Alge statt Ei?

Die Herstellung von Grippe-Impfstoffen in Hühnereiern ist zeitaufwendig und umständlich. Auch bei anderen immunologisch relevanten Präparaten ist die Herstellungsmethode der entscheidende Engpass. Für HIV und Hepatitis wurde jetzt die Herstellung mit Algen im Bioreaktor erfolgreich getestet. Alle...

Prof.Dr.

Ein europäisches Forschungsprojekt hat untersucht, ob photokatalytische Beschichtungen an Straßen Schadstoffe wie Stickoxide und Kohlenwasserstoffe merklich abbauen und so die Luft reinigen. Messorte waren nicht nur das Labor, sondern auch ein Fahrzeugtunnel und eine Modellstraßenschlucht. Die Photokatalyse funktioniert zwar grundsätzlich, kann aber alleine nicht verhindern, dass die Schadstoffkonzentrationen in der Luft die Grenzwerte überschreiten.
Weltweit lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten und Ballungszentren. Daher ist das Interesse groß, die Luftqualität in urbanen Regionen zu verbessern.Die Photokatalyse ist seit fast einem Jahrhundert bekannt1) und wird seit zirka drei Jahrzehnten für die Luftreinhaltung diskutiert und auch eingesetzt: An Titandioxidoberflächen entstehen unter UV-Einstrahlung Radikale, die Luftschadstoffe wie Stickoxide (NOx) und flüchtige organische Verbindungen (volatile organic compounds, VOC) zu weniger schädlichen Reaktionsprodukten wie Kohlendioxid und Nitrat oxidieren. Wegen der geringeren Menge der primären Schadstoffe NOx und VOC entstehen durch Gasphasenoxidation auch weniger sekundäre Schadstoffe wie Ozon und damit weniger Sommersmog.Insbesondere die NO2-Konzentrationen überschreiten an Messstationen in Städten oft den EU-Jahresmittelgrenzwert von 40 μg·m–3. Da bisherige NO2-Reduktionsmaßnahmen nicht sehr erfolgreich waren,2) wird nun die Photokatalyse diskutiert.<h2>Ausgangslage: uneinheitliche Untersuchungsergebnisse</h2>Bisher lieferten Pilotstudien in Straßenschluchten und Verkehrstunneln widersprüchliche Ergebnisse zur Effizienz des photokatalytischen NOx-Abbaus. Teilweise werden hohe Reduktionen von bis zu 80 Prozent angegeben,3–8) während in anderen Studien der beobachtete Abbau unterhalb der Messgenauigkeit lag.9–11) Zudem fehlten in den meisten früheren Studien zur Photokatalyse Untersuchungen zur Bildung schädlicher Abbauprodukte – zum Beispiel Formaldehyd oder salpetrige Säure.12)Das europäische Projekt Photo-PAQ (Demonstration of Photocatalytic remediation Processes on Air Quality) sollte daher nicht nur realistische Reduktionspotenziale für wichtige Luftschadstoffe abschätzen, sondern auch prüfen, inwieweit sich schädliche Reaktionsprodukte bilden und damit die Wirksamkeit der Photokatalyse als luftqualitätsverbessernde Maßnahme einschränken. Hierzu wurden an photokatalytisch aktiven zementösen Oberflächen Laborstudien und Messungen in einem Verkehrstunnel13,14) sowie in einer Modellstraßenschlucht15) durchgeführt.<h2>Photokatalyse in einem Verkehrstunnel</h2>Die Tunnelmessungen fanden in den Jahren 2011 bis 2013 im Leopold-II-Tunnel in Brüssel statt.13,14) Der Tunnel ist etwa 2,5 km lang und das westliche Einfallstor in die belgische Hauptstadt. Täglich passieren etwa 65 000 Fahrzeuge den Tunnel.Für die Messungen wurden 70 und 160 m lange Abschnitte einer Tunnelröhre mit photokatalytischem Spritzmörtel beschichtet und zur Aktivierung der Photokatalyse mit schaltbaren UV-Lampen beleuchtet (Abbildung 1). Zwei Messstationen in einem Technikraum oberhalb der Fahrbahn erfassen vor und nach dem aktiven Tunnelabschnitt (Luv und Lee) die Werte.<figure><img src="https://media.graphcms.com/MALdlNkdR4uy4FcXFrUq"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Experimenteller Aufbau im Leopold-II-Tunnel in Brüssel. (WD: wind direction; WS: wind speed; AMS: Aerosol-Massenspektrometer; SMPS: scanning mobility particle sizer)</figcaption></figure>
Aufgrund der kinetischen Labordaten und der begleitenden Modellrechnungen zu den eingesetzten Oberflächen13) sowie nach der einzigen bis dahin vorliegenden Tunnelstudie7) wäre ein signifikanter photokatalytischer NOx-Abbau – im zweistelligen Prozentbereich – im Tunnel zu erwarten gewesen. Beim periodischen Ein- und Ausschalten der UV-Lampen wurde dies jedoch im Tunnel nicht bestätigt, und es zeigten sich keine sichtbaren Änderungen zwischen Luv und Lee (Abbildung 2).<figure><img src="https://media.graphcms.com/0eWxvRbiQaSvxkAHDwMO"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Messdaten der beiden Messstationen im Leopold-II- Tunnel (2013) für NOx und Lampen an/aus.</figcaption></figure>
Um die statistische Aussagekraft zu erhöhen und unabhängig von den Emissionsschwankungen im Tunnel zu werden, wurde CO2 als photokatalytisch inaktiver Tracer für die Fahrzeugemissionen verwendet. Die Veränderung im mittleren NOx-zu-CO2-Verhältnis diente somit als Maß für den photokatalytischen Abbau. Allerdings war auch im Vergleich aller NOx/CO2-Daten kein photokatalytischer NOx-Abbau messbar; verglichen wurden die Werte vor und nach Modifikation des Tunnels, von Luv mit Lee und der Leedaten mit und ohne UV-Bestrahlung.Als Obergrenze ergab sich für den 160 m langen Tunnelabschnitt ein Wert von 2 Prozent. Um dieses enttäuschende Ergebnis zu verstehen, wurden Laborstudien mit im Tunnel verwendeten Mörtelproben durchgeführt.14) Diese Messungen zeigten eine starke Deaktivierung der photokatalytischen Aktivität. Ursache waren die hohe Belastung mit gasförmigen Schadstoffen und Partikeln sowie die verhältnismäßig schwache UVA-Bestrahlung von zirka 2 W·m–2 verglichen mit bis zu 50 W·m–2 bei idealer Sonneneinstrahlung. Modellrechnungen, die diese Deaktivierung berücksichtigten, ergaben eine theoretische NOx-Reduktion von nur 0,4 Prozent. Das liegt deutlich unterhalb der Präzisionsfehler der Messungen und stimmt mit der experimentellen Obergrenze von 2 Prozent überein. Dieses Ergebnis wurde für die anderen untersuchten Schadstoffe bestätigt.<h2>Schadstoffbildung an katalytischen Oberflächen</h2>Im Tunnel bildete sich unerwarteterweise Formaldehyd, und zwar entstanden HCHO und andere Schadstoffe beim photokatalytischen Abbau von organischen Additiven im Spritzmörtel. Diese HCHO-Emissionen nehmen zwar durch den photokatalytischen Abbau der organischen Additive mit der Zeit ab, jedoch entsteht auch beim Abbau von VOC aus der Luft Formaldehyd als unerwünschtes Nebenprodukt. Bevor photokatalytische Oberflächen in die Anwendung gehen, ist daher bei ihrer Entwicklung durch Laborstudien darauf zu achten, dass sich keine sekundären Schadstoffe bilden.Aufgrund des hohen Energiebedarfs durch die zusätzliche UV-Beleuchtung, der geringen Schadstoffreduktion und der fehlenden natürlichen Reinigung der Oberflächen durch Regen wird basierend auf den Erfahrungen der vorliegenden Arbeit nicht empfohlen, photokatalytische Oberflächen in Tunneln einzusetzen.<h2>Photokatalyse in einer Modellstraßenschlucht</h2>Für zwei Messkampagnen wurden im Jahr 2013 zwei parallele Modellschluchten (Aktiver und Referenzcanyon, Dimension 5 m × 5 m × 53 m) auf einem Industriegelände in Italien nördlich von Bergamo aufgebaut. Um möglichst identische Bedingungen in beiden Schluchten zu erreichen, wurde photokatalytisch aktiver Spritzmörtel auf Paneelen vor den eigentlichen Gebäuden aufgebracht (Abbildung 3).<figure><img src="https://media.graphcms.com/eXGisotNR4KUid8aR3Bi"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Abb. 3. Experimenteller Aufbau der Modellschluchten. (PTR-MS: Protonen-Transfer-Reaktions-Massenspektrometer)</figcaption></figure>
Während der ersten Kampagne wurden die unbehandelten Modellschluchten zunächst auf Vergleichbarkeit überprüft, in einer zweiten Kampagne wurden die Oberflächen nur einer Schlucht mit Photokatalysator beschichtet. Neben den wichtigen gasförmigen Schadstoffen wurden die Konzentration und die Zusammensetzung der Partikel untersucht.Abbildung 4 zeigt die NOx- und UVA-Daten der zweiten Kampagne. Während der ersten Tage lagen mit hoher maximaler Strahlungsintensität (UVA bis 40 W·m–2) und geringer Windgeschwindigkeit in der Schlucht (&lt;1 m·s–1) günstige Bedingungen für die Photokatalyse vor. Jedoch waren keine signifikanten Differenzen in den NOx-Konzentrationen zwischen beiden Schluchten zu beobachten (Abbildung 4). Die Auftragung der NOx-Daten von Aktiv- gegen Referenzschlucht zeigte zwischen Tag und Nacht keinen Unterschied in den Steigungen, sodass sich mit der Präzision der Messdaten eine Obergrenze des mittleren photokatalytischen NOx-Abbaus von 2 Prozent ergab.<figure><img src="https://media.graphcms.com/d4jFG4JkQlOYZTGAka2a"><figcaption><label>Abb. 4: </label>NOx-Konzentrationen in der aktiven Modellschlucht, Differenz der NOx-Konzentrationen zwischen beiden Schluchten sowie Stärke der UVA-Strahlung während der zweiten Messkampagne in Bergamo.</figcaption></figure>
Da in diesem Fall die Schadstofbelastung relativ gering und die UV-Strahlung während der Kampagne hoch war, zeigten anschließende Labormessungen an den eingesetzten Oberflächen eine weiterhin hohe photokatalytische Aktivität. Daher war eine Deaktivierung der Oberflächen8,13,14) hier ausgeschlossen. Modellrechnungen ergeben als Ursache für die geringe NOx-Reduktion die Transportlimitierung der Schadgase zu den aktiven Oberflächen.Ähnliche Ergebnisse wurden auch für die anderen Schadstoffe ermittelt, mit Obergrenzen der Reduktion von 5 Prozent für die VOC; 3 Prozent für Ozon und 5 Prozent bezogen auf die Masse für Partikel.Wie im Tunnel entstand auch in der Modellstraßenschlucht Formaldehyd; die Bildung nahm mit der Strahlungsintensität zu. Labormessungen ergaben HCHO-Emissionen, die eine Größenordnung höher waren als die theoretischen NOx-Abbauflüsse während der Feldkampagne.<h2>Geringer Beitrag zu sauberer Luft</h2>Die geringen Schadstoffreduktionen waren für die VOC und Partikel aufgrund der geringeren Reaktivitäten zu erwarten. Bei den Stickoxiden erzielten andere Arbeiten aber teilweise deutlich stärkere NOx-Reduktionen von 19 bis zu 80 Prozent.3–8) Um diese widersprüchlichen Ergebnisse zu erklären, sind mehrere Variablen zu betrachten:15)<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>Geometrie der Versuchsanordnung: Das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen (Saktiv/V) spielt bei den hier vorliegenden heterogenen Reaktionen eine zentrale Rolle.<list-item>Messhöhe: Aufgrund der Gradienten, wie sie für den heterogenen Spurengasabbau bekannt sind,8) sind die in den optimistischen Studien sehr geringen Messhöhen über den aktiven Oberflächen von teilweise nur wenigen Zentimetern3) nicht repräsentativ für die NO2-Reduktion in der vorgeschriebenen Messhöhe von 3 m.</list-item><list-item>Datenauswahl: Die positiven Studien3–8) haben nur Tagesmesswerte berücksichtigt, während andere Arbeiten9–11) die Tag-Nachtmittel herangezogen haben.</list-item><list-item>Vergleichbarkeit der Standorte: Aufgrund der teilweise großen Abstände und der verschiedenen Geometrien von photokatalytisch aktiven und nichtaktiven Messstandorten4) sind gemessene Konzentrationsunterschiede teilweise nicht allein auf die Photokatalyse zurückzuführen.15)</list-item><list-item>Deaktivierung von photokatalytischen Oberflächen bei hoher Schadstoffbelastung.8,13,14)</list-item>Werden all diese Bedingungen berücksichtigt, ergibt sich ein konsistentes Bild aus den Pilotstudien der Photokatalyse. In typischen Hauptstraßenschluchten ist demnach nur eine mittlere NOx-Reduktion von wenigen Prozent ableitbar.15) Diese geringe NOx-Reduktion ist mit anderen Maßnahmen zur Reduktion von Schadstoffen (zum Beispiel Euro-Emissionsstandards,2) Umweltzonen) auf Kosten-Nutzenbasis zu vergleichen. Daraus ergibt sich – trotz der geringen zu erwartenden Reduktionen – für die Photokatalyse durchaus ein positives Bild. Allerdings sind kommerzielle photokatalytische Materialien vor dem Einsatz in der Atmosphäre sorgfältig auf ihre photokatalytische Aktivität zu untersuchen. Photokatalytisch aktive Oberflächen werden hier folgendermaßen definiert:12–15)<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>effizienter Abbau nicht nur von Stickstoffmonoxid (wie es zum Beispiel das Standardtestverfahren ISO 22197–1 vorsieht), sondern auch von NO2 und VOCs;<list-item>keine signifikante Bildung schädlicher Abbauprodukte, wie salpetrige Säure und Formaldehyd (unter 5 % Ausbeute);</list-item><list-item>keine Deaktivierung beim Einsatz in einer belasteten Atmosphäre.</list-item>Die ersten beiden Punkte erfordern Experimente im Labor, der dritte Vorversuche am geplanten Einsatzort. Bisher bestehende oder zurzeit diskutierte Standardtestverfahren (ISO, UNI, CEN, etc.) eignen sich nicht für diese Klassifizierung.12) Nur wenn photokatalytische Oberflächen nach den oben genannten Kriterien als aktiv einzustufen sind, ist es empfehlenswert, sie zur Luftreinhaltung einzusetzen.<h2>Dank</h2>Die Autoren bedanken sich für die finanzielle Unterstützung durch die Europäische Kommission im Rahmen des Life+ Projekts LIFE 08 ENV/F/000487 PHOTOPAQ.<h2>Quergelesen</h2>Photokatalytisch aktive Oberflächen bauen im Labor effizient Luftschadstoffe ab.Die Schadstoffreduktion in einer typischen urbanen Anwendung, etwa an einer Straße, ist durch den Transport der Stoffe an die katalytische Oberfläche begrenzt. Der Abbau beträgt wenige Prozent.Der zu erwartende Schadstoffabbau durch Photokatalyse ist mit anderen Maßnahmen auf Basis einer Kosten-Nutzenanalyse zu vergleichen.Photokatalytische Materialien sind so zu optimieren, dass an ihnen möglichst keine neuen Schadstoffe entstehen.Jörg Kleffmann, Jahrgang 1963, promovierte im Jahr 1997 in physikalischer Chemie an der Universität Wuppertal und ist dort seit dem Jahr 2004 Privatdozent in der physikalischen und theoretischen Chemie. Er untersucht mit Labor- und Feldstudien die Chemie der Atmosphäre und hat zudem mehrere hochempfindliche Messgeräte zum Nachweis von atmosphärischen Spurengasen entwickelt. <email><a href="mailto:kleffman@uni-wuppertal.de">kleffman@uni-wuppertal.de</a></email><div><img src="https://media.graphcms.com/NACCLODOSA6Q3a8UqSh5">

</div>Hartmut Herrmann, Jahrgang 1961, promovierte 1990 in physikalischer Chemie in Göttingen und habilitierte sich in diesem Fach in Essen im Jahr 1997. Seit 1998 leitet er die Abteilung Chemie der Atmosphäre am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung und ist Professor für Chemie der Atmosphäre an der Universität Leipzig. Er leitet den AK Atmosphärenchemie der GDCh-Fachgruppe Umweltchemie und Ökotoxikologie. Sein Spezialgebiet ist das Verständnis troposphärischer Multiphasenprozesse durch Laboruntersuchungen, Feldmessungen und Modellierung. <email><a href="mailto:herrmann@tropos.de">herrmann@tropos.de</a></email><div><img src="https://media.graphcms.com/veos3jnRVKpxcccLywaL">

</div>Christian George, Jahrgang 1968, promovierte 1993 in physikalischer Chemie und habilitierte sich in diesem Fach in Straßburg im Jahr 1999. Seit 2006 ist er Directeur de Recherche beim Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Lyon, wo er auch seit 2016 Vizedirektor des Institut de Recherches sur la Catalyse et l’Environnement de Lyon (IRCELYON) ist. Er untersucht mit Laborstudien Oberflächenreaktionen in der Troposphäre. <email><a href="mailto:christian.george@ircelyon.univ-lyon1.fr">christian.george@ircelyon.univ-lyon1.fr</a></email><div><img src="https://media.graphcms.com/CwL0oBQkTHqeKjpvHlkU">

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<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 C. Renz, Helv. Chim. Acta, 1921, 4, 961–968.</li><li>
2 D. W. Carslaw, G. R. Rhys-Tyler, Atmos. Environ. 2013, 81, 339–347.</li><li>
3 PICADA, 2006, <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.picada-project.com/domino/SitePicada/Picada" target="_blank">www.picada-project.com/domino/SitePicada/Picada</a>. nsf?OpenData Base</ext-link>. 11. Mai 2015.</li><li>
4 G. L. Guerrini, E. Peccati, International RILEM Symposium on Photocatalysis, Environment and Construction Materials, Florenz, Italien, 2007, 179–186.</li><li>
5 T. Maggos, A. Plassais, J. G. Bartzis, C. Vasilakos, N. Moussiopoulos, L. Bonafous, Environ. Monit. Assess. 2008, 136, 35–44.</li><li>
6 <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.ime.fraunhofer.de/content/dam/ime/de/documents/AOe/2009_" target="_blank">www.ime.fraunhofer.de/content/dam/ime/de/documents/AOe/2009_</a> 2010_ Saubere%20Luft%20durch%20 Pflastersteine_s.pdf</ext-link>. 11. Mai 2015.</li><li>
7 G. L. Guerrini, Construct. Build. Mat. 2012, 27, 165–175.</li><li>
8 M. M. Ballari, H. J. H. Brouwers, J. Hazard. Mat. 2013, 254–255, 406–414.</li><li>
9 <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.air-rhonealpes.fr/site/media/telecharger/651413" target="_blank">www.air-rhonealpes.fr/site/media/telecharger/651413</a></ext-link>. 11 Mai 2015.</li><li>
10 <ext-link ext-link-type="uri"><a href="http://laqm.defra.gov.uk/documents/" target="_blank">http://laqm.defra.gov.uk/documents/</a> Dutch_Air_Quality_Innovation_Programme.pdf</ext-link>. 11. Mai 2015.</li><li>
11 <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.hlug.de/fileadmin/dokumente/das_hlug/jahresbericht/2012/" target="_blank">www.hlug.de/fileadmin/dokumente/das_hlug/jahresbericht/2012/</a> jb2012_059–066_I2_Jacobi_final.pdf</ext-link>. 11. Mai 2015.</li><li>
12 S. Ifang, M. Gallus, S. Liedtke, R. Kurtenbach, P. Wiesen, J. Kleffmann, Atmos. Environ. 2014, 91, 154–161.</li><li>
13 M. Gallus et al., Build. Environ. 2015, 84, 125–133.</li><li>
14 E. Boonen et al., J. Environ. Manage. 2015, 155, 136–144.</li><li>
15 M. Gallus et al., Environ. Sci. Pollut. Res. 2015, 22, 18185–18196.</li></ul>

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