Bildung & Gesellschaft

Prof.Dr.

August Kekulés „Lehrbuch der organischen Chemie“ erschien im Jahr 1866. Es behandelte erstmals die organische Chemie in Form von Vorläufern der späteren Stoffklassen und von homologen Reihen der Stoffklassen – ein Meilenstein der beginnenden organischen Chemie.
Als sein zweibändiges „Lehrbuch1) der organischen Chemie“ erschien, war August Kekulé Ordinarius an der Universität Gent in Belgien. Im Jahr 1867 folgte er einem Ruf an die Universität Bonn. Hier entstand im Jahr 1882 der dritte Band.2)Die Urfassung des Buchs hat 25 im Text eingedruckte Holzschnitte, es zitiert alle wichtigen damals bekannten Zeitschriften. Der Teil für die allgemeine und theoretische Chemie macht 307 von 1104 Seiten des ersten Bands aus, was die Bedeutung zeigt, die Kekulé der Theorie und den Grundlagen beimaß. Der folgende spezielle Teil beschreibt Vorkommen, Synthese und Eigenschaften organischer Verbindungen und setzt sich im zweiten Band fort. Etwa 90 Prozent der Substanzen dürften Naturstoffe sein.Im speziellen Teil von Band 1 und in Band 2 beschreibt Kekulé die damals bekannten organischen Verbindungen. Die Wissenschaftler kannten noch keine Stoffklassen im heutigen Sinn, aber das Grundgerüst der organischen Chemie ist erkennbar. Leider fehlen beiden Bänden Register, die Auskunft über die genaue Zahl der damals bekannten Verbindungen gäben. Die 1739 Paragraphen oder Abschnitte repräsentieren nicht die Zahl der Verbindungsklassen, die Gesamtzahl der bekannten Verbindungen dürfte bei 3500 bis 4000 liegen. Synthetisiert hatten sie die Mitglieder von etwa einem Dutzend bekannter Chemieschulen in der wissenschaftlichen Welt, in denen ein Meister etwa fünf bis zehn Schülern vorstand. Bereits im 18. Jahrhundert waren viele organische Substanzen als reine Stoffe isoliert worden, etwa Harnstoff, Äpfel- und Weinsäure, aber ihre Zusammensetzung war unbekannt. Heute werden schon in einem Jahr mehr neue Verbindungen beschrieben, im Jahr 2012 lag die Gesamtzahl aller Substanzen bei 40 Millionen.Seit etwa 1800 gab es jährlich neue Highlights, gesammelt in Kekulés Lehrbuch. Der Chemiker von damals ging ins Labor und klärte die Struktur bekannter Verbindungen auf oder stellte in relativ kurzer Zeit einen oder mehrere neue „Körper“ her. Wichtige Aufgaben waren Isolieren und Reinigen der Stoffe. Nach der Reinigung des „Körpers“ erfolgten Umsetzungen, die zur Aufklärung der Struktur führten.Kekulé verwendete zwar den Begriff der „Constitution“ für eine Verbindung, den heute verwendeten Begriff Struktur gab es nicht. Kekulé benutzte Modelle für die Struktur, sagte aber, dass das Modell nicht die Wirklichkeit sei, die wir wahrscheinlich gar nicht erkennen könnten. Für Isomere mit der gleichen Summenformel verwendete er den Begriff „Metamerie“.<h2>Welche organischen Moleküle damals bekannt waren</h2>Aliphatische Verbindungen, mit Fettkörper überschrieben, bilden den Hauptteil des Buchs. Davor gibt es ein Kapitel über Cyanverbindungen (HCN; HOCN (Cyansäure) nebst den Isomeren Isocyan- und Knallsäure) und deren Salze. Die damals bekannten Blutlaugensalze und die verwandten komplexen Metallcyanide wurden zur organischen Chemie gerechnet, ebenso wie die Kohlensäure und deren damals bekannte Derivate. Auch die diversen Metallalkyle fasste Kekulé als organische Verbindungen auf. Er schreibt ausführlich über die Blausäure und ihre Salze und vermerkt: „Scheele, der Entdecker der Blausäure, übersah die giftigen Eigenschaften. Er stellte die Säure aus Cyanquecksilber mit Schwefelsäure und Eisenfeile her, bis die Flüssigkeit nicht mehr metallisch schmeckte“.3) Die damaligen Chemiker erlebten die Substanzen aktiv durch Riechen und Schmecken. Toxische Wirkungen werden nur am Rande erwähnt. Dass Aromaten Krebs verursachen, war unbekannt.Quer durch das Lehrbuch gibt es Kuriositäten. Auf Seite 639 wird die Synthese von bromierten Ethanderivaten nach August Wilhelm von Hofmann beschrieben, zunächst die des Acethylendibromürs (1,2-Dibromethan), das durch Eliminierung von HBr das Bromvinyl (Vinylbromid) ergibt.4) Hofmann stellte noch einen weiteren Körper aus dem Bromvinyl her, die Publikation betitelte er mit „6. Metamorphose des einfach-bromürten Acethylens“ (Abbildung 1). Stehenlassen des Vinylbromids hatte durch Spuren von Verunreinigungen in der abgeschmolzenen Glasröhre Polyvinylbromid entstehen lassen, aber Hofmann erkannte die polymere Struktur seines Produkts nicht. Heute wissen wir, dass diese Verbindung leicht polymerisiert. Die wahre Struktur des Produkts von Hofmann als Polymer erkannte dann viel später Herrmann Staudinger.5) Es dient heute als Spezialpolymer. Hofmann war ein wichtiger Zeitgenosse Kekulés, im Lehrbuch stehen viele seiner Ergebnisse.<figure><img src="https://media.graphcms.com/3BVywvFLQ520YUAhuEuB"><figcaption><label>Abb. 1: </label>August Wilhelm von Hofmanns Publikation über die Synthese einer festen, unlöslichen Form des Vinylbromids aus Liebigs Annalen der Chemie und Pharmacie 1860, 115, 271–272.</figcaption></figure>
Immerhin kannten die Chemiker mehrere „Ether“ – Ester wurden noch als Ether von Carbonsäuren aufgefasst. Viele primäre, sekundäre und tertiäre Amine waren bekannt und wurden als Derivate von Ammoniak beschrieben. Reaktionsgleichungen wurden für viele Reaktionen formuliert, in Form von Summenformeln von Ausgangs- und Reaktionsprodukt und meistens richtig. Dabei kennzeichneten die Verfasser ein Produkt durch ein „Lasso“ (Umschlingung). Mit dieser „Lasso-Chemie“ verstand man etwas über Eliminierungen und die Bildung von Koppelprodukten, aber es dauerte noch, bis man Reaktionen nach den heute bekannten Mechanismen einteilen konnte.Die damaligen Chemiker kannten viele Carbonsäuren als ein- und mehrbasische Naturprodukte mit und ohne Doppelbindungen. Auch Kohlenhydrate waren mit Summenformeln bekannt. Monoterpene waren geläufig: Campherarten und Terpene finden sich auf über 50 Seiten in Band 2. Aber von ihrer Struktur hatte niemand eine Vorstellung.Die Chemie der Aromaten ist ein Meilenstein der organischen Chemie, der Kekulé 248 Seiten widmet. Hier wird für die „Struktur“ des Benzols C6H6 erstmals „eine geschlossene Kette“ und ein Hexagon vorgeschlagen (Abbildung 2). Zudem waren bereits viele Derivate des Benzols bekannt, die im Lehrbuch in Form mehrerer Tafeln als „Würstchen“-Formeln dargestellt sind (Abbildung 3).<figure><img src="https://media.graphcms.com/B6GbahbRnOuNhc2Xhs6t"><figcaption><label>Abb. 2: </label>„Würstchen“-Formeln für fünf bekannte Verbindungen, Seite 162 aus Band 1.</figcaption></figure>
Kekulé nutzte in Band 2 neben einer D3h-Struktur auch ein reguläres Hexagon (D6h) für das Benzol. Er schreibt: „Jedes Kohlenstoffatom steht zu seinem Nachbarn in genau derselben Beziehung“. Er begründet das, weil es nur ein ortho-Isomer für Benzolderivate gibt. Kekulé schrieb das den thermischen Schwingungen der Kohlenstoffatome zu. Das wurde später als Oszillationstheorie bekannt.6)Kekulé begründete mit seinen Schülern die Aromatenchemie, wichtig für Farben- und pharmazeutische Chemie sowie die Theorie. Mehrere Tausend Einträge über „Aromaticity“ kommen jedes Jahr zur Datenbank ISI web of Science hinzu. Aus Kekulés Schule gingen die drei Nobelpreisträger Henricus van‘t Hoff, Adolf von Bayer und Otto Wallach hervor – ein Rekord.Dieter Lenoir ist emeritierter Professor der Universität Bayreuth.<h2>Quergelesen</h2>Obwohl es ein Lehrbuch der organischen Chemie war, beschäftigt sich etwa ein Drittel von Kekulés Werk mit allgemeiner und theoretischer Chemie.Kekulé hatte für das Buch die Highlights der chemischen Welt ab dem Jahr 1800 gesammelt. So kamen zwischen 3500 und 4000 organische Verbindungen zusammen.Obwohl es noch keine Stoffklassen gab, waren Ether schon bekannt – allerdings zählten die Chemiker dazu auch die Ester von Carbonsäuren.Aromatenchemie war Kekulés Steckenpferd. Zunächst stellte er Aromaten noch in Form von „Würstchen“-Formeln dar, später begründete er die Aromatenchemie in Theorie und Praxis.<figure><img src="https://media.graphcms.com/gQ5eg1ZvSN2HJgCE4IGg"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Struktur des Benzols als geschlossene Kette und als Hexagon, Seite 486 aus Band 2.</figcaption></figure>

<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 A. Kekulé, Lehrbuch der Organischen Chemie oder der Chemie der Kohlenstoffverbindungen, zwei Bände, Verlag Ferdinand Enke, Erlangen, 1866. Bd. 1 erschien in Form von Fascicles (Paragraphen) seit 1859, Bd. 2 erschien auch in Abschnitten seit 1863. Von beiden Bänden gibt es zahlreiche Nachdrucke.</li><li>
2 A. Kekulé, R. Anschütz, G. Schultz, Lehrbuch der Organischen Chemie, 3. Band Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart, 1882.</li><li>
3 C. A. Scheele, Synthese der Blausäure in Stockholm, Schweden, 1782.</li><li>
4 A. Hofmann, Liebigs Ann. Chem. Pharm. 1860, 115, 271–272.</li><li>
5 H. Staudinger, M. Brunner, W. Feisst, Helv. Chim. Acta 1930, 13, 805–832.</li><li>
6 A. T. Balaban, P. v. R. Schleyer, H. S. Rzepa, Chem. Rev. 2005, 105, 3436–3447.</li><li>
7 Viele Informationen sind dem bisher unveröffentlichten Manuskript „The Dignity of a Great Public Building dedicated to Science“ von Dieter Lenoir und Hansgeorg Sengewein entnommen. Dieses finden Sie als kostenlose PDF-Datei unter <a href="https://goo.gl/D3YLm8" target="_blank">goo.gl/D3YLm8</a></li></ul>

Artikel

Als Ester noch Ether waren

August Kekulés „Lehrbuch der organischen Chemie“ erschien im Jahr 1866. Es behandelte erstmals die organische Chemie in Form von Vorläufern der späteren Stoffklassen und von homologen Reihen der Stoffklassen – ein Meilenstein der beginnenden organischen Chemie. Als sein zweibändiges „Lehrbuch1) d...

Im Jahr 1890 wechselte August Michaelis, ein Pionier der Heteroatomchemie, von der Technischen Hochschule Aachen an die Universität Rostock. Während er Phosphorhalogenide, phosphorige Säure und Aryl-Phosphor-Verbindungen untersuchte, erlebte die Chemie in Rostock einen kleinen Boom.
Nachdem August Michaelis ab 1880 als erster Professor für organische Chemie in Aachen gelehrt und geforscht hatte, wechselte er zehn Jahre später nach Rostock. Die räumlichen Bedingungen dort waren schlechter als in Aachen. Michaelis‘ Vorgänger Oscar Jacobsen (1840 – 1869) hatte eine ehemalige Hebammenanstalt und Frauenklinik als chemisches Laboratorium übernommen und dafür gesorgt, dass wenigstens ansatzweise Arbeitsbedingungen für die Chemiker geschaffen wurden.In seinen 25 Jahren in Rostock hatte Michaelis alle lukrativen Lehrveranstaltungen in seiner Hand. Er hielt jeweils im Sommersemester die Hauptvorlesung zur anorganischen Chemie, im Wintersemester die zur organischen, jeweils fünf Stunden pro Woche. Außerdem war er verantwortlich für das große und kleine Praktikum und die Übungen für Mediziner; später auch einige Semester lang für das Toxikologiepraktikum und die Übungen für die Nahrungsmittelchemiker.1–4)In Michaelis’ ersten Rostocker Jahren immatrikulierten sich immer mehr Studenten für Chemie. Inwieweit diese Entwicklung mit Michaelis zusammenhängt, ist nicht klar. Der Anstieg lässt sich auch mit dem zunehmenden Interesse an Chemie erklären, weil durch das Wachstum der chemischen Industrie mit guten Chancen auf Arbeit zu rechnen war. Die Zahl der Promotionen nahm ab 1892 ebenfalls zu.<h2>Phosphorchemie vor und in Rostock</h2>Die Reaktivität von Phosphorhalogeniden war Anfang der 1870er Jahre ein wichtiges Thema. Michaelis‘ Doktorvater Geuther hatte dessen Interesse an der Chemie des Phosphors und des Schwefels geweckt, was in einer verbesserten Phosphorsulfobromidsynthese mündete.5) Besonders interessierte sich Michaelis für die phosphorige Säure, deren Konstitution er sich ausführlich widmete. Da sich die Ester P(OR)3 nur aus PIII-Halogeniden herstellen lassen, schlussfolgerte Michaelis eine andere Struktur als P(OH)3 für die Säure.6) Diese Annahme belegte die in Abbildung 1 gezeigte Sequenz als HP(O)(OH)2.7,8) Demnach reagiert phosphorige Säure als Phosphansäure, die in ein Blei(II)-Salz überführt und anschließend zum Diethylester umgesetzt werden kann. Das verbleibende Proton, schloss Michaelis, muss am Phosphor lokalisiert sein, da ein Ethylrest nach Deprotonierung und Zugabe eines weiteren Äquivalents Ethyliodid an dieser Stelle eingeführt wird.<figure><img src="https://media.graphcms.com/bQKTc9YlRUyirXCHuRfS"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Reaktionssequenz, über die Michaelis die Konstitution der phosphorigen Säure belegte.</figcaption></figure>
<h2>Aryl-Phosphorverbindungen</h2>Systematischen Charakter bekamen seine Arbeiten zu Aryl-P-Verbindungen, bei denen Michaelis auch die Homologen des Phosphors berücksichtigte. Er orientierte sich an Arbeiten von Victor Merz (1839 – 1904) zum Triphenylamin9) und entwickelte zunächst eine Synthese für Arsentriphenyl über Quecksilberdiphenyl.10) Dann erkannte er den allgemeinen Zugang zum Verbindungstyp EPh3 über die Kombination ECl3 – Arylhalogenid – Alkalimetall für die gesamte fünfte Hauptgruppe.11) Auf diesem Weg wird noch heute Triphenylphosphan (Abbildung 2) hergestellt, ein Molekül, dem Michaelis im Jahr 1885 eine ausführliche Publikation widmete.12)<figure><img src="https://media.graphcms.com/ke9PDisEQBqGcaecUlso"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Reaktionsverhalten von Triphenylphosphan.</figcaption></figure>
Michaelis stellte etliche Arylphosphorderivate wie Phenyldichlorphosphan, gemischte Arylalkylphosphanoxide und Phenylphosphonigsäuredialkylester her.13) Aliphatische Amine setzte er mit PCl3 um und untersuchte die entstandenen Phosphorigsäuretriamide auf ihre Reaktivität.14) Bei den aromatischen Aminen sollte Anilin eine besondere Rolle spielen. Reaktionen von Phosphoroxychlorid ergaben das Trisanilid der Orthophosphorsäure15) und ClP(O)(NHC6H5)2.16) Die Elementarzusammensetzung eines Reaktionsprodukts von PCl3 mit Anilin interpretierte Michaelis zwar richtig. Allerdings ordnete er diesem Molekül nicht direkt eine heterocyclische Struktur zu, sondern betrachtete dies eher als theoretische Möglichkeit.17)Reaktionen von Phosphanen und Trisamiden hatten gezeigt, dass diese mit Alkyliodiden leicht Phosphoniumsalze bilden. Michaelis versuchte, diese Reaktion auf Phosphorigsäureester zu übertragen. Tatsächlich fand er aber nach wässriger Aufarbeitung Phosphansäurederivate, die entsprechenden Phosphoniumsalze waren also offenbar nicht beständig genug.18) Alexander J. Arbusow (1877 – 1968) untersuchte später die thermische Variante, bei der das Phosphoniumsalz spontan ein Alkylhalogenid eliminiert.19) Sein Sohn Boris A. Arbusow (1903 – 1991) hat die Arbeiten von Michaelis gewürdigt, indem er später selbst von der Michaelis-Arbusow-Umlagerung sprach.20)<h2>„Phosphobenzol“</h2>Ausgehend von detaillierten Untersuchungen des Phenylphosphans beschäftige sich Michaelis bereits im Jahr 1877 damit, wie Phenylphosphan mit Phenyldichlorphosphan reagiert (Abbildung 3). Hierbei stellte er fest: „Phosphenylchlorid wirkt schon in der Kälte unter Salzsäureentwicklung auf Phenylphosphan ein, indem ganz glatt Diphosphenyl entsteht.“21) Die Grundlage für diese Schlussfolgerung waren der C- und H-Gehalt des Produkts. In seiner Publikation schreibt er: „Das Diphosphenyl entspricht in seiner Zusammensetzung ganz dem Azobenzol C6H5N=NC6H5, man kann es deshalb als Phosphobenzol bezeichnen. In seinen Eigenschaften ist es aber vollkommen von diesem verschieden.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/42r2P0sSSGw7Q4sZgdOT"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Synthese von oligomeren Phenylphosphanen [PhP]n nach Michaelis.</figcaption></figure>
Diese Dehydrochloridkupplung haben in den Folgejahren mehrere Arbeitsgruppen unter verschiedenen Bedingungen wiederholt. Sie isolierten jedoch andere Produkte, die zwar die gleiche Zusammensetzung haben, aber unterschiedliche Schmelzpunkte.22–28) Heute wissen wir, dass es sich um teils cyclische Oligomere des Typs [PhP]n handelte. Michaelis hatte das Tetraphenyl-cyclo-Tetraphosphan isoliert, wie Daly und Maier im Jahr 1964 zeigten (Abbildung 3).23) Das erste stabile und vollständig charakterisierte „Phosphobenzol“ oder, wie man heute sagt, ein Diphosphen R-P=P-R, beschrieben Yoshifuji und Mitarbeiter im Jahr 1981. Sie entdeckten es bei der Reaktion von Supermesityldichlorphosphan (Mes*PCl2, Mes* = 2,4,6-t-Bu3C6H2) mit Magnesium.29)<h2>Von der P-P- zur P-N-Bindung</h2>Nach der Entdeckung des „Phosphobenzols“ untersuchte Michaelis weiter die Dehydrochloridkupplungsreaktion, die eine P-P-Bindung generiert. Anstelle des Phenylphosphans setzte er Anilin ein, um eine P-N-Bindung zu knüpfen (Abbildung 4, Mitte, S. 1032). Um diese Verbindung herzustellen, erhitzte er „völlig reines, staubtrocknes und staubfeines salzsaures Anilin“ mit Phosphortrichlorid zwei Tage lang am Rückflusskühler. Die neue Verbindung, die er dabei isolierte, nannte er Phosphazobenzolchlorid (Ph-N=P-Cl). Wieder beschrieb er sie – genau wie bei der Phosphobenzolentdeckung – als monomere Verbindung. Interessanterweise ergab seine Molekülmassenbestimmung die doppelte Masse. Da er dieser Messung offenbar nicht traute, blieb er beim monomeren „Phosphazobenzolchlorid“, schrieb aber in einer Fußnote: „Unter der unwahrscheinlichen Annahme der doppelten Molekulargrösse würde die Verbindung einen viergliedrigen Ring C6H5N-(PCl)2-NC6H5 bilden“ (Abbildung 4, rechts).17) Diese unwahrscheinliche Annahme erwies sich als richtig, wie Davies und Mitarbeiter 1973 zeigten.30)<figure><img src="https://media.graphcms.com/yaQQE0KTTeehewpIjtyo"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Synthese von Dichlor-cyclo-diphosphadiazan nach Michaelis.</figcaption></figure>
Das erste echte Phosphazobenzolchlorid beschrieben Niecke und Mitarbeiter im Jahr 1988,31) die in einer ähnlichen Reaktion das sterisch anspruchsvolle Mes*NH2 mit PCl3 umsetzten. Sie erhielten das monomere Mes*N=P-Cl (Supermesityliminochlorphosphan), das sie vollständig charakterisierten.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Interesse an Chemotherapeutika zunahm, arbeitete Michaelis mit Medizinern und Pharmazeuten zusammen und begleitete mehrere Doktorarbeiten in der medizinischen Fakultät. Von seiner wissenschaftlichen Produktivität zeugen fast 67 Publikationen in den Annalen der Chemie und Pharmazie sowie 180 Arbeiten in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Mit der Überarbeitung des Lehrbuchs von Graham und Otto leistete Michaelis einen wichtigen Beitrag für die Darstellung der gesamten bekannten anorganischen Chemie einschließlich ihrer Methoden.32)<h2>Chemie in Rostock heute</h2>August Michaelis hat die Chemie in Rostock stark beeinflusst. Auch heute noch forschen die Chemiker dort an Phosphorverbindungen, und seit 2010 ist der viergliedrige 1,3-Dichlor-2,4-Diphenyl-cyclo-1,3-Diphosphadiazanring (Abbildung 4, rechts, S. 1032), den Michaelis als erster synthetisierte, das Logo des Instituts für Chemie der Universität Rostock. Über die aktuelle Phosphorforschung in Rostock informiert <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://goo.gl/D3YLm8" target="_blank">goo.gl/D3YLm8</a></ext-link>.<h2>Biographische Notizen</h2>Karl Arnold August Michaelis wurde am 26. Dezember 1847 in Bierbergen – heute ein Ortsteil der Gemeinde Hohenhameln in Niedersachsen – als Sohn des Pastors Ludwig August Michaelis (1804 – 1859) und dessen Ehefrau Johanna Dorothea Louise geb. von Beaulieu (1806 – 1865) geboren. Michaelis hatte zwei Schwestern: Helene (1839 – 1911) und Emma (1842 – 1908).Nach der Schulzeit in Hannover und Göttingen immatrikulierte sich Michaelis 1865 an der Göttinger Universität. Danach arbeitete Michaelis auf Wunsch eines verwandten Apothekers in dessen Labor in Bremen, bevor er sich im Sommersemester 1869 in Jena immatrikulierte. Zu seinen Lehrern gehörten Anton Geuther (1833 – 1889), Ernst Abbe (1840 – 1905), Friedrich Wöhler (1800 – 1882) und Moritz Stern (1807 – 1894).Mit seiner Arbeit über die Einwirkung von Ammoniak auf Thionyl- und Selenylchlorid bei Geuther wurde Michaelis im Januar 1870 promoviert. Anschließend ging er an die Großherzogliche Badische Polytechnische Schule Karlsruhe, wo er sich unter Lothar Meyer (1830 – 1895) habilitierte und Privatdozent wurde. 1875 wurde Michaelis zum außerordentlichen Professor ernannt; fast gleichzeitig übernahm er die Lehrverpflichtungen von Lothar Meyer, der sich aufgrund gesundheitlicher Probleme davon hatte freistellen lassen.Fünf Jahre später erhielt Michaelis die Cothenius-Medaille für Fortschritte in der Chemie, verließ Karlsruhe und wurde Professor für allgemeine und organische Chemie an der Technischen Hochschule in Aachen. Zwischen ihm und dem außerordentlichen Lehrer Alexander Classen (1843 – 1934) entbrannte ein heftiger Streit darüber, wer welche Vorlesungen zu halten habe. Insbesondere ging es um die lukrative anorganische Experimentalchemie, die Michaelis im Jahr 1880 von Hans Landolt (1831 – 1910) übernommen hatte und dessen Lehrstuhl formal geteilt worden war. Dann erreichte Michaelis ein Ruf aus Rostock. Dort gab es nur ein Ordinariat, nämlich das für Chemie und Pharmazie. Auch wenn Michaelis seine finanziellen Forderungen nicht bis ins letzte Detail durchsetzen konnte, nahm er den Ruf an. Dazu mag die Möglichkeit eines ungeteilten Ordinariats beigetragen haben, aber auch, dass Michaelis verwandtschaftliche Beziehungen zu Mecklenburg hatte. Seine Schwester Helene, verheiratet mit dem Mecklenburger Geheimen Justizrat Carl Schlettwein (1830 – 1897), wohnte in den 1890er Jahren auf einem Gut vor den Toren Rostocks. Auch seine Schwester Emma lässt sich in Rostock nachweisen.1905 und 1906 war August Michaelis Rektor der Universität Rostock, 1913 wurde er zum Geheimen Hofrat ernannt. August Michaelis starb am 31. Januar 1916 in Rostock.
<ul><h2>Literatur, Quellen und Anmerkungen</h2>Grundlage für diesen Beitrag war ein Festsymposium, das vom Institut für Chemie der Universität Rostock und dem Leibniz-Institut für Katalyse zur Erinnerung an August Michaelis am 19. Mai 2016 ausgerichtet wurde.Die biografischen Notizen basieren auf Unterlagen aus Standesämtern und Universitätsarchiven in Göttingen, Jena, Karlsruhe, Aachen und Rostock sowie auf 1) bis 4).<li>
1 G. Boeck, Mitteilungen Gesellschaft Deutscher Chemiker, Fachgruppe Geschichte der Chemie, Frankfurt am Main 2002, 20–29.</li><li>
2 J. J. Johnson, Minerva 1985, 23 241–271.</li><li>
3 S. Krebs, „Genese und Struktur eines technikwissenschaftlichen Feldes. Über den Kampf der Aachener Eisenhüttenkunde um Macht und Autonomie 1870–1914“, Dissertation. Technische Hochschule, Aachen. Lehrstuhl für Geschichte der Technik. 2008.</li><li>
4 J. Teller, M. Teller, Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock 1984, 6, 27–41.</li><li>
5 A. Michaelis, Chem. Ber. 1871, 4, 777–778.</li><li>
6 A. Michaelis, Chem. Ber. 1875, 8, 504–506.</li><li>
7 A. Michaelis, T. Becker, Chem. Ber. 1897, 30, 1003–1009.</li><li>
8 Der Begriff Tautomerie wurde 1885 geprägt: C. Laar, Chem. Ber. 1885, 18, 648–657.</li><li>
9 V. Merz, W. Weit, Chem. Ber. 1873, 6, 1514–1520.</li><li>
10 W. La Coste, A. Michaelis, Liebig‘s Ann. 1880, 201, 184–261.</li><li>
11 a) A. Michaelis, A. Reese, Chem. Ber. 1882, 15, 1610. b) A. Michaelis, A. Reese, Chem. Ber. 1882, 15, 2876–2877.</li><li>
12 A. Michaelis, H. v. Soden, Liebig‘s Ann. 1885, 229, 295–334.</li><li>
13 a) A. Michaelis, Chem. Ber. 1874, 7, 6–10. b) A. Michaelis, Fr. Graeff, Chem. Ber. 1875, 8, 922–924. c) A. Michaelis, Chem. Ber. 1875, 8, 493–504. d) H. Köhler, A. Michaelis, Chem. Ber. 1877, 10, 816–818.</li><li>
14 a) A. Michaelis, K. Luxembourg, Chem. Ber. 1895, 28, 2205–2211. b) A. Michaelis, Chem. Ber. 1898, 31, 1037–1047.</li><li>
15 A. Michaelis, H. v. Soden, Liebig‘s Ann. 1885, 229, 334–340.</li><li>
16 A. Michaelis, E. Silberstein, Chem. Ber. 1896, 29, 716–728.</li><li>
17 A. Michaelis, G. Schröter, Chem. Ber. 1894, 27, 490–497.</li><li>
18 A. Michaelis, R. Kaehne, Chem. Ber. 1898, 31, 1048–1055.</li><li>
19 a) A. J. Arbusow, Dissertation, St. Petersburg 1905. b) A. J. Arbusow, Chem. Ber. 1905, 38, 1171–1173.</li><li>
20 B. A. Arbusow, Pure Appl. Chem. 1964, 9, 307–335.</li><li>
21 H. Köhler, A. Michaelis, Chem. Ber. 1877, 10, 807–814.</li><li>
22 W. Henderson, J. Am. Chem. Soc. 1963, 3957, 2462–2466.</li><li>
23 J. J. Daly, L. Maier, Nature 1964, 203, 1167–1168.</li><li>
24 W. Kuchen, H. Buchwald, Chem. Ber. 1958, 91, 2296–2304.</li><li>
25 T. Weil, B. Prijs, H. Erlenmeyer, Helv. Chim. Acta 1952, 35, 616–618.</li><li>
26 L. Horner, H. Hoffmann, P. Beck, Chem. Ber. 1958, 91, 1583–1588.</li><li>
27 E. Wiberg, M. van Ghemen, G. Müller-Schiedmayer, Angew. Chem. 1963, 75, 814–823.</li><li>
28 A. B. Burg, J. Am. Chem. Soc. 1961, 83, 2226–2231.</li><li>
29 M. Yoshifuji, I. Shima, N. Inamoto, J. Am. Chem. Soc. 1981, 103, 4587–4589.</li><li>
30 A. R. Davies, A. T. Dronsfield, R. N. Haszeldine, D. R. Taylor, J. Chem. Soc. Perkin Trans. 1973, 1, 379–385.</li><li>
31 E. Niecke, M. Nieger, F. Reichert, Angew. Chem. Int. Ed. 1988, 27, 1715–1716.</li><li>
32 A. Michaelis, Graham-Otto’s Ausführliches Lehrbuch der Anorganischen Chemie, 5. Auflage, Vieweg u. Sohn, Braunschweig 1889.</li></ul>

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