Ausgeblättert

Beim Stöbern in seiner Sammlung kostbarer alter Landkarten und Drucke fiel dem Biologen Blair Hedges eines Tages auf, dass manche seiner Holzdrucke weiße Flecken aufwiesen, die ein Wurmloch im Holzblock abbilden. Dabei erforschte er an der Pennsylvania State University und seit dem Jahr 2014 an der Temple University in Philadelphia Vögel und Reptilien. Er ist fleißig, hat 124 Arten neu beschrieben und benannt, zudem zahlreiche Gattungen und höhere taxonomische Gruppen.Sein Hobby aber ist das Sammeln alter Drucke, insbesondere Landkarten aus der Renaissance. Beim Abschalten nach getaner Forschungsarbeit scheint es nicht so recht geholfen zu haben. Zuerst entwickelte er ein neues Datierungsverfahren für Kupferstiche auf der Grundlage von Linien, die wegen der Kupferkorrosion allmählich dünner werden.1) Dann fand er die Löcher in den Holzdrucken. Hier waren offenbar vor Jahrhunderten Holzwürmer am Werk gewesen, die genau genommen keine Würmer, sondern Käferlarven sind.<figure><img src="https://media.graphcms.com/HXWcTM0OR0Wo9pVAAurO"><figcaption><label>Abb. 1: </label>„Deprimierend, unsere Arbeitsplätze werden durch künstliche Intelligenz ersetzt!“ <named-content>Cartoon: Roland Wengenmayr, Frankfurt</named-content></figcaption></figure>
Der unermüdliche Biologe maß den einzigen Parameter, der ihm zur Charakterisierung der Holzwürmer zur Verfügung stand, nämlich die Durchmesser der Löcher. Als unabhängige Variable dienten ihm der meist wohldokumentierte Ort und die Zeit der Drucklegung. Das scheint nicht viel Information zu sein, aber mit einer großen Zahl von Drucken, einer Europakarte und viel Geduld dokumentierte Hedges die geografische Verteilung zweier Käferarten in Europa mit mehr als 3000 Messpunkten – eine Informationsdichte, die aus naturkundlichen Sammlungen nicht zugänglich wäre.2)Hedges stellte fest, dass Europa in der Renaissance zwischen zwei Holzwurmarten aufgeteilt war, die Löcher in Druckstöcke fraßen. Im Norden bohrten die Larven des gemeinen Nagekäfers Anobium punctatum Löcher von 1,4 Millimetern Durchmesser, im Süden des Kontinents hingegen war vermutlich die Art Oligomerus ptilinoides am Werk und hinterließ größere Löcher mit 2,3 Millimetern Durchmesser. Vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert blieb diese Gebietsaufteilung unverändert – erst der verstärkte Fernhandel mit Holzprodukten weitete die Käferterritorien aus und und ließ sie überlappen.Inzwischen hat Hedges in seiner Hobbyforschung den nächsten Schritt gemacht. Eine Reporterin der Zeitschrift Science beobachtete ihn in der Bodleian Library in Oxford, wie er mit einer Bürste an Wurmlöchern in einem Manuskript des Lukas-Evangeliums aus dem 12. Jahrhundert herumschrubbte.3) Er will die DNA der Käferlarve analysieren, die sich vor 900 Jahren durch die zwischen Holzdeckeln gebundene Heilige Schrift fraß.Probennahme jeglicher Art ist in der Bodleian strengstens verboten, aber das altehrwürdige Evangelium ist eine Ausnahme. Es ist in Privatbesitz und nur zu Forschungszwecken in der Bibliothek. Der wissenshungrige Besitzer hat das Manuskript auch anderen Forschern für Analysen zur Verfügung gestellt. Diese lieferten mit minimalinvasiven Methoden überraschende Einblicke in die Verwendung von Pergamenten verschiedener Tierarten.Andere versuchen, von den Seiten menschliche DNA zu gewinnen, die etwa von Lesern stammen könnte, die auf das Buch geniest haben, oder von Mönchen, die bei rituellen Gebeten immer wieder dieselbe Seite berührten. Mit der heutigen Technik, die aus Knochensplittern von Neandertalern komplette Genome hervorzaubert, können solche Träume durchaus Wirklichkeit werden.Die Welt der Klosterbrüder, die ein Leben lang Bücher abschrieben, wurde bisher vor allem auf der Grundlage der sichtbaren oder mit physikalischen Methoden sichtbar zu machenden Information sowie mit der Phantasie von Autoren wie Umberto Eco („Der Name der Rose“) zum Leben erweckt. Die Genome von Bücherwürmern, sowohl der menschlichen als auch der tierischen Sorte, bringen uns diese Welt nun auch aus molekularbiologischer Sicht näher.Michael Groß, <a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a>
<ul>Literatur<li>
1 S. B. Hedges, Proc. R. Soc. A 2006, 462, 3555.</li><li>
2 S. B. Hedges, Biol. Lett. 2013, 9, 20120926.</li><li>
3 A. Gibbons, Science 2017, 357, 346.</li></ul>

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