Gesellschaft Deutscher Chemiker

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Elektronik hautnah

Nachrichten aus der Chemie, Januar 2023, Seite 106, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Früher, liebe Nachgeborene, im 20. Jahrhundert, gab es noch Papier, und man konnte mit Stiften darauf schreiben oder malen. War gerade kein Papier zur Hand, konnte man auch mit einem Kugelschreiber auf diese schreiben, etwa eine wichtige Telefonnummer oder die Lösungen für Klassenarbeiten.

Da jetzt die komplette Kommunikation der Menschheit auf 90-Sekunden-Videos umgestellt wird, funktioniert das mit dem Kugelschreiber und der Hand nicht mehr so gut. Elektronischer Ersatz muss her, falls das Smartphone kaputt oder verloren geht. In der Kleidung oder am Körper zu tragende Elektronik verspricht man uns seit 20 Jahren,1) aber die tatsächliche Entwicklung fokussierte sich dann doch überwiegend auf Endgeräte im Handyformat.

Aber jetzt soll die Elektronik endlich mit dem Menschen fusionieren, und alles soll sich auf der Haut abspielen. Damit wir auch Tiktok-Videos einfach auf dem Handrücken anschauen und Chat-Nachrichten mit dem Finger auf die Tischplatte schreiben können. Oder was auch immer Sie mit Ihrer Haut anstellen wollen. Denn mit dem Skinkit der Cornell-Universität soll es kinderleicht sein, elektronische Funktionen im hautverträglichen Format selbst zusammenzustöpseln. So einfach wie Lego spielen, verspricht Hsin-Liu Cindy Kao, die die Methode mit ihrem Team über Jahre entwickelt und zuletzt mit Laien getestet hat.2)

Pandemie-inspirierte Anwendungen, die sich die Versuchspersonen ausdachten, waren kontinuierliche Überwachung der Körpertemperatur oder Hilfen zum Abstand Halten. Auch eine Verwendung im Schulunterricht wurde getestet. Die spielerisch erzeugten elektronischen Geräte lassen sich dann ebenso leicht wieder zerlegen und zu anderen Anwendungen kombinieren. Das ist schon mal ein positiver Unterschied zu den Geräten mit dem angebissenen Apfel.

Aber auf was für Ideen die Benutzer:innen des zweidimensionalen Elektronikbaukastens kommen, wenn sie nicht beaufsichtigt werden – das ist noch eine offene Frage. Solange sie nur auf der eigenen Haut die Sonneneinstrahlung messen, um das Eincremen nicht zu vergessen, soll es mir recht sein. Aber die ganze Technik hört sich ja so an, als ob man sie auch ganz unauffällig an anderen Personen oder deren Kleidung oder an Alltagsgegenständen einsetzen kann.

Was in solchen Fällen passieren kann, zeigt sich gerade live anhand des Airtag von Apple. Dies ist eine Wanze im Münzformat, mit der man etwa Gepäck, Schlüssel oder Stradivari-Geige markieren kann, um diese leichter per App wiederzufinden, wenn sie verloren gehen oder gestohlen werden. Erst nach der kommerziellen Einführung im April 2021, als unzählige Wanzen bereits im Umlauf waren, setzte sich die Erkenntnis durch: Die Dinger sind der Traum eines jeden Stalkers. In der Jacke oder im Auto der Zielperson versteckt, ermöglichen sie, dieselbe bequem zu überwachen und zu verfolgen. Zwar gibt es die Möglichkeit, die Opfer zu warnen, wenn eine Wanze in ihrer Nähe ist. Doch das funktioniert nur, wenn die Betroffenen selbst ein i-Phone und die entsprechende App aktiviert haben.

In diesem Sinne bin ich gespannt, was Spione, Stalker und Kriminelle alles aus dem Skinkit bauen.

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„Der mit der Kalaschnikow auf dem Überwachungsvideo ist nicht Olaf Scholz, Frau Kommissarin?“ „Nee, der hat sich so ein neues Display-Implantat ins Gesicht operieren lassen …“ Roland Wengenmayr

Michael Groß

www.michaelgross.co.uk

  • 1 C. Borchard-Tuch, M. Groß, Was Biotronik alles kann: Blind sehen, gehörlos hören … Wiley-VCH, Weinheim 2002.
  • 2 P.-S. Ku, Md. T. I. Molla, K. Huang et al., Proceedings of the ACM on Interactive, Mobile, Wearable and Ubiquitous Technologies 2021, 5, 165

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