Notizen

Wir Wissenschaftler sind alle Anarchisten, meint zumindest der Autor Michael Brooks. Die ganze Wissenschaft wimmele nur so von Leuten, die alle erdenklichen Regeln übertreten und sich nicht um das nach außen vertretene Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung scheren. Nach der These, die Brooks in seinem Buch “Free Radicals — the secret anarchy of science” etwas überzogen vertritt,1) nützt die Anarchie dem Fortschritt, und die Wissenschaft sollte sich zur Anarchie bekennen, statt immer so langweilig und rational daherzukommen. Eine Regel befolgen die meisten der von Brooks als Zeugen aufgerufenen Wissenschaftsanarchisten: Sie bewegen sich innerhalb des jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen Systems, und das heißt — zumindest in der Gegenwart und näheren Vergangenheit: Sie führen ihre Experimente in Forschungslabors aus und publizieren sie in wissenschaftlichen Journalen.
Die wahren Anarchisten der heutigen Wissenschaft, könnte man argumentieren, sind aber diejenigen, die ihre Experimente zuhause in der Küche oder Garage ausführen. So wie der schwedische Physik-Fan Richard Handl, der im vergangenen Herbst berühmt wurde, als er versuchte, eine Kernspaltung in der Küche seiner kleinen Wohnung durchzuführen. Als er auf seinem Herd Berylliumpulver und selbstleuchtende Uhrzeiger (als Radiumquelle) mit Schwefelsäure erhitzte, um daraus eine Neutronenquelle zu gewinnen, flog ihm das Gebräu um die Ohren. Nach diesem unerwarteten Versuchsergebnis erkundigte er sich bei der zuständigen Aufsichtsbehörde, ob sein geplantes Experiment überhaupt erlaubt sei, und erfuhr dann erst einmal eine Zwangsstilllegung.
Inspiriert hatte Handl, der zunächst ganz harmlos mit dem Sammeln von Elementen anfing, die Geschichte des radioaktiven Pfadfinders David Hahn, der im US-Bundesstaat Michigan bereits Mitte der 1990er Jahre, damals 17-jährig, versuchte, einen Kernreaktor im Gartenschuppen seiner Familie zu bauen. Auch er wurde von den Behörden an der Erfüllung seines strahlenden Traums gehindert, aber erst, nachdem er sich selbst und seine Umgebung mit gefährlichen Dosen von Radioaktivität belastet hatte.
Darüber, dass Privatpersonen zuhause vielleicht besser keine Kernspaltungen versuchen sollten, kann man wahrscheinlich leicht Einigkeit erzielen. Aber wie sieht es am harmloseren Ende des Spektrums aus? Victor Deeb in der Kleinstadt Marlborough in Massachusetts betrieb in seinem Keller ein kleines Labor, um eine Beschichtung für Getränkedosen zu finden, die ohne Bisphenol A auskommt. Er besaß etwa 100 Gefäße mit Chemikalien, von denen keine als gefährlich gilt. Die Behörden, die zufällig auf ihn aufmerksam wurden, räumten seinen Keller aus und versuchten, ihm einen Gesetzesbruch nachzuweisen. Da ihnen das nicht gelang, verklagten sie ihn auf die Kosten der Untersuchung.
Diese Art von harmloser Amateurwissenschaft ist derzeit — dank der flächendeckenden Ausbreitung des Internets — im Aufwind. Insbesondere die Molekularbiologie erfreut sich großer Beliebtheit bei Hobbyforschern. Davon zeugen Blogs wie <a href="https://diybio.org" target="_blank">diybio.org</a>. Da Biotech-Startups öfter mal pleite gehen, gibt es einen lebhaften Online-Markt für gebrauchte Laborgeräte, und wer unbedingt seine eigenen Gene oder die seiner Haustiere amplifizieren und sequenzieren möchte, kann dies problemlos tun. Lasst mir nur die Grippeviren in Ruhe [diese Nachrichten, S. 654], denn da kommt man schnell in die Gefahrenzone, auf welche die Staatsgewalt vermutlich ebenso empfindlich reagieren wird wie auf selbst gebaute Kernreaktoren.
Als ehemaliger Forscher hätte ich natürlich viel zu hohe Ansprüche an die Laborausstattung und würde nicht unbedingt in der Küche die Reaktionen von Hand ankurbeln wollen, die anderswo längst perfektioniert und automatisiert sind. Wenn mich die Labornostalgie wirklich einmal unwiderstehlich packen sollte, würde ich vermutlich eher etwas ästhetisch Reizvolles anvisieren und zum Beispiel Glas blasen oder Kristalle züchten. Anarchie ohne Explosionsgefahr.
Michael Groß <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a></ext-link>



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1 


M. Brooks, 
<source>Free radicals: The secret anarchy of science, <publisher-name>Profile books</publisher-name>, <publisher-loc>London</publisher-loc>, 2011.

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2 


K. Silverstein, 
<source>The Radioactive Boy Scout: The True Story of a Boy and His Backyard Nuclear Reactor, <publisher-name>Random House</publisher-name>, <publisher-loc>New York</publisher-loc>, 2004.

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Artikel

Experimentierkunst in der Küche

Wir Wissenschaftler sind alle Anarchisten, meint zumindest der Autor Michael Brooks. Die ganze Wissenschaft wimmele nur so von Leuten, die alle erdenklichen Regeln übertreten und sich nicht um das nach außen vertretene Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung scheren. Nach der These, die Bro...

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Aus reaktionstechnischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist eine kontinuierliche Produktion vorteilhaft. Seit Jahrzehnten zeigt sich dies bei der Herstellung von Grundchemikalien. Die bekannten Methoden bilden die Basis für die Entwicklung kontinuierlicher Labor- und Produktionsverfahren für die Synthese von Fein- und Spezialchemikalien. Wesentliche Entwicklungstreiber sind: hohe Anlagenauslastung, einfacheres Scale-up und höhere Sicherheit. Zur Anwendung kommen neue verfahrenstechnische Konzepte, mit denen erst experimentiert und später produziert wird. Dies erhöht die Wirtschaftlichkeit und verkürzt die Zeit zum Markt mit neuen Produkten deutlich.


<h2>Moleküle und Synthesewege</h2>
Die Integration von chemischen und biochemischen Prozessen und Analysemethoden in kleinen kontinuierlich durchströmten Bauteilen führt zu einer neuen Art der Molekülsynthese und Materialerzeugung.1 Die Entwicklungen dazu firmieren unter dem Begriff Mikrofluidik. In mikrofluidischen Komponenten finden Misch-, Stoff- und Wärmetransport- sowie Stoffumwandlungs- und chemische Analyseprozesse statt. Die Prozesse lassen sich in den Mikrovolumina sehr genau steuern und automatisieren. Für mikrofluidische Bauteile in einer chemischen Umgebung ist die Auswahl geeigneter Bauteil-Materialien besonders wichtig und häufig nicht trivial.
Die aktuelle Forschung zeigt, dass sich die Systeme für die Herstellung von organischen und anorganischen sowie von mehrschichtigen Nanopartikeln besonders eignen.2 Mit mikrofluidischen Methoden lassen sich neue Materialien durch kontrollierte Aggregation und Verkapselung von Nanopartikeln herstellen.3 Die Transportprozesse in solchen Systemen werden maßgeblich von den Strömungsverhältnissen in dem Bauteil beeinflusst. Für zweiphasig durchströmte Systeme bilden sich in Abhängigkeit der Durchsätze verschiedene Strömungsregime aus, wie in Abbildung 1 dargestellt.
Für technische Anwendungen ist das Regime der Kolbenströmung, der segmentierte Fluss, besonders interessant: Die gezielte Tropfenbildung innerhalb einer Trägerflüssigkeit eröffnet neue experimentelle Möglichkeiten für die chemische und biologische Forschung.4 Jeder Tropfen kann als ein separater Reaktionskolben betrachtet werden. Bei der Auslegung der Systeme und Interpretation von Ergebnissen ist eine mögliche Diffusion von Reaktanden in die Trägerflüssigkeit zu beachten. Für die kontrollierte Temperaturführung in kleinen Reaktionsvolumina werden Mikrowellen-Heizungen und induktive Heizungen diskutiert.5
Mit mikrofluidischen Komponenten entwickeln sich parallel neue Analyseverfahren. Stellvertretend sei die Magnetresonanztomographie genannt.6 Diese Technik erlaubt erstmals die Aufklärung der Phasenverteilung und -geschwindigkeiten sowie deren Veränderung infolge von Stofftransport- und Stoffumwandlungsprozessen in blickdichten mikrofluidischen Bauteilen.
Die Synthesechemie etabliert zunehmend mikrofluidische Systeme, die mehrere Prozessschritte wie Vorbereitung, Stoffumwandlung und -trennung hintereinander geschaltet und voll automatisiert durchführen.7 In Abbildung 2 ist exemplarisch ein Synthesesystem von Syrris dargestellt.
Der Umgang mit ein- und mehrstufigen Synthesesystemen muss intensiv trainiert werden, um reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten und um die Anwendungsgrenzen herauszuarbeiten.8 Eine umfangreiche Übersicht über die Strömungschemie zur Herstellung organischer Moleküle in mikrofluidischen Systemen bieten Wegner et al.9 Komplettsysteme bestehen beispielsweise aus Fluiddosierung und Beheizung, Stoffumwandlung, Phasenseparation und Stofftrennung sowie Inline-Analysewerkzeugen. Zu Anbietern dafür zählen Thalesnano, Syrris, Uniqsis, Chemtrix und Ehrfeld Mikrotechnik BTS. Fernsteuerungstechnik (via Mobiltelefon, Webcams und Remote-Desktop) wird die Auslastung mikrofluidischer Laborausrüstung und von Versuchsständen zukünftig deutlich erhöhen.10


<h2>Neue Prozessfenster</h2>
Entwicklungen der Materialwissenschaften und des Apparatebaus führen zu mikrofluidischen Komponenten, die sich für eine Reaktionsführung in neuen Prozessfenstern eignen: d. h. bei extremeren Betriebsparametern wie hohen Temperaturen, Drücken, Reaktandenkonzentrationen und der Anwendung neuer Synthesewege.11 Dazu zählen zudem Reaktionen in überkritischen Reaktionsmedien. Möglich werden neue Prozessfenster durch apparatetechnische Innovationen und neue Methoden zur Wärmeein- oder -auskopplung. Die relativ kleinen Reaktionsvolumina von Mikrostrukturbauteilen senken dabei das Gefahrenpotenzial. Neue Prozessfenster sollen den Umsatz und die Selektivität verbessern, umweltproblematische Hilfsstoffe vermeiden und die Prozesssicherheit erhöhen.12


<h2>Neue Prozessgestaltung</h2>
Ein weiterer Trend liegt in der Umstellung von Batch-Prozessen auf kontinuierliche Prozesse. Daraus ergeben sich folgende Vorteile: geringeres Flüssigkeitsholdup, geringeres Gefährdungspotenzial, kürzere Entwicklungszeiten, einfacheres Scale-up und höhere Raumzeitausbeuten. Bei der Umstellung sind allerdings die vor- und nachgeschalteten verfahrenstechnischen Komponenten und Anlagenteile möglicherweise anzupassen. Ob eine Umstellung aus reaktionstechnischer und wirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist, ist von Fall zu Fall zu entscheiden.13
Für den technischen Einsatz sind Mikro- und Millireaktoren interessant. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen Vorteile von kontinuierlichen gegenüber Batch-Prozessen.14 Besonders herausfordernd ist die Integration von Feststoffkatalysatoren in Mikroreaktoren. Bekannte Lösungen sind Wandbeschichtungen und Mikrofestbetten. Eine Forschungsarbeit demonstriert die Anwendung eines Suspensionskatalysators für eine Flüssig-flüssig-Reaktion in einem kanalförmigen Millireaktor.15 Die Pharmaindustrie treibt die Entwicklung von Konti-Prozessen parallel voran. Beispielsweise kooperiert Novartis mit dem Massachusetts Institute of Technology im “Novartis-MIT-Center for Continuous Manufacturing”.16


<h2>Konventionelle Mehrphasen-Festbettreaktoren</h2>
In den letzten Jahren entstanden neue Verfahren zur Aufklärung von ein- und mehrphasigen Strömungen in verfahrenstechnischen Apparaten.17 Die Techniken helfen bei der Optimierung der Fluidverteilung in den Apparaten unter industrierelevanten Bedingungen. Eine jüngste Entwicklung ist die ultraschnelle Röntgentomographie von durchströmten Apparaten. Sie erlaubt eine Zeitauflösung von bis zu 10 000 Bildern pro Sekunde für 2D-Bilder und bis zu 1000 Bilder pro Sekunde für 3D-Bilder.18
Zahlreiche Forschergruppen befassen sich mit der fluiddynamischen Modellierung und Simulation von Gasphasen- und Flüssigphasenprozessen in Festbettreaktoren. Ziel ist die exakte Beschreibung der Hydrodynamik und Kopplung mit Stofftransport und Reaktionskinetik.
Eine relativ neue Technik ist Imaging Based Meshing. Dabei werden beispielsweise Formkörperschüttungen mit tomographischen Verfahren (Magnetresonanztomographie) dreidimensional vermessen. Die Messergebnisse werden in Programme für numerische Strömungssimulation integriert. So lässt sich die Gasströmung um die Partikel simulieren.19 Die Technik ist vielseitig einsetzbar und wird folglich für Gas/Flüssig-Reaktionsprozesse mit anderen Katalysatorformen eingesetzt werden. Interessant ist diese Technik für die Entwicklung von kommerziellen Durchflussreaktoren mit strukturierten Katalysatoren wie Schaumkatalysatoren (Abbildung 3).
Die neuen Messverfahren in Verbindung mit numerischer Strömungssimulation werden zukünftig für eine verbesserte Auslegung und Optimierung von technischen Reaktoren eine wichtige Rolle spielen.


<h2>Neue Fertigungsverfahren</h2>
3D-Rapid-Prototyping-Verfahren halten Einzug in die Herstellung von komplexen und miniaturisierten Apparaten und Apparateelementen. Derartige Verfahren erzeugen 3D-Strukturen mit hoher Strukturfeinheit. Mit einem pulvermetallurgischen Ansatz sind die Bauteile aus einer großen Bandbreite industriell relevanter Materialien herstellbar. So liefert das 3D-Siebdruckverfahren des Fraunhofer Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung Dresden Mikrowärmeübertrager und Fluidverteiler.20 Die Fertigung von Katalysatorträgern und Katalysatoren auf Metallbasis ist ebenfalls möglich. Es vermischen sich die Disziplinen Fertigungs-, Apparate- und Reaktionstechnik sowie Katalyse.


<h2>Ausblick</h2>
Strömungschemische Verfahren benötigen einen noch stärkeren interdisziplinären Charakter für die Entwicklungen an der Schnittstelle zwischen Chemie, Ingenieurwissenschaften, Informatik und Robotik. Bei Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sollte der Fokus parallel auf das Verstehen der Wertschöpfungskette gelegt werden. Eine solche Verständniserweiterung wird die Entwicklungen beschleunigen, die zu einer tatsächlichen Innovation werden und am Markt bestehen können.


— — — Mikrofluidiksysteme eignen sich für die Herstellung von organischen und anorganischen sowie von mehrschichtigen Nanopartikeln.
Im Trend liegt auch die Umstellung von Batch-Prozessen auf kontinuierliche Prozesse.
Neue Messverfahren in Verbindung mit numerischer Strömungssimulation werden zunehmend wichtiger für eine verbesserte Auslegung und Optimierung von technischen Reaktoren.


— — — Tobias Bauer leitet die Arbeitsgruppe Chemische Reaktionstechnik an der Professur für chemische Verfahrens- und Anlagentechnik (Leiter Rüdiger Lange) an der TU Dresden. Die Forschungsschwerpunkte des promovierten Verfahrenstechnikers sind: neuartige Strömungsreaktoren von Mikro bis Makro für energie- und rohstoffeffiziente Mehrphasenreaktionsprozesse. <a href="mailto:tobias.bauer@tu-dresden.de">tobias.bauer@tu-dresden.de</a>



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