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Vor 85 Jahren erfanden Franz Fischer und Hans Tropsch am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohleforschung in Mülheim (Ruhr) ein Verfahren, das Synthesegas (H2 + CO) katalytisch in flüssige Kohlenwasserstoffe umwandelt. Obwohl die Erfinder zunächst die Nutzung der im Revier geförderten Steinkohle anvisierten, zeichnet sich das Verfahren durch seine Vielseitigkeit aus, da sich Synthesegas aus vielerlei kohlenstoffhaltigen Materialien gewinnen lässt: beispielsweise aus Kohle oder Erdgas, aber auch aus Biomasse oder Müll. Der Haken an der Sache war nur, dass die Produktionskosten des synthetischen Benzins — selbst zu Zeiten relativ hoher Ölpreise — die Weltmarktpreise des in Erdölraffinerien destillierten Treibstoffs deutlich übertrafen. Deshalb blieb die Herstellung künstlichen Benzins nach Fischer und Tropsch jahrzehntelang ein Randphänomen, das nur in politisch isolierten Ländern großindustriell genutzt wurde.
 Wirtschaftlich gesehen ist es heute immer noch riskant, auf synthetischen Treibstoff zu setzten. Man könnte gewinnen, wenn der Erdölpreis steigt, doch man könnte auch auf seinem Erzeugnis sitzen bleiben, wenn die Preise fallen.
Gute Gründe, Fischer-Tropsch wiederzubeleben und, wenn nötig, finanziell zu unterstützen, ergeben sich jedoch aus umweltpolitischen Überlegungen. Zwei grundverschiedene Rohstoffe sind mit diesem Verfahren auf umweltfreundliche Weise nutzbar: Biomasse und überschüssiges, anders nicht verwertbares Erdgas.
Bei den Biokraftstoffen gilt inzwischen Ethanol aus essbaren Pflanzenprodukten wie Mais als Irrweg — die Nebenwirkungen überwiegen womöglich sogar den grünen Nutzeffekt; als Rohstoffquellen für Biotreibstoffe der zweiten Generation sucht man hingegen Ausgangsstoffe, die nicht mit Lebensmitteln konkurrieren, und die nicht durch hohen Energieeinsatz, monokulturelle Anbaumethoden und ähnliche Probleme indiskutabel sind. Man spricht bei dieser nächsten Generation auch von BtL-Kraftstoffen, also Biomass-to-Liquid-Kraftstoffen.
Das Unternehmen Choren (der Name deutet an, dass man mit den Elementen C, H, und O renewable energy, also erneuerbare Energie erzeugen will) in Sachsen setzt auf Fischer-Tropsch-Verfahren zur Erzeugung von Biokraftstoffen.
Bodo Wolf, der bereits in der DDR am Brennstoff-Institut Erfahrung mit der Treibstoffsynthese sammelte, gründete nach der Wiedervereinigung das Unternehmen, aus dem die heutige Choren Industries hervorging. Er fand Unterstützung bei den Autokonzernen VW und Daimler sowie beim Ölmulti Shell, der entscheidende Technologie zum Bau der ersten auf Biomasse und Fischer-Tropsch aufbauenden Raffinerie in Freiberg beisteuerte.
Diese Pilotanlage, die etwa 70 000 Tonnen Holzabfälle pro Jahr verflüssigt, ging Ende vorigen Jahres in Betrieb. Der nächste Schritt für Choren ist eine komplette Raffinerie, die in Schwedt an der polnischen Grenze entstehen und 200 000 Tonnen Biodiesel pro Jahr produzieren soll.
Für diesen großen Maßstab reichen Holzabfälle nicht mehr aus. Um die Versorgung mit Biomasse sicherzustellen, schloss Choren im Jahr 2009 einen Vertrag mit dem Unternehmen German Pellets in Wismar, das den Rohstoff für die Schwedter Raffinerie liefern soll. Auf bis zu 1000 Hektar sollen mit landwirtschaftlichen Partnern schnell wachsende Gehölze für die Erzeugung von Biokraftstoffen angebaut werden.


<h2>Tragbare Katalysatoren für FT-Synthese</h2>
Unterdessen hat das Unternehmen Oxford Catalysts, eine Ausgründung des anorganischen Instituts der Universität Oxford, einen anderen Rohstoff im Auge, dessen Nutzung auch der Umwelt hilft:
Mehr als 100 Milliarden Kubikmeter Erdgas werden pro Jahr abgefackelt; dies erzeugt etwa 0,5 % der menschgemachten CO2-Emissionen. Es handelt sich hierbei zum Beispiel um Gas, das bei der Ölförderung in entlegenen Gebieten anfällt, wo man keine Pipelines legen kann. Vielerorts wird Erdgas aus reinen Kostenerwägungen abgefackelt — der Transport würde mehr kosten, als der Verkauf einbringen würde.
Oxford Catalysts hat deshalb tragbare Reaktionskammern mit speziellen Fischer-Tropsch-Katalysatoren für die Umwandlung solcher Gase entwickelt. Sobald der ehemals als Methan anfallende Kohlenwasserstoff in flüssiger Form vorliegt, kann man ihn einfach dem geförderten Öl beimischen und den normalen Transport- und Verarbeitungswegen zuführen.
Die Katalysatorproduktion beruht auf der Organic-Matrix-Combustion(OMX)-Technik, die es ermöglicht, den Cobaltkatalysator mit genau definierter Partikelgröße im Nanometermaßstab herzustellen. Bei diesem Verfahren wird ein Salz des als Katalysator zu verwendenden Metalls (also in diesem Fall: Cobalt) in einen Komplex mit einer organischen Verbindung eingebaut. Bei der raschen Verbrennung bleiben die Metallzentren voneinander getrennt und haben keine Zeit zu sintern.
Der in Zusammenarbeit mit Velocys entwickelte Mikroreaktor erhielt 2009 mehrere Preise, zuletzt den Energy Institute Innovation Award. Noch in diesem Jahr sollen Prototypen den Betrieb aufnehmen, eine Anlage wird derzeit in Güssing in Österreich installiert. Sie soll dort etwa ein halbes Jahr zur Probe laufen, bevor sie an ihren endgültigen Einsatzort in den USA verlagert wird. Im März 2010 schloss Velocys mit der staatlichen brasilianischen Ölfirma Petrobras einen Vertrag ab, der den baldigen Probeeinsatz von FT-Mikroreaktoren bei der Ölförderung vor der brasilianischen Küste vorsieht. Verkauf und kommerzielle Nutzung der Mikroreaktoren sollen bereits im nächsten Jahr beginnen. 


<h2>Ausblick</h2>
Unterdessen investieren außer Sasol auch andere multinationale Ölkonzerne in Fischer-Tropsch-Anlagen in Katar, wo sich das größte bekannte Erdgasvorkommen der Welt befindet. Sasol produziert dort bereits 34 000 Barrel synthetischen Dieselkraftstoff pro Tag. Shell will eine viermal so große Anlage bauen. Trotz seiner dunklen Vergangenheit hat das Fischer-Tropsch-Verfahren womöglich eine strahlende Zukunft.
Der Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsautor in Oxford, England. <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a></ext-link>


<h2>— — — Wer nutzte Fischer-Tropsch?</h2>
Die Kohlehydrierung nach Bergius und das Fischer-Tropsch-Verfahren machten das Dritte Reich von Ölimporten unabhängig — ein Ziel, dem die Nationalsozialisten höchste Priorität gaben: Schon im Dezember 1933 legte die Regierung mit dem Benzinvertrag die Grundlagen für die Produktion von synthetischem Treibstoff in großem Maßstab. Im Jahr 1934 zwang Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht die Braunkohleindustrie, in Hydrieranlagen zu investieren. Bereits zwei Jahre später gingen dann Fabriken nach dem Bergius-Verfahren in Böhlen und Magdeburg sowie eine Fischer-Tropsch-Anlage in Ruhland in Betrieb.
Die zentrale, geschützte Lage dieser Standorte deutete bereits darauf hin, dass die Motive keine friedlichen waren. Ohne synthetisches Benzin hätte Hitler den Zweiten Weltkrieg nicht einmal anfangen können. Doch erst im Mai 1944 zogen die Alliierten den logischen Schluss und begannen mit Luftangriffen auf Hydrierwerke, und es kam bald zur Treibstoffknappheit bei der Wehrmacht.
Nach dem Krieg wurden in der Bundesrepublik die meisten dieser Standorte umgewidmet. Aus der Steinkohlenhydrieranlage in Scholven (heute ein Stadtteil von Gelsenkirchen) wurde zum Beispiel einer der größten Raffineriestandorte Deutschlands. Die letzte Fischer-Tropsch-Anlage der BRD wurde 1962 in Bergkamen stillgelegt. In der DDR hingegen, wo die Devisen für den Ölimport knapp waren, diente die Technik weiterhin zur Umwandlung von Braunkohle in Benzin.
Auch das politisch isolierte Apartheidsregime in Südafrika machte sich mit der Fischer-Tropsch-Synthese von Ölimporten unabhängig. Das Unternehmen Sasol (South African Coal, Oil, and Gas Corporation; ursprünglich: Suid-Afrikaanse Steenkool en Olie) wandelt bis heute nach diesem Verfahren sowohl Kohle als auch Erdgas in Dieseltreibstoff um und wurde damit nicht nur zu Südafrikas führendem Dieselhersteller, sondern in neuerer Zeit auch zu einem international erfolgreichen Unternehmen mit Niederlassungen in Katar und Nigeria.

Artikel

Fischer‐Tropsch‐Synthese: Wiederkehr im grünen Gewand

Vor 85 Jahren erfanden Franz Fischer und Hans Tropsch am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohleforschung in Mülheim (Ruhr) ein Verfahren, das Synthesegas (H2 + CO) katalytisch in flüssige Kohlenwasserstoffe umwandelt. Obwohl die Erfinder zunächst die Nutzung der im Revier geförderten Steinkohle anvisi...

Mit dem Taschenbuch ”Dialektik ohne Dogma?“, das Rowohlt im Juni 1964 herausbrachte1), dürfte der Name seines Verfassers Robert Havemann zum ersten Mal einem Publikum in der Bundesrepublik Deutschland bekannt geworden sein. In der DDR kannte man ihn gut: Als Hochschullehrer an der Humboldt-Universität war er zugleich ein Mann der Öffentlichkeit — einer jener nicht sehr zahlreichen Naturwissenschaftler, die populärwissenschaftliche Betätigung als inneres Bedürfnis verstanden, nicht als lästige Pflicht. Er war Mitbegründer der vielgelesenen Monatsschrift ”Wissenschaft und Fortschritt“, die in erster Linie der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse diente, aber auch um deren wirtschaftliche Bedeutung und philosophische Bezüge keinen Bogen machte. Havemann war in ihr häufig als Autor zu finden und gehörte lange Zeit ihrem Kollegium an.
Bald wurde deutlich, dass die Rowohlt-Veröffentlichung auf seinem Lebensweg eine publizistische Wasserscheide war. Mit ihr wurde die Bundesrepublik sein öffentlicher Raum, während er bis zu seinem Tod 1982 aus der Öffentlichkeit der DDR vollkommen verschwand. Keine Zeile von ihm wurde mehr gedruckt, auch sein Name wurde nicht mehr erwähnt, bis auf eine minimale Zahl von Nennungen, die an seinen Einsatz im Widerstandskampf gegen das Naziregime und das von dessen Volksgerichtshof am 16. Dezember 1943 über ihn verhängte Todesurteil2) erinnerten.


<h2>Dialektik ohne Dogma?</h2>
Der schmale Rowohlt-Band enthielt die für den Druck ausgearbeiteten Texte der im wesentlichen frei gesprochenen Vorlesungen und einiger zugehöriger Seminare aus dem Studienjahr 1963/64. Havemann hatte diese als Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem trockenen Titel ”Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ für Hörer aller Fakultäten gehalten. Zumindest für westdeutsche Leser waren diese Texte alles andere als spektakulär. Ihre erhebliche Resonanz verdankte die ”Dialektik ohne Dogma?“ in erster Linie dem politischen Kontext ihres Erscheinens.
Havemann hatte seine Vorlesungsreihe nicht ordnungsgemäß beenden können. Sie wurde von einem Tag auf den anderen verboten, und dieses Verbot war mit seiner fristlosen Entlassung aus der Humboldt-Universität und seinem Ausschluss aus der SED verbunden; bereits im Herbst 1963 war er aus dem universitären Leitungsgremium dieser Partei ausgeschlossen worden, dem er als gewähltes Mitglied angehört hatte. Alle diese repressiven Maßnahmen wurden direkt von der Führungsspitze der SED verfügt, die universitären Organe exekutierten nur.
Ohne Zweifel enthielt der Vorlesungstext, wenn auch wohldosiert und in einer maßvollen Diktion, einige Passagen, von denen sich die politische Führung der DDR herausgefordert fühlen konnte. Aber auch für diktatorische Verhältnisse war das Vorgehen gegen Havemann eine Überreaktion des Systems, deren wirkliche Gründe sich nur vermuten lassen.
Zum unmittelbaren Anlass für seine Maßregelung im Frühjahr 1964 wurde nicht die Vorlesung selbst genommen, sondern ein von den Behörden der DDR nicht genehmigtes Interview mit Havemann, welches das Hamburger Echo am 11. März 1964 mit Bezug auf die Vorlesung veröffentlichte.
Als Hochschullehrer und Institutsdirektor wusste Havemann, dass ungenehmigte Interviews mit westlichen Medien in der DDR strikt untersagt waren und disziplinarisch geahndet werden konnten. Nach seiner eigenen Darstellung hatte er keineswegs ein Interview gegeben; vielmehr hätte sich der Journalist als interessierter Hörer vorgestellt, der nach der Vorlesung um die Klärung einiger Fragen gebeten hatte.
Havemann hatte jedoch keine Chance, seine Sicht des Vorgangs zu vertreten; es war offensichtlich, dass sich die Führung der SED von langer Hand darauf festgelegt hatte, die erste geeignet erscheinende Gelegenheit zu nutzen, um ihn aus dem öffentlichen Leben der DDR auszuschalten.


<h2>Über eine Vorlesung zur Opposition</h2>
Wie konnte es geschehen, dass ein Chemiker aus der naturwissenschaftlich fundierten Beschäftigung mit philosophischen Fragen zu Konsequenzen gelangte, die dem politischen Regime der DDR geradezu unerträglich erschienen und es veranlassten, seine ganze Repressionsmacht gegen ihn einzusetzen? Das ist eine zentrale Frage seiner Biographie. In den 1950er und 1960er Jahren gab es in der DDR keinen zweiten Chemiker, der sich ähnlich dezidiert philosophischen Themen gewidmet hätte. Die im Herbst 1963 gestartete Vorlesung war allerdings keineswegs eine Premiere. Havemann hatten die aus dem 19. Jahrhundert stammenden und später unter dem Gesamttitel ”Dialektik der Natur“ veröffentlichten Aufsätze und Notizen von Friedrich Engels zur zeitgenössischen Naturwissenschaft schon seit langem interessiert; er las sich — davon ausgehend — auch in schwierige Hegel-Texte ein und hatte schon mehrere Jahre lang eine Vorlesung unter dem gleichen Titel angeboten. Mindestens seit 1960 hielt er sie vor einem bescheidenen Hörerkreis, der hauptsächlich aus seinen eigenen Mitarbeitern und Studierenden bestand. Die übergreifende Absicht, die er damit verband, kam in dem von ihm gewählten sperrigen Titel zum Ausdruck: In den Debatten um die Deutung aktueller naturwissenschaftlicher Theorien und Hypothesen, die damals unter Stichworten wie Endlichkeit und Unendlichkeit, Determinismus und Kausalität, Anschaulichkeit und Begriff und anderen lebhaft geführt wurden und in denen er den marxistischen ”Kathederphilosophen“ gern Unwissenheit und Rechthaberei vorwarf, wollte er mit seinen eigenen Beiträgen naturwissenschaftliche Kompetenz zur Geltung bringen.
Im Herbstsemester 1963 eskalierte das Interesse an dieser Vorlesung, die bis dahin ein universitäres Nischendasein geführt hatte, sprunghaft und unerwartet. Fünfzehn Jahre später erinnerte sich Havemann daran: ”Die ersten Vorlesungen habe ich noch in dem ziemlich kleinen Hörsaal des Physikalisch-Chemischen Instituts in der Bunsenstraße gehalten. Aber dann wurde mir von der Universität mitgeteilt, so ginge es nicht, das Gestühl würde vor Überlastung einbrechen, weil die Leute zu zweit immer auf einem Sitz saßen und auf den Gängen überall rumstanden. Also zogen wir um und bekamen dann eine ungünstige Vorlesungszeit — nämlich freitags um 14.00 Uhr — angewiesen für den großen Hörsaal des Chemischen Instituts, in den also sieben- bis achthundert Leute hineingehen. Aber das war natürlich eine Fehlrechnung. Gerade die Tatsache, dass diese Zeit frei war, bewirkte, dass von allen Seiten die Leute hinkamen. Es kamen auch Leute mit der Eisenbahn angereist ...“3)
Mindestens drei Gründe, die sich wechselseitig verstärkten, haben diese Entwicklung ausgelöst. Einmal war Havemann in seiner angedeuteten Kritik an den politischen Verhältnissen in der DDR 1963 weiter gegangen als in seinen früheren Vorlesungen. Das sprach sich herum und wurde auch von den westdeutschen und insbesondere von den Westberliner Medien beobachtet und verbreitet. Zum andern hatte Havemann kurz zuvor mit seinem Auftreten auf der Tagung ”Die fortschrittlichen Traditionen in der deutschen Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“ im September 1962 in Leipzig seine Attacken gegen die ”Kathederphilosophen“ erheblich radikalisiert; der Leipziger Wissenschaftshistoriker Gerhard Harig verweigerte daraufhin die Aufnahme des von Havemann gehaltenen Vortrages ”Hat Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?“ in den von ihm herausgegebenen Protokollband der Tagung4). Nach diesem Vorgang erwartete man von seinen nachfolgenden Auftritten zu allgemeineren Themen nonkonformistische Kühnheiten. Schließlich war in der DDR 1963 der Versuch einer großangelegten Wirtschaftsreform (unter dem Etikett ”Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft) gestartet worden, der auf eine deutlich gesteigerte Eigenverantwortung der Betriebe, eine dosierte Einführung von Marktregulativen und die Freisetzung von Kreativität und Innovativität gerichtet war.
Damit war nach dem Schock des Mauerbaus erstmals wieder eine gewisse Aufbruchstimmung verbunden, die kritische Stimmen ermunterte und die Öffentlichkeit für solche Zwischentöne sensibilisierte. Havemann hatte ein feines Gespür dafür, was sein Publikum erwartete, und entsprach in seinen Vorlesungen diesen Erwartungen. Das war in jener Zeit eine Gratwanderung, die kaum gut ausgehen konnte. Die Wirtschaftsreform, mit der SED-Generalsekretär Walter Ulbricht sein politisches Schicksal verbunden hatte, wurde von der orthodoxen Mehrheit des Funktionärskaders der Partei mit äußerstem Misstrauen betrachtet; diese starke Majorität hielt die Gefahren, die aus einer Liberalisierung in der Sphäre der Wirtschaft für die Stabilität des politischen Systems erwachsen könnten, für unkalkulierbar. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Ulbricht seinen Genossen Robert Havemann opferte, um seine innerparteilichen Gegenspieler mit einer Demonstration ”revolutionärer Wachsamkeit“ zu beruhigen.


<h2>Philosophische Interessen</h2>
Aus den 1950er Jahren stammen mannigfache literarische Zeugnisse für die philosophischen Interessen Havemanns. Er äußerte sich zur Genetik, zur Kosmologie, zur Evolutionstheorie und zu anderen Feldern. Am meisten aber beschäftigten ihn die Deutungskontroversen um die Quantenmechanik, die für die Theorie der chemischen Bindung und damit für die umfassende Modernisierung der physikalischen Chemie von zentraler Bedeutung war. Havemann schätzte ganz besonders Linus Pauling und dessen theoretisches Werk. Für die systematische Erneuerung des Chemiestudiums an der Humboldt-Universität um 1960 wurde Paulings ”General Chemistry“5) geradezu zum Leitfaden, und Havemanns Schüler Werner Haberditzl, einer der Initiatoren dieses Erneuerungsprozesses, erhielt später die erste ausdrücklich so ausgewiesene Professur für Theoretische Chemie der DDR. Pauling protestierte in einem Schreiben vom 21. Februar 1966 an den Akademiepräsidenten Werner Hartke gegen Havemanns Maßregelung und setzte sich — freilich vergebens — für die Aufhebung der Repressionsmaßnahmen ein6).
In der Deutung der Quantenmechanik schloss Havemann sich weitgehend der von Niels Bohr und seinem Kreis entwickelten Kopenhagener Interpretation an7). Sein Grundgedanke war, dass Naturgesetze nicht die Ereignisse selbst, sondern nur die Möglichkeit ihres Eintretens bestimmen und dass es daher für jedes konkrete Geschehen stets Alternativen gibt. Daraus zog Havemann Konsequenzen für das Verständnis der Gesellschaft und der menschlichen Freiheit, die aus der Sicht der Parteiideologie der SED unvertretbar waren und die er 1963/64 in seiner Vorlesung erstmalig aussprach. Die Evolution der Gesellschaft erschien nun nicht mehr als Zwangslauf vom Kapitalismus zum Kommunismus, sondern als ein Prozess der Selbstorganisation, der sich durch Unbestimmtheit, Multioptionalität und immanente Risiken auszeichnet. Diese Konsequenz traf das Selbstverständnis der Parteiführung weitaus gravierender, als es jede vordergründig politische Kritik getan hätte.
Havemann hätte klein beigeben können, nachdem ihm die Instrumente gezeigt worden waren. Nach dem Vorlesungsverbot waren ihm durchaus auch goldene Brücken gebaut worden. Er war stark genug, sie nicht zu betreten, und nahm ein Leben in Isolation in Kauf, um sich selbst treu zu bleiben. Im Berliner Ensemble, ganz in der Nähe des Physikalisch-chemischen Instituts, wurde damals mit großem Erfolg Bertolt Brechts Drama ”Leben des Galilei“ gegeben. Viele hat das tragische Schicksal dieses großen Physikers im Zeitalter der Inquisition bewegt. Robert Havemann aber hat nicht widerrufen.
Der Wissenschaftshistoriker Hubert Laitko, Jahrgang 1935, ist Lehrbeauftragter für Geschichte der Naturwissenschaft an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Er studierte Journalistik und Philosophie in Leipzig und war von 1969 bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsgruppen- und Bereichsleiter am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft (ITW) der Akademie der Wissenschaften der DDR, seit 1979 hatte er eine Akademieprofessur. Im Jahr 1994 wurde er Mitglied der Leibniz-Sozietät zu Berlin. Zusammen mit dem Physiker und Physikhistoriker Dieter Hoffmann (heute MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin) gab er im Jahr 1990 den Auswahlband Robert Havemann: Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde. Texte eines Unbequemen heraus.


<h2>— — — Robert Havemann (1910 — 1982)</h2>
Robert Havemann wird 1910 in München geboren und studiert von 1929 bis 1933 in München und Berlin Chemie. Im Jahr 1935 wird er mit einer Arbeit über ”Ideale und reale Eiweißlösungen“ am Krankenhaus Moabit in Berlin zum Dr. phil . promoviert. Ab 1937 ist er Assistent am Pharmakologischen Institut der Berliner Universität.
Als Gegner des Nationalsozialismus stößt er zum kommunistischen Widerstand und ist 1942 Gründungsmitglied und Leiter der Widerstandsgruppe ”Europäische Union“. Im März 1943 habilitiert er sich an der Universität Berlin mit einer Arbeit über ”Methämoglobinverbindungen“, im September des gleichen Jahres verhaftet ihn die Gestapo und im Dezember wird Havemann wegen Hochverrats zum Tod verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils wird jedoch immer wieder aufgeschoben, damit er ”kriegswichtige Forschungen“ betreiben kann — in einem Labor im Gefägnis. 1945 befreit ihn die Rote Armee.
Havemann wird zunächst Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Neukölln und leitet die Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem.
Im Jahr 1946 erhält er eine Professur für Kolloidchemie am physikalisch-chemischen Institut der neu eröffneten Humboldt-Universität. Seine Forschungsgebiete sind die Eiweißforschung, die Photochemie und die Entwicklung physikalisch-chemischer Messgeräte.
Im Jahr 1952 wird Havemann Professor für angewandte physikalische Chemie und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Humboldt-Universität, 1960 gründet er die ”Arbeitsstelle für Photochemie“ an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW).
Havemann engagiert sich politisch für die neugegründete DDR, 1949 wird er als Abgeordneter des Kulturbundes in den dritten deutschen Volkskongress, die spätere Volkskammer, gewählt. In ihr bleibt er bis 1963 bleibt Mitglied. Im Jahr 1951 tritt er der SED bei.
Ab Ende der 50er Jahre beginnt er zunehmend Ansichten zu äußern, die der SED-Parteilinie widersprechen, etwa in seinem Aufsatz ”Meinungsstreit fördert die Wissenschaften“.
Der Weg in die Opposition findet seinen Höhepunkt in der Vorlesungsreihe ”Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ in den Jahren 1963 und 1964. Im März 1964 wird Havemann aus der SED ausgeschlossen, in den folgenden Monaten verliert er seine Arbeitsmöglichkeiten an Universität und DAW.
Bis zu seinem Tod am 9. April 1982 weicht Havemann von seiner Opposition gegen das Regime nicht ab. Als Konsequenz muss er stetige Schikanen dulden, dazu zählen u. a. ein anderthalbjähriger Hausarrest und die Streichung seines Namens aus der offiziellen Liste der antifaschistischen Widerstandskämpfer. (Lebenslauf nach Material der Robert-Havemann-Stiftung: <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.havemann-gesellschaft.de" target="_blank">www.havemann-gesellschaft.de</a></ext-link>)



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<li>
1 


R. Havemann: 
<source>Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung., <publisher-name>Rowohlt</publisher-name>, Rororo-Taschenbuch 683, <publisher-loc>Reinbek b. Hamburg</publisher-loc>, 1964.

</li>
<li>
2 


A. Neubauer, Forschen unterm Fallbeil – Der Überlebenskampf des in der NS-Zeit zum Tode verurteilten Physikochemikers Robert Havemann. Chemie in unserer Zeit 2010, in Vorbereitung.
</li>
<li>
3 


R. Havemann: 
Wie es zu den Vorlesungen kam. In: <source>R. Havemann, Dialektik ohne Dogma? Aufsätze, Dokumente und die vollständige Vorlesungsreihe zu naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme, (Hrsg. <person-group person-group-type="editor">D. Hoffmann</person-group>), <publisher-name>Deutscher Verlag der Wissenschaften</publisher-name>, <publisher-loc>Berlin</publisher-loc>, 1990, S. 256–<lpage>260</lpage>, hier S.258.

</li>
<li>
4 


R. Havemann: 
Hat Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen? In: <source>R. Havemann, Dialektik ohne Dogma? Aufsätze, Dokumente und die vollständige Vorlesungsreihe zu naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme, (Hrsg. <person-group person-group-type="editor">D. Hoffmann</person-group>), <publisher-name>Deutscher Verlag der Wissenschaften</publisher-name>, <publisher-loc>Berlin</publisher-loc>, 1990, S. 45–<lpage>55</lpage>.

</li>
<li>
5 


L. Pauling: 
<source>Chemie, <publisher-name>VCH</publisher-name>, <publisher-loc>Weinheim</publisher-loc>, 1960.

</li>
<li>
6 


L. Pauling: 
Schreiben an W. Hartke vom 21. Februar 1966. In: <source>Die Entlassung. Robert Havemann und die Akademie der Wissenschaften 1965/66. Eine Dokumentation, (Hrsg. <person-group person-group-type="editor">S. Müller, B. Florath</person-group>), Dok. 70. <publisher-name>Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.</publisher-name>, <publisher-loc>Berlin</publisher-loc>, 1996, S. 216–<lpage>217</lpage>.

</li>
<li>
7a 


R. Havemann: 
<article-title>Bemerkungen zur quantenmechanischen Komplementarität</article-title>, 
In: <source>Physikalische Blätter, 
13, 
(1967), 
S. 289–<lpage>296</lpage>.

</li>
<li>
7b 


R. Havemann: 
<article-title>Zur Interpretation der Quantenmechanik</article-title>, 
In: <source>Wissenschaft und Fortschritt, 
8, 
(1958), 
S. 245–<lpage>247</lpage>.

</li>
</ul>

Artikel

Fischer‐Tropsch‐Synthese: Wiederkehr im grünen Gewand

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