Bildung & Gesellschaft

Prof.Dr.Dr.h.c.

Franz Tausend schaffte es, Menschen davon zu überzeugen, dass er Gold herstellen könne. Warum ihm das sogar im 20. Jahrhundert gelang, wer er war und welche Beziehungen er zu Politikern in Deutschland, zu Chemie und Alchemie hatte – ein Überblick.
<h2>Gold – Problem für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg</h2>Im Versailler Vertrag verpflichtete sich Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu Gebietsabtretungen, Abrüstung und Reparationszahlungen an die Siegermächte. Die finanziellen Schulden, die die Alliierten Deutschland anlasteten, betrugen 269 Milliarden Goldmark – etwa 50 000 Tonnen Gold, wie der Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber berechnete – und sollten innerhalb von 42 Jahren bezahlt werden. Mehrere Generationen würden also darunter leiden müssen. So kam es, dass sich auch seriös arbeitende deutsche Wissenschaftler Gedanken machten, wie das Gold aufgebracht werden könnte.Fritz Haber, bekannt für seine Ammoniaksynthese, schlug vor, dass geforderte Gold aus den Weltmeeren zu gewinnen. Um zu überprüfen, ob der Goldgehalt dafür reichte, wurde − finanziert von Degussa und der Frankfurter Metallbank − ein Expeditionsschiff losgeschickt, von dem aus im gesamten Atlantik Wasserproben genommen wurden. Die Analysen von 5000 Wasserproben waren allerdings ernüchternd: Statt der angenommenen 5 bis 10 Milligramm pro Kubikmeter Meerwasser lagen die Goldgehalte zwei bis drei Zehnerpotenzen geringer.Adolf Miethe, Lehrstuhlinhaber für Fotochemie, Fotografie und Spektralanalyse an der Königlich technischen Hochschule zu Berlin in Berlin-Dahlem, wollte mit elektrischem Strom aus Quecksilber Gold machen. Auch diese Versuche schlugen fehl.Und in diese Zeit hinein kam Franz Tausend.<figure><img src="https://media.graphcms.com/jHqinYDBSDGEyTvRPxKs"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Franz Tausend mit Frau und Tochter.2)</figcaption></figure>
<h2>Interessierter Laie</h2>Franz Tausend wurde im Jahr 1884 als fünftes Kind eines Klempners und Wunderheilers in Bayern geboren. Sein Interesse an der Chemie, aber insbesondere an den nicht überwundenen Lehren der Alchemie und der wiederbelebten Okkulten (Geheimen) Chemie, wurde geweckt während einer Drogistenlehre in Hamburg und während des Militärdienstes. In dieser Zeit las er Literatur zu beiden Gebieten und machte Experimente. Er soll sich sogar mit einer Visitenkarte „Dr. Franz Tausend – Chemiker“ empfohlen haben.<figure><img src="https://media.graphcms.com/Td7Zg9aR0mAap81abHfl"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Historische Postkarte. Mittig: das Schloss Tharandt, das Tausend kaufte; rechts: die Tischlerei von Richard Schubert, Vater des Architekten Schubert, den Tausend wegen der Rekonstruktion des Schlosses um Rat bat.</figcaption></figure>
Im Jahr 1913 gründete er in Ludwigshafen die „Wissenschaftliche Geigenprüfstelle“. Dort überzog er gewöhnliche Geigen mit einem Geheimlack, der ihnen den Klang einer Stradivari verleihen sollte. Hierfür bewarb Tausend sich ein Jahr später persönlich für den Nobelpreis – den er allerdings nicht erhielt.Im Jahr 1920 bezog er eine repräsentative Villa in Obermenzing bei München, das Geld dafür hatte er aus dem Verkauf eines Landguts bei Regensburg, das er preiswert erworben und teuer verkauft hatte. Auf diesem Grundstück richtete er sich im Jahr darauf ein Labor ein. Dort entwickelte er Produkte wie „Millelectrol“, das jede Wunde sofort verschließen sollte, und schrieb das Buch „Elemente, deren Atomgewichte und Eingliederung in das harmonisch-periodische System“ als Grundlage der Transmutation der Elemente. Es wurde im Jahr 1922 veröffentlicht. Darin korrigiert Tausend das damals bereits allgemein anerkannte Periodensystem von Dimitri Mendelejev und Lothar Meyer: „Für eine neue Systematik der chemischen Elemente ist daher das System gegenwärtig noch nicht ausreichend durchgebildet“, meint Tausend.<h2>Gold gewinnen, um die völkische Bewegung zu fördern</h2>Im Zentrum von Tausends Experimenten stand die Idee, Gold zu erzeugen. Diese Experimente liefen zum Teil spektakulär ab. So mussten etwa die Teilnehmer und Zuschauer wegen des eingesetzten Cyankaliums Gasmasken anlegen, oft waren die Versuche von Explosionen begleitet, und manchmal durften die am Experiment beteiligten Personen nur Badehosen tragen, um nachzuweisen, dass kein Gold von außen in den Versuchsansatz gelangte.Tausend lernte Rolf Rienhardt kennen, einen 21-jährigen Referendar, der seit 1923 der NSDAP angehörte. Gemeinsam gründeten sie die „Tausend und Rienhardt GmbH zur Verwertung von Erfindungen“. Rienhardts Verlobte, die preußische Gutsbesitzerin von Schillbach, gab ihnen dafür einen Kredit von 90 000 Reichsmark. Ein beträchtlicher Betrag, betrug der Durchschnittslohn im Jahr 1924 doch 128,50 Reichsmark pro Monat. Aber gut investiertes Geld, schließlich konnte Franz Tausend ja Gold herstellen. Rienhardt wandte sich zunächst an den Reichspräsidenten, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, um staatliche Anerkennung und finanzielle Unterstützung zu erhalten. Aber erst General Erich Ludendorff verschaffte ihm das Erhoffte. Ludendorff hatte nur zur Bedingung gemacht, dass der Chemiker Johannes Kummer das Verfahren prüfen müsse. Kummer war, wie sich später herausstellte, ein gescheiterter Dresdener Chemiestudent.Tausend machte Versuche (Kasten auf dieser Seite), bei denen aus 1,5 Kilo Rohprodukt 7 Gramm „Gold“ entstanden – eine Ausbeute von 0,466 Prozent. Mit Ludendorff als Schirmherr fanden sich etliche Investoren, die meist der NSDAP nahe standen. So gab etwa Alfred Mannesmann 500 000 Reichsmark.Im Jahr 1925 gründete Tausend die „Gesellschaft 164“, um den Unternehmungen − insbesondere für die Geldgeber − einen juristischen Namen zu geben. Nach dem Gesellschaftsvertrag sollte Ludendorff drei Viertel der Erträge erhalten und für „vaterländische Zwecke“ verwenden, etwa für den Völkischen Kurier. Es handelte sich also um indirekte Parteispenden.<h2>So stellte Tausend Gold her</h2>Es gab zwei Verfahren, die Tausend sowohl quantitativ als auch vom Ablauf her minutiös beschrieb: das Quecksilber- und das KOH-Verfahren, von denen hier nur das erste vorgestellt wird:Das Quecksilberverfahren beruhte auf Tausends Theorie von der Transmutation der Elemente. Quecksilber mit dem Atomgewicht von 201 minus Helium mit dem Atomgewicht 4 gibt Gold mit dem Atomgewicht 197.Zunächst stellte Tausend zwei Lösungen her:Für Lösung 1, der „Tinktur der Tinkturen“ (Roter Löwe) schmolz er 111 g Bleichlorid mit 60g Kaliumhydroxid und dichtete sie nach dem Erkalten mit einer Schicht Paraffin luftdicht ab.Für Lösung 2 schmolz er 76 g Kalium und 55 g Natrium unter Paraffin, dazu gab er in Portionen 131,44 g Quecksilber. Im weiteren Verlauf werden noch 365 g Quecksilber zugegeben.Für das Experiment werden dann 17,4 g Lösung 1 geschmolzen und 5,4 g Lösung 2 werden in kleinen Portionen hinzugefügt. Nach dem Erhitzen hatten sich dann 5,4 g goldfarbene Klümpchen gebildet.<h2>Der Schwindler fliegt auf</h2>Nachdem sich General Ludendorff aus der Gesellschaft zurückgezogen hatte – Wegener mutmaßt in seinem Buch, Ludendorff habe gefühlt, dass ihn das Unternehmen kompromittiere –,2) gründete Franz Tausend im Jahr 1927 die „Chemische Studiengesellschaft Tausend e. V.“ in Frankfurt am Main. Er verkaufte wertlose Goldgutscheine und errichtete ein Laboratorium in Freiberg. Er besaß Schlösser in Paschbach, Eppau, Tharandt (Kasten S. 756) und eine Villa in München. In der Regel wurden diese Immobilien sofort mit hohen Krediten beliehen.Als Tausend zu der im Jahr 1928 im Berliner Kaiserhof anberaumten Gesellschafterversammlung der „Chemischen Studiengesellschaft Tausend e. V.“ nicht erschien, sahen sich die Anleger um ihre Gelder geprellt. Es wurde ein Konkursverfahren eingeleitet. Tausend flüchtete nach Südtirol, wo ihn die italienischen Behörden verhafteten. Sie überstellten ihn am 4. Juni 1929 nach Bayern. Dort behauptete er nach wie vor, Gold machen zu können. Daraufhin bekam er als Häftling im Münchener Hauptmünzamt die Möglichkeit, sein Experiment vorzuführen. Zum Erstaunen der Zuschauer war im Reaktionsgefäß tatsächlich Gold – allerdings war auch die goldene Feder seines Füllhalters, mit dem er sein Versuchsprotokoll führte, verschwunden.Am 19. Januar 1931 begann im Münchener Justizpalast der Prozess „gegen den Goldmacher des 20. Jahrhunderts“. Bei dem Prozess sagte nur einer der Geldgeber gegen Tausend aus, weshalb der am 5. Februar 1931 zu einer recht milden Haftstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt wurde, wobei ihm die 20 Monate angerechnet wurden, die er in Untersuchungshaft verbracht hatte. Im Februar 1933 wurde er entlassen, wurde aber wegen erneuter Betrügereien fünf Jahre später wieder verhaftet. Franz Tausend starb am 9. Juli 1942 im Landesgefängnis Schwäbisch-Hall.Otto Wienhaus, Jahrgang 1937, war bis zum Jahr 2002 Professor für Pflanzenchemie und Ökotoxikologie an der TU Dresden. Angeregt durch das Terra-X-Filmteam, das in Tharandt zur Ausgabe über Franz Tausend drehte und auch Wienhaus als Chemiehistoriker befragte, beschloss er, die Geschichte dieses Schwindlers für die Nachrichten-Leser zusammenzufassen. Nach Informationen von Atlantis-Film soll der von diesem Unternehmen gedrehte Film über Franz Tausend in der Reihe Terra X am 14. Oktober im ZDF gesendet werden. Der Autor dankt der Hobby-Historikerin Gabriele Meißner aus Dresden für Details über Franz Tausend.<h2>Franz Tausend in Tharandt</h2>Der Besitzer des Tharandter Schlosses, Franz Freiherr von Recum, hatte durch die Inflation sein Vermögen verloren und musste sein Grundstück verkaufen. Es ging zunächst an den Ägypter Nassif Bey Fanous, von dem es Franz Tausend im Jahr 1927 erwarb.2) Tausend hatte bereits vom Sächsischen Staat den Abraham-Schacht in Freiberg gekauft, in dem sich der Bergbau nicht mehr rentiert hatte und der deswegen geschlossen worden war. Tausend wollte die Halden aufbereiten, um über eine Drehtrommel Silber und Gold vom Gestein zu trennen. So war das repräsentative Anwesen in Tharandt eine gute Ergänzung zu Tausends Betriebsanlage in Freiberg.Tausend wollte das Schloss rekonstruieren und wandte sich deshalb an den Architekten Schubert, den Sohn des Tharandter Tischlers Richard Schubert, dessen Geschäft dort war, wo heute der Antikhandel Am Markt 2 ist. Richard Schubert hatte die Verkaufsvollmacht für das Schloss.Der Architekt Schubert hat seine Eindrücke über Franz Tausend niedergeschrieben. Das Dokument hat er meinem Vater übergeben. In der Niederschrift ist zu lesen:„Eines Tages fügte es der Zufall, dass ich diesen Franz Tausend persönlich kennen lernte, als er zu einer Besprechung verschiedener Fragen bei meinem Vater war. Tausend machte auf mich einen sehr bescheidenen Eindruck – er sprach sehr wenig und hatte keineswegs die Manieren eines Hochstaplers oder Angebers. In seiner stillen Art bat er mich, das Schloss zu besichtigen und ein fachmännisches Gutachten für Instandhaltung und Umbau aufzustellen.“Sie fuhren mit seinem alten Ford nach Dresden, um bei der Bank ein Treuhandkonto einzurichten. Für den ersten Bauabschnitt wollte er 40 000 Mark überweisen. Die Zeit verstrich, und es kam kein Geld an. Schubert schreibt dazu: „Auf einen Brief nach München erfolgte keine Antwort. Jetzt wurden wir bedenklich. Die Staatsanwaltschaft München fragte bei der Stadt Tharandt an, ob der Aufenthaltsort Tausends dort bekannt sei. Nun wurde mir klar, dass hinter dem Gesicht und Benehmen eines Biedermanns ein ganz ausgekochter und gerissener Spekulant steckte. Tausend glaubte fest an seine Idee, Gold zu machen. Er bediente sich zur Mitarbeit absichtlich hochgestellter Persönlichkeiten, denn er wusste, dass er von diesen Männern, auch wenn der Plan missglückte, nichts zu fürchten hatte. Denn diese Männer waren an seinen Plänen beteiligt und hätten einen Misserfolg nur zu gern vertuscht, da sie unter keinen Umständen ihre Namen im Zusammenhang mit unlauteren Machenschaften in die Öffentlichkeit gezerrt haben wollten.“Das Tharandter Schloss wurde im Jahr 1932 zwangsversteigert und ging an den Marienberger Hotelbesitzer Schlegel.Es zeugt von erheblicher Selbstüberschätzung und Dreistigkeit, dass Franz Tausend sich in Tharandt und Freiberg mit seinen irrationalen Vorstellungen festsetzen wollte – schließlich wurde an den Hochschulen beider Städten seit Jahrzehnten die exakte und angewandte Chemie in Lehre und Forschung wegweisend betrieben, in Tharandt zum Beispiel durch die Professoren Julius Adolph Stöckhardt, Julius von Schroeder und Johannes Wislicenus.
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 H. Schleff, Der Goldmacher Franz Tausend- der größte Abenteurer der Gegenwart, Jos. C. Hubers Verlag, Diessen vor München, 1929.</li><li>
2 Franz Wegener, Der Alchemist Franz Tausend – Alchemie und Nationalsozialismus, KFVR-Kulturförderung Ruhrgebiete e.V. Gladbeck, 2006, ISBN 3–931300–18–8</li><li>
3 <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Tausend" target="_blank">https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Tausend</a></ext-link></li></ul>

Artikel

Gold machen im 20. Jahrhundert

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Prof.Dr.

Der Physikochemiker Wilhelm Jost befasste sich mit Transportphänomenen in Festkörpern, Thermodynamik an Mischphasen, später mit Kinetik schneller Reaktionen sowie Verbrennungs-, Explosions-, Detonations- und Strömungsvorgängen. Diese Forschung rief die militärischen Stellen des „Dritten Reiches“ auf den Plan.
„In Straßburg gelang es, die notwendige Ordnung herzustellen durch eine klare Scheidung der Luftfahrtforschung Straßburg ... und der Luftfahrtforschungsanstalt München, der das Treib- und Schmierstoffinstitut und das Fort Fransecky zugeteilt bleibt. Die Universität hatte offenbar die Absicht, sämtliche Einrichtungen der Luftfahrt in Straßburg für sich zu schlucken. Dem habe ich einen Riegel vorgeschoben. Professor Jost hat die Leitung des Instituts für Treib- und Schmierstoffe auf eigenen Wunsch niedergelegt und ist damit auch unseren Wünschen entgegengekommen“ Dies schrieb Wehrwirtschaftsführer Walter Georgii von der Reichsstelle „Forschungsführung des Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshabers der Luftwaffe“ am 1. April 1944 dem Göttinger Strömungsforscher Ludwig Prandtl.1) Letzterer war Vorsitzender der Reichsstelle.Was hatte Wilhelm Jost, zu der Zeit mit der Vertretung des Lehrstuhls für Physikalische Chemie an der Universität Marburg betraut, nach Straßburg verschlagen? Was veranlasste ihn, dort die Institutsleitung zu übernehmen und schließlich niederzulegen? In der Literatur2–4) sind keine Antworten zu finden. Lebensläufe und Dienstlaufbahnangaben, die er nach dem Krieg vorlegte, enthalten keine Hinweise auf eine Tätigkeit im besetzten Straßburg.5) Ergiebiger sind Archivalien der Universitäten Leipzig, Marburg und Göttingen sowie der Max-Planck-Gesellschaft.<h2>Lebensstationen und Forschungsintentionen</h2>Wilhelm Friedrich Jost wurde im Jahr 1903 in Friedberg (Hessen) geboren. Der Vater, Wilhelm Jost, war Architekt und Baurat in Bad Nauheim und später in Halle. Das Chemiestudium beendete der Sohn im Jahr 1926 in Halle mit der Promotion bei Carl Tubandt. Die folgenden drei Jahre verbrachte er als Privatassistent bei Max Bodenstein an der Universität Berlin. Die Venia Legendi für das Fach Physikalische Chemie erhielt er 1929 an der TH Hannover.Unterbrochen von einem Aufenthalt als Rockefeller Research-Fellow am Massachusetts Institut of Technology, Cambridge, USA, 1932 bis 1933, war er bis 1936 als Assistent in Hannover tätig. Daran schloss sich ab Oktober 1937 zunächst vertretungsweise, ab 1938 ein planmäßiges Extraordinariat für angewandte physikalische Chemie an der Universität Leipzig an. Schließlich übernahm Jost ab 1943 die Vertretung des Lehrstuhls für Physikalische Chemie an der Universität Marburg. Im Jahr 1944 kam die Ernennung zum ordentlichen Professor. Nach Kriegsende und nach längerer Krankheit wirkte er 1951 an der TH Darmstadt und von 1953 bis 1971 an der Universität Göttingen.In den ersten 20 Jahren nach der Promotion beeinflussten sowohl die Arbeiten seines Doktorvaters Tubandt als auch die Bodensteins Josts Forschungsinteressen stark. Der größere Teil der in dieser Schaffensperiode publizierten Untersuchungen betraf Transportphänomene, also elektrische Leitfähigkeit und Diffusion, in festen Verbindungen. Sein Buch „Diffusion und chemische Reaktion in festen Stoffen“ aus dem Jahr 1937 lieferte ein erstes Resümee dieses Forschungsfelds. Zudem veröffentlichte Jost Arbeiten über den Ablauf von Gasphasenreaktionen mit Halogenen sowie über die quantenmechanische Behandlung chemischer Kräfte.Mitte der dreißiger Jahre rückten Studien über den Mechanismus von Explosionen und Verbrennungen in Gasen in Josts Fokus. Daraus ging im Jahr 1939 schließlich seine stark beachtete Monographie „Explosions- und Verbrennungsvorgänge in Gasen“ hervor.<h2>Hannover, Leipzig, Marburg und Straßburg</h2>Bereits während seiner Tätigkeit in Hannover in den Jahren 1935 und 36 war Jost von Institutsobliegenheiten freigestellt, um für die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt zu forschen.6) Und in der Vorschlagsliste des Leipziger Dekans für die Besetzung des Extraordinariats, in der Wilhelm Jost an erster Stelle stand, wird vermerkt: „Er arbeitet zur Zeit zusammen mit der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt“.6) Nicht lange, nachdem Jost zum 1. April 1938 nach Leipzig berufen worden war, kam die Anfrage, ob es möglich sei, ihn vertretungsweise an die Universität Kiel zu entsenden. In der physikalischen Chemie war dort offenbar eine Vakanz entstanden, nachdem sich die Fakultät des Adepten der „deutschen Chemie“, Karl Lothar Wolf, gen Würzburg hatte entledigen können. Die „deutsche Chemie“ war der Versuch, Theorie und Systematik auf der nationalsozialistischen Ideologie zu begründen.Der Leipziger Dekan lehnte eine Entsendung ab, weil Jost „mit der Durchführung kriegswichtiger Aufgaben im Auftrage des Luftfahrtministeriums und der deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt“ beauftragt sei. Und am 17. Juni 1940 teilte Jost seinem Dekan mit, dass „zurzeit ein Antrag des Rektorats wegen Verlängerung meiner u.k.-Stellung, die auf Veranlassung des Reichs-Luftfahrt-Ministeriums erfolgt war“ laufe (u.k. bedeutete „unabkömmlich“). Wilhelm Jost war also spätestens Anfang 1940 auf dem Radar der nationalsozialistischen Rüstungsforschung. Das war nicht überraschend, da von ihm Publikationen und Tagungsbeiträge zu Themen stammten, die für die Luftfahrtforschung wichtig waren, zum Beispiel: „Verbrennungsvorgänge in Gasen“,7) „Die physikalisch-chemischen Grundlagen der Verbrennung im Motor“,8) „Gasexplosionen“,9) „Untersuchungen über den thermischen Zerfall höherer Kohlenwasserstoffe“10) sowie „Bericht über photographische Untersuchungen von Detonationsvorgängen“.11) So kam es, dass die Reichsstelle „Forschungsführung des Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshabers der Luftwaffe“ Wilhelm Jost für eine Forschungsprofessur an einem Hermann Görings Ministerium unterstellten Forschungsinstitut benannte.12) Bereits im Jahr 1935 hatte das Luftwaffenverwaltungsamt gefordert, solche außeruniversitären Forschungsprofessuren einzurichten; deren Besetzung, Finanzierung, administrative Zuordnung und Befugnisse bildeten bis zum Kriegsende den Gegenstand teilweise heftiger Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsministerium für Luftfahrt sowie dem für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Diese Kontroversen beeinflussten Josts weitere Tätigkeit.Verhandlungen zwischen Jost und der Forschungsführung des Luftfahrtministeriums über die Leitung eines Instituts, das in Straßburg als eine von der Reichsuniversität unabhängige Forschungsanstalt der Luftwaffe angesiedelt werden sollte, wurden im März 1941 aufgenommen. Seine Bereitschaft, die wissenschaftliche Leitung des „Instituts für Treib- und Schmierstoffe“ zu übernehmen, machte Jost von etlichen Zusagen abhängig, insbesondere über die Anstellung von Fachwissenschaftlern. Offenbar waren diese Bedingungen im Sommer 1943 einigermaßen erfüllt, auch weil sich „Prof. Jost selbst der mühevollen Arbeit unterzogen (hat), brauchbare Mitarbeiter für die verschiedenen Arbeitsgebiete zu gewinnen“.13) Zu diesen Mitarbeitern zählten ein Schüler Karl Lothar Wolfs, Helmut Harms, sowie Ulrich von Weber, der bis 1942 in der Jostschen Abteilung in Leipzig arbeitete und nach dem Krieg das Institut für Physikalische Chemie an der Universität Rostock leitete.Zu den Aufgaben des der Luftfahrtforschung Straßburg (LFS) angegliederten Instituts gehörten Untersuchungen über Flammen auf Brennern in Rohrstrecken, über Brennstoffe für Zerstäubungstriebwerke und über den Ablauf von Verbrennungsvorgängen in Brennkammern.14)Im Lauf des Jahres 1943 wurden die Dienstumstände für Wilhelm Jost schwierig: Er musste zwischen Leipzig, Marburg und Straßburg pendeln und hielt in Marburg die Hauptvorlesung.15) Wegen der Mehrfachbelastung, Beschwerden über seine zu geringe Präsenz im Straßburger Institut, Überfrachtung mit organisatorischen Aufgaben sowie seines labilen Gesundheitszustands suchte er mehrfach und nachdrücklich bei der Reichsführung um Entbindung von den Straßburger Aufgaben nach. Überdies hatten die Querelen zwischen den übergeordneten Stellen, Wehrwirtschaftsführung, Reichsführung, Institutskuratorium, Luftfahrtforschungszentrum München, ein für Wilhelm Jost höchst unerfreuliches Maß angenommen.Im Frühjahr 1944, nachdem der BASF-Chemiker Hans Fromherz als neuer Direktor an das Straßburger Institut bestellt worden war, hatte sich das Kapitel Straßburg für Jost erledigt. Am 1. Juli 1944 informierte er den Kurator der Universität Marburg darüber, dass er die Direktoralgeschäfte des physikalisch-chemischen Instituts übernehmen würde.16)Wenig später wurde das Straßburger Institut auch wegen alliierter Luftangriffe in das oberfränkische Schloss Oberlangenstadt (Landkreis Kronach) evakuiert.17)<h2>Nicht mehr als das Unumgängliche</h2>Dass Wilhelm Jost fast ein Jahrzehnt lang Aufträge der Luftfahrtforschung, die sich ja immer klarer zu einer straff organisierten Rüstungsforschung für die Luftwaffe entwickelt hatte, bearbeitete, war in der Nazizeit in allen wissenschaftlich-technischen Bereichen durchaus üblich.18) Die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) ließ dem Forscher und Hochschullehrer oft nur einen „widerstrebenden Konformismus“ (Carl Friedrich von Weizsäcker), wenn er seine Forschungspräferenzen nicht aufgeben und sich mit der Naziherrschaft nicht bedenkenlos gemein machen wollte. Jost war kein Mitglied der NSDAP. Sein Straßburger Engagement, das nach den Unterlagen nicht besonders hingebungsvoll, sondern eher ein abgenötigtes war, lässt sich diesem Verhaltensmuster in der Nazizeit zurechnen.Allerdings bleibt unverständlich, weshalb Wilhelm Jost auch noch lange nach dem Krieg am eigenen Beispiel wenig zur Aufhellung der Forschungspolitik des Dritten Reiches beitragen wollte. Im Nachkriegsdeutschland gab es eine Reihe von Wissenschaftlern, die kanonisiert und deren Biographien retuschiert worden waren.19) Es ist schade, dass sich auch Wilhelm Jost Erinnerungsdefizite gestattete, was seine Mitwirkung an kriegswichtigen Forschungsvorhaben in der Nazizeit betraf. Er hätte es nicht nötig gehabt.Wilhelm Jost verstarb im Jahr 1988 in Göttingen. An ihn erinnern ein Grabmal auf dem von seinem Vater geschaffenen Gertraudenfriedhof in Halle und eine Gedenktafel auf dem Gelände der Bundesanstalt für Materialforschung- und Prüfung in Berlin.Frank Kuschel, Jahrgang 1937, war bis 1992 Professor für physikalische Chemie an der Universität Halle-Wittenberg, später Geschäftsführer des Unternehmens MLS in Leuna und von 2001 bis 2016 Mitarbeiter und Berater der Fraunhofer-Gesellschaft am Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration, Außenstelle für Polymermaterialien und Composite, Teltow. Seine Arbeitsgebiete waren unter anderem Polymer-Flüssigkristallsysteme, Chiralitätsfenster und bistabile Flüssigkristalldisplays. Er ist Autor des Buchs „Mühlpforte Nr. 1 und die Physikalische Chemie an der Universität Halle.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/a0U2QVzSAO8D9frr00AA"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Das Reichsluftfahrtministerium in Berlin. Für das Ministerium unter Hermann Göring führte Wilhelm Jost ab Ende der 1930er Jahre Auftragsforschung durch. <named-content>Foto: Bundesarchiv</named-content></figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/3WIwTJIiRsv00ZEsYh9g"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Gedenktafel auf dem Gelände der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Berlin. <named-content>Foto: Wikipedia, OTFW</named-content></figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/hMzwG7KrQsqNTrn7uMmJ"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Wilhelm Jost Buch über Explosionsvorgäge aus dem Jahr 1939. Seine Forschung galt als kriegswichtig.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/zsH4djSyeguguLDIlY4w"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Wilhelm Jost Mitte der 1960er Jahre.2)</figcaption></figure>

<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. III, Rep. 61, Nr. 2122.</li><li>
2 W. Jaenicke, 100 Jahre Bunsen Gesellschaft. Steinkopff, Darmstadt, 1994, 185.</li><li>
3 E. Bartholomé, H. Witte, „Wilhelm Jost zum 65. Geburtstag“, Ber. Bunsenges. physik. Chem. 1968, 72, 493–494.</li><li>
4 Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751–2001. Wallstein Verlag, Göttingen, 2001.</li><li>
5 Universitätsarchiv Göttingen, Kur. 10580, Bde. 1 und 2.</li><li>
6 Universitätsarchiv Leipzig, PA 610.</li><li>
7 W. Jost, Angew. Chem. 1938, 51, 687–702.</li><li>
8 W. Jost, Angew. Chem. 1939, 52, 650–651.</li><li>
9 W. Jost, Angew. Chem. 1941, 54, 413.</li><li>
10 W. Jost, L. v. Müffling, Angew. Chem. 1941, 54, 415</li><li>
11 W. Jost, Z. angew. Photogr. Wiss. Technik 1941, 3, 30.</li><li>
12 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. III, Rep. 61, Nr. 2126.</li><li>
13 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. III, Rep. 61, Nr. 2191.</li><li>
14 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. III, Rep. 61, Nr. 2178.</li><li>
15 N. G. Elwert, Catalogus professorum academiae Marburgensis , Marburg , 1979.</li><li>
16 Universitätsarchiv Marburg, Bestand 305a, Nr. 3533a, Bl. 31.</li><li>
17 H. Hatt, Deckname Steinbock II. Books on Demand, 2014.</li><li>
18 E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Nikol Verlagsgesellschaft, Hamburg, 2016.</li><li>
19 U. Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. Wiley-VCH, Weinheim, 2001.</li></ul>

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