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Nachrichten aus der Chemie: Sie haben den Meyer-Galow-Preis für Wirtschaftschemie bekommen für Neuentwicklungen bei Flüssigkristallen, die heißen In-plane Switching, Fringe Field Switching und Ultra Bright Fringe Field Switching. Was habe ich als Endkunde davon?
Michael Heckmeier: Flüssigkristalle für Fernsehbildschirme gibt es ja schon länger. Die funktionieren gut mit der In-plane-Switching-Technik, IPS.
Nachrichten: Was macht die?
Heckmeier: Die Moleküle schalten in der Ebene der Glassubstrate. Aber mit der Welle mobiler Geräte …
Nachrichten: … also mit Touchscreens, Smartphones, Tablets …
Heckmeier: … änderten sich die Anforderungen: Nutzer wollten ihr Display plötzlich um 180° oder 90° drehen. Das machen Sie mit dem Fernseher nicht. Es gab neue Anforderungen an die Optik, an die Blickwinkelabhängigkeit. Bei mobilen Geräten ist außerdem die Batterielaufzeit ein Thema, also der Energieverbrauch des Displays. Beim Fernseher ist der nicht ganz so wichtig. Außerdem drücken Sie ja kaum auf Ihren Fernsehbildschirm.
Nachrichten: Wie haben Sie das Problem gelöst?
Heckmeier: Wir mussten mehr Licht durch die Flüssigkristallschicht bekommen. Fringe Field Switching, FFS, war der erste Schritt. Diese Verbesserung basiert im Wesentlichen auf dem Elektrodendesign.
Nachrichten: Also gar nicht auf der Chemie des Flüssigkristalls?
Heckmeier: Erst mal nicht. Im Laufe der Verfeinerung hat sich aber gezeigt, dass neue Chemie, neue Flüssigkristalle diese Transmissionseffekte unterstützen.
Nachrichten: Waren das neue Mischungen an Flüssigkristallen, oder haben Sie ganz neue Einzelsubstanzen entwickelt?
Heckmeier: Beides. Wenn wir neue Anforderungen bekommen, versuchen wir zunächst mit einer neuen Mischung zu antworten. Das geht schneller, als neue Substanzen zu synthetisieren. Und beim Aufskalieren von solchen Produkten können wir auf bestehende Prozesse zurückgreifen. Für neue Einzelsubstanzen müssen wir auch neue Prozesse entwickeln, und das dauert länger.


<h2>Ein großer Schritt</h2>
Nachrichten: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie neue Chemie brauchen?
Heckmeier: FFS haben wir im Jahr 2005 etabliert und bis 2011 weiterentwickelt.
Nachrichten: Und dann entwickelten Sie einen neuen Flüssigkristall?
Heckmeier: Ja, für die UB FFS-Technik, Ultra Bright Fringe Field Switching. Diese Displays lassen 20 Prozent mehr Licht durch als Displays mit FFS-Technik. Das war ein großer Schritt, mit einer neuen Materialplattform, neuen Flüssigkristallen, und die Geräte brauchten andere Elektrodenstrukturen.
Nachrichten: Wie gehen Sie vor, wenn Sie merken, Sie kommen mit einer Technik nicht weiter?
Heckmeier: Der Kunde und wir Entwickler von Merck setzen uns zusammen und erstellen eine Roadmap: Wie viel müssen wir die Transmission erhöhen? In welchem Zeitraum können wir das schaffen? Wenn wir neue Substanzen synthetisieren, müssen wir langfristig wissen, wohin der Kunde will.
Nachrichten: Was heißt langfristig?
Heckmeier: In der Elektronikindustrie, insbesondere bei den mobilen Geräten zwei bis drei Jahre.
Nachrichten: Wie lange dauert es, bis sie eine neue Mischung entwickelt haben?
Heckmeier: Wenn die Substanzen in unseren Landesgesellschaften in Taiwan oder Korea vorrätig sind, reden wir von wenigen Wochen. Dann steht die neue Mischung beim Kunden und geht in seine Testlinien. Es folgt ein permanenter Iterationsprozess bis der Kunde entscheidet, dass die Mischung seinen Vorstellungen entspricht.


<h2>In der Forschung: Misserfolge erlaubt</h2>
Nachrichten: Akzeptiert die Elektronikindustrie Ihre Entwicklungszeiten? 
Heckmeier: Die Kunden hätten es immer gern schneller. Alles andere wäre gelogen. Wir sind aber doch immer eine Nasenlänge schneller als die Konkurrenz.
Nachrichten: Wie können Sie bei den straffen Innovationszyklen in der Elektronikindustrie mithalten?
Heckmeier: Die Forschung läuft immer schon im Hintergrund. Wenn die Entwicklung signalisiert, dass sie mit den bestehenden Substanzen nicht weiterkommt, haben wir im Idealfall schon zwei bis drei Jahre an dem Thema geforscht und bereits etwas in der Schublade.
Nachrichten: Dann endet aber doch ein Teil der Forschungsergebnisse im Papierkorb. 
Heckmeier: Ungefähr die Hälfte der Frühphasenforschung sollte durchkommen und trägt dann finanziell die andere mit.
Nachrichten: Weiß das der Forscher, der an einer Synthese arbeitet? 
Heckmeier: In dem Moment, in dem der Forscher an einem Thema arbeitet, weiß er in der Tat noch nicht, ob sein Ergebnis weiterkommt. Daher ist eine Kultur wichtig, in der auch Dinge schief gehen dürfen, wo viel ausprobiert wird.
Nachrichten: Wie vermitteln Sie den Forschern, dass Misserfolge nicht schlimm sind?
Heckmeier: Wir rotieren zwischen den Entwicklungs- und Forschungsthemen. Also im Idealfall hat jeder einmal zu einem echten Produkt beigetragen. Wir versuchen eben einen Ausgleich zu schaffen. Es gibt auch Möglichkeiten, längerfristige Ansätze und solche forscherischen Arbeiten intern zu würdigen und anzuerkennen, etwa über Preise oder Patente.
Nachrichten: Wer forscht an den Flüssigkristallen?
Heckmeier: Zum einen erst mal Chemiker. Sie entwickeln Synthesen, modellieren, arbeiten mit der akademischen Forschung zusammen.
Nachrichten: Also nah an der Grundlagenforschung.
Heckmeier: Ja, aber wir haben auch in frühen Phasen und bei neuen Materialien immer die Elektronikanwendung im Blick. Dann geht es zu den Physikern, die aus 10 bis 20 Einzelkomponenten Mischungen erstellen und eine erste anwendungstechnische Bewertung vornehmen. Wir haben Displays bei uns im Labor, mit denen wir dann die wesentlichen Teile der Optik und der elektronischen Ansteuerung simulieren können.
Nachrichten: Ein großer Teil des Elektronik-Knowhows muss also hier bei Merck sitzen.
Heckmeier: Und in unserem Forschungszentrum in England. Viele unserer Physiker haben einen Optik- oder Elektronikhintergrund, sie wissen, wie Smartphones und Fernseher funktionieren.
Nachrichten: Wann kommen die Ingenieure ins Spiel?
Heckmeier: Sie machen Langlebigkeits-, Zuverlässigkeits- und Stresstests. Ein Smartphonedisplay muss ja zwei bis drei Jahre halten, auch wenn die Chemie einem permanenten Wechsel des elektrischen Feldes ausgesetzt ist. Bei Fernsehern reden wir von Lebenszeiten von fünf bis acht Jahren.
Nachrichten: Und wenn die Materialien getestet sind …
Heckmeier: … schicken wir diese an unsere Landesgesellschaften in Japan, Korea, Taiwan und China. Dort wiederum läuft die kundenspezifische Produktentwicklung.


<h2>Austausch nach Fernost</h2>
Nachrichten: Wie kommunizieren Sie mit Ihren Landesgesellschaften in Asien?
Heckmeier: Über permanenten Austausch. Koreanische Kollegen beispielsweise kommen für zwei Jahre nach Darmstadt, um diese Welt hier kennen zu lernen und die Denkweise von hier nach Korea mitzunehmen. Es gibt regelmäßig Teammeetings. Ich bin pro Jahr mindestens zehn Mal in Asien direkt bei den Handelsgesellschaften und bei Kunden.
Nachrichten: Verstehen sich alle? 
Heckmeier: Mehr oder weniger. Mein erster Chef hier war Japaner. Ich brauchte die ersten Wochen dazu, herauszufinden, was er eigentlich wollte, was er meinte. Das war für mich eine gute Schule, auch für meine aktuellen Rolle. Aber wichtig ist diese riesige fachliche Basis, darüber hinaus legen wir als globales Unternehmen viel Wert auf kulturellen Austausch.
Nachrichten: Wie?
Heckmeier: Wir haben das Instrument der Kurzzeitentsenddung, ein Experte arbeitet für sechs bis neun Monate in einer Gesellschaft in einem anderen Land. Wir tauschen Fachleute zwischen den asiatischen Ländern aus und auch zwischen England und Darmstadt.
Nachrichten: Welche Rolle hatten Sie bei der Entwicklung der neuen Flüssigkristalle?
Heckmeier: Ich war verantwortlich für die Abstimmung von Kundenanforderungen, Physik und Chemie. Ich musste dafür sorgen, dass die Zeitachsen zusammenpassen, und die verschiedenen Länder und Teams koordinieren. Dazu gehört auch, dass Prozessentwicklung und Lieferkette nahtlos funktionieren.
Nachrichten: Wie hoch ist Ihr Marktanteil?
Heckmeier: Größer als 60 Prozent.
Nachrichten: Gibt es unternehmensintern noch Zweifler am Flüssigkristallgeschäft? 
Heckmeier: In letzter Zeit nicht. Der Umsatzanteil von Performance Materials beträgt 18 Prozent. Es ist mittlerweile umgekehrt, wir haben sehr viel Unterstützung. Wir haben eine Forschungsquote von knapp 10 Prozent vom Umsatz. Das ist für ein Chemiegeschäft einzigartig.
Mit Michael Heckmeier sprach Nachrichten-Redakteurin Frauke Zbikowski.


<h2>DIE PREISTRÄGER: PHYSIKER UND CHEMIKER</h2>
Michael Heckmeier studierte Mathematik und Physik in Freiburg, forschte zwei Jahre am CNRS in Straßburg und promovierte in Konstanz in Physik. Im Jahr 1998 begann er in der Flüssigkristall-Division von Merck seine Karriere. Ab 2010 war er Senior Vice President der Flüssigkristall-Forschung und -Entwicklung. Seit Januar leitet er die Geschäftseinheit Pigmente &amp; Funktionale Materialien.
Harald Hirschmann studierte Physik in Darmstadt und promovierte in Freiburg. Nach Postdoc-Aufenthalten in Bordeaux, Cambridge und Reading startete er im Jahr 1995 seine Karriere bei Merck in der Materialentwicklung. Seit 2005 ist er in der Flüssigkristall-Division Associate Director der physikalischen Forschung.
San-Kyu Lee stammt aus Korea, wo er die Grundschule besuchte. Nach dem Abitur in Halle/Westfalen studierte er Chemie in Bonn und promovierte dort über photoaktive Dendrimere. Im Jahr 2005 begann er bei Merck als Wissenschaftler in der Flüssigkristall-Forschung und -Entwicklung. Nach fünf Jahren in Korea ist er seit 2011 Technical Marketing Manager für Flüssigkristalle.
Roman Maisch studierte Chemie in Würzburg und promovierte dort in metallorganischer Chemie. Bei Merck begann er 1985 in der Division für Pigmente. Seit April 2008 ist er Senior Vice President für Marketing und Sales für Flüssigkristalle.

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“Im Idealfall haben wir bereits etwas in der Schublade”

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