Bildung & Gesellschaft

Jun.-Prof.

<p>Kristallstrukturen anschaulich zu machen, ist ein wichtiges Element von Ausbildung und Forschung in der Festkörperchemie. Strukturen lassen sich mittlerweile mit Software gut simulieren, aber der handwerkliche Bau von Kristallstrukturen bietet Vorteile, die Simulationen nicht leisten können.</p>
<h2>Kristallstrukturen in der Lehre</h2><p>Die universitären Bachelorstudiengänge Chemie vermitteln Kristallstrukturen typischerweise in den Lehrveranstaltungen in allgemeiner und anorganischer Chemie sowie besonders intensiv in Festkörper- und Materialchemie. Auch in Studiengängen wie Materialwissenschaft, Physik und in anderen Curricula sind kristalline Festkörperstrukturen ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung. Kristallstrukturen erlernen die Studenten und lehren die Dozenten dabei im Wesentlichen anhand folgender Darstellungsvarianten:</p><p><list list-type="simple"><list-item></list-item></list></p><p>zweidimensionale Einheitszellendarstellung mit Kugeln oder Koordinationspolyedern in Lehrbüchern,</p><list-item><p>animierte dreidimensionale Darstellungen durch Software, etwa <a href="https://www.chemtube3d.com/solidstate/_table.htm" target="_blank">www.chemtube3d.com/solidstate/_table.htm</a> der Universität Liverpool,</p></list-item><list-item><p>Stabmodelle mit Darstellung der Einheitszelle und Kugeln, üblicherweise aus Metallstäben und Holz oder Kunststoffkugeln. Solche Modelle sind an vielen Standorten Bestandteil der Sammlung zur Vorlesung etc.</p></list-item><p></p><p>Diese Konzepte, Kristallstrukturen zu visualisieren, haben jedoch Defizite. So kommt in der Regel nicht zur Geltung, dass der Großteil der Strukturen, die im Bachelorstudium vorkommen, auf dichten oder annähernd dichten Packungen beruht. Dies trifft nicht nur auf elementare Strukturtypen wie die NaCl-Struktur zu, sondern auch auf komplexe Strukturen wie die Perowskit- und Spinellstruktur (Abbildung 2, Seite 550). Oft werden Kristallstrukturen mit dem Fokus auf die Einheitszelle, also die Periodizität dargestellt. Dabei sind lokale Umgebung und Packung mindestens ebenso bedeutsam für die physikalischen Eigenschaften. Zudem beruht die Struktur einer großen Zahl kristalliner Verbindungen darauf, dass Kationen bestimmte Lücken in solchen Packungen besetzen. Dies ist anhand der üblichen Lernmaterialien nur schwer zu erfassen.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/3HJiUmeETLiU3pTfytUC"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Perowskitstruktur (A) und Spinellstruktur (C) in der Darstellung mit transparenten Kugeln, die Sauerstoff repräsentieren, sowie in einer Darstellung der Einheitszelle (B, D) mit kleinen Kugeln. Die für die Bastelstrukturen A und C verwendeten Farben entsprechenden denjenigen in den Abbildungen B und D. BaTiO<sub>3</sub> (ideale Perowskitstruktur, A und B); transparente/graue Kugeln: Sauerstoff; orangefarbene Kugeln: Balrium; rotbraune, kleine Kugeln: Titan. MgAl<sub>2</sub>O<sub>4</sub> (Spinell, C und D); transparente/graue Kugeln: Sauerstoff; rotbraune Kugeln: Aluminium; rote Kugeln: Magnesium. B und D sind typische Einheitszellendarstellungen dieser Strukturen, wie sie eine Software erzeugt.</figcaption></figure>
<p>Simulationssoftware wie Chemtube 3D und Diamond ist ebenfalls begrenzt in der Darstellungsweise. Es ist aus den Simulationen nicht immer ersichtlich, warum bestimmte Ionen nur an bestimmten Stellen im Kristall sitzen. Je größer die Strukturen werden, desto unübersichtlicher wird auch das simulierte Modell. Die Simulationen erfordern zudem ein hohes Maß an räumlichem Vorstellungsvermögen – genauso wie viele der Abbildungen in Lehrbüchern.</p><p>Nach unserer Erfahrung fällt es Studierenden daher generell schwer, die Besonderheiten einer Kristallstruktur und ihrer Relevanz zu erfassen, wenn sich die visuelle Repräsentation auf die üblichen Hilfsmittel beschränkt. An diesem Punkt setzt ein Konzept an, das im Rahmen von Staatsexamensarbeiten und für die Veranstaltung „Materialwissenschaft III“ im Bachelorstudiengang Materialwissenschaft an der Universität Gießen erarbeitet wurde.</p><h2>Strukturchemie im Bachelorstudiengang Materialwissenschaft</h2><p>Das Modul „Materialwissenschaft III“ findet im fünften Fachsemester des Bachelorstudiengangs statt und lehrt Festkörperstrukturen und Strukturanalytik, insbesondere Röntgenbeugung. Daher eignet es sich ideal, um neue Herangehensweisen zu erarbeiten und zu testen, die das Verständnis in der Festkörperchemie fördern sollen.</p><p>Um den Verstehensprozess der Studierenden bei der Arbeit mit den Kristallstrukturmodellen zu unterstützen, haben wir nach Möglichkeiten gesucht, den Studierenden den Aufbau von Kristallstrukturen erfahrbar zu machen. Die wichtigsten Fragen dabei sind: Wie dicht sind Kugelpackungen? Wieso kommen bestimmte Koordinationszahlen zustande? In welche Kristalllücken passen welche Kationen? Sie lassen sich besonders anschaulich mit transparenten Kugelpackungen beantworten. So können die Studierenden in das Modell hineinschauen, und die Anordnung der Ionen und Atome wird sichtbar und begreifbar. Transparente farbige Kugeln können bestimmte Bereiche hervorheben, etwa die Einheitszelle oder Tetraeder- und Oktaederlücken. Im Bauprozess an sich wird deutlich, warum sich Ionen und Schichten in der jeweiligen Reihenfolge anordnen, warum die Position eines Kations im Kristall nicht willkürlich ist und wie dicht bestimmte Strukturen gepackt sind.</p><p>Im Modul „Materialwissenschaft III“ erarbeiteten sich die Studierenden in der neu gestalteten Lerneinheit arbeitsteilig unterschiedliche Kristallstrukturen und präsentierten ihre Modelle. Abbildung 2 zeigt zwei Beispiele: die Perowskit- und die Spinellstruktur mit transparenten Kugeln als Sauerstoffatome. Den Strukturen sind jeweils typische softwarebasierte Darstellungen gegenübergestellt, welche die Einheitszelle betonen und relativ kleine Kugeln verwenden, um übersichtlich zu bleiben.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/1WUuFoFQgmZLLmtkxtT7"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Studierende des Bachelorstudiengangs Materialwissenschaft beim Bau einer Kristallstruktur aus durchsichtigen Kunststoffkugeln. <named-content>Foto: Universität Gießen</named-content></figcaption></figure>
<h2>Empirische Untersuchung des Moduls</h2><p>Die Neugestaltung des Moduls „Materialwissenschaft III“ begleiten Fachdidaktik und physikalische Chemie gemeinsam. Um nicht nur Lerneinheiten zu entwickeln, sondern auch das Lernen und den Verstehensprozess der Studierenden in diesem Themenbereich zu untersuchen, haben wir uns für den Ansatz der fachdidaktischen Entwicklungsforschung entschieden.<sup>1)</sup> Dabei werden die Lerneinheiten in mehreren Durchgängen iterativ weiterentwickelt, und der Lernprozess empirisch mit unterschiedlichen Methoden evaluiert.</p><p>Aufgrund der kleinen Stichprobe – 20 Studierende nahmen daran teil – haben wir uns für die qualitative Videografie der Gruppenarbeitsphasen entschieden. Aktuell werten wir den ersten Durchgang des Moduls aus. Diese zyklische Vorgehensweise bietet gerade bei der Zusammenarbeit von Didaktik und Fachdisziplin die Möglichkeit, sowohl auf Forschungsebene Erkenntnisse zum Lernprozess zu gewinnen als auch auf der Entwicklungsebene das Modul weiter zu entwickeln.</p><p>Nach der bisherigen Evaluation des Pilotdurchgangs in Form eines Pre-Post-Fachwissenstests, mit Feedbackbögen und Videografie der Arbeitsprozesse haben die Studierenden den Bau der Strukturen positiv aufgenommen und ihr Strukturverständnis verbessert.</p><table-wrap>

<label>Table 1</label><h2>Kosten für den Bau der Kristallstruktur von NaCl.</h2><img src="https://media.graphcms.com/RGxBimfT288gTqwvxEcw">

</table-wrap><h2>Ausblick: Von der Hochschule in die Schule</h2><p>Basierend auf der aktuellen Erhebung werden in einem zweiten Durchgang die Lerneinheiten optimiert, um dieses Modul in den kommenden Semestern weiter anzupassen. Die bisherigen Ergebnisse sprechen dafür, dass sich auch Studierenden zentrale Erkenntnisse zu Festkörperstrukturen besser und dauerhafter erschließen, indem sie Kristallmodelle selbst bauen.</p><p>Um diese anschauliche Herangehensweise nicht nur an der Hochschule zu etablieren, sondern sie auch für den Schulalltag nutzbar zu machen, planen wir zum Thema „Kristallstrukturen erfahren“ eine Lehrerfortbildung. Hier sollen verstärkt der Umgang mit Modellen und die Modellkritik in den Vordergrund treten.</p><h2>Die Autoren</h2><p>Nicole Graulich, Jahrgang 1982, studierte Chemie und Französisch für das Lehramt an Gymnasien und promovierte im Jahr 2011 in organischer Chemie an der Universität Gießen. Nach dem Referendariat und einem Postdoc-Aufenthalt an der Clemson University, South Carolina, USA, ist sie seit Oktober 2014 Juniorprofessorin für Chemiedidaktik in Gießen. Ihr Forschungsfokus liegt auf der Hochschuldidaktik und der Aufklärung der Verständnisprozesse von Studierenden der Chemie. <a href="mailto:Nicole.Graulich@didaktik.chemie.uni-giessen.de">Nicole.Graulich@didaktik.chemie.uni-giessen.de</a></p><div><img src="https://media.graphcms.com/9XTa4LFQJmjuN3M9IKLK">

</div><p></p><p>Bernd M. Smarsly studierte Chemie im Diplomstudiengang sowie Chemie, Mathematik und Physik an der Universität Marburg für das Lehramt an Gymnasien und legte das erste Staatsexamen ab. Im Jahr 2001 promovierte er am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam-Golm (MPI KGF), Thema war die Charakterisierung poröser Materialien. Danach arbeitete er für zirka eineinhalb Jahre als Postdoc an der University of New Mexico, USA, und von 2003 bis 2007 als Projektleiter am MPI KGF. Seit Ende 2007 ist Bernd Smarsly Professor für physikalische Chemie an der Universität Gießen, wo er auch Lehrveranstaltungen in Festkörper- und Materialchemie durchführt. <a href="mailto:Bernd.Smarsly@phys.chemie.uni-giessen.de">Bernd.Smarsly@phys.chemie.uni-giessen.de</a></p><div><img src="https://media.graphcms.com/9AQMqsDQfWM1EVkLOn6s">

</div><p></p><p>Kevin Reuter, Jahrgang 1992, studiert an der Universität Gießen Chemie und Physik für das Lehramt an Gymnasien. In seiner Staatsexamensarbeit hat er sich mit der Entwicklung und Durchführung der Lerneinheit zum Bau der Kristallstrukturen befasst.</p><div><img src="https://media.graphcms.com/Tup37lK2RH6cdS97YD9I">

</div><p></p><h2>Quergelesen</h2><p>Die Darstellungsweisen von Kristallstrukturen im Studium vernachlässigen die dichten Packungen und konzentrieren sich auf die Periodizität.</p><p>In einem Modul der Universität Gießen bauen Studenten Modelle aus durchsichtigen Kunststoffkugeln. So können sie besser Schichtung, Koordinationszahlen und Lücken im Gitter erkennen und Strukturen verstehen.</p>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
<sup>1 </sup>S. Prediger, M. Link, „Fachdidaktische Entwicklungsforschung – Ein lernprozessfokussierendes Forschungsprogramm mit Verschränkung fachdidaktischer Arbeitsbereiche“, in H. Bayrhuber, U. Harms, B. Muszynski, et al. (Hrsg.), Formate Fachdidaktischer Forschung. Empirische Projekte – historische Analysen – theoretische Grundlegungen. Fachdidaktische Forschungen, Band 2. Waxmann, Münster, 2012, 29–46.</li></ul>


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Kristallstrukturen basteln – nicht nur in der Schule

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<p>Auf dem Wissenschaftsforum in Dresden sprachen die Nachrichten aus der Chemie mit Barry Sharpless. Es wurde ein Gespräch bis an die Grenzen der Wissenschaft – und vielleicht auch darüber hinaus.</p>
<p>Was Barry Sharpless als Wissenschaftler ausmacht, ist die rastlose Suche nach Wahrheit, das unbedingte Verstehenwollen, was die Welt zusammenhält. Über die Wissenschaft hinaus bekannt wurde er im Jahr 2001 durch den Nobelpreis für Chemie für seine Arbeiten zu stereoselektiven Oxidationsreaktionen. Chemikern sind die nach ihm benannten Reaktionen – Sharpless-Epoxidierung, -Dihydroxylierung und -Aminohydroxylierung – ein Begriff. Seit dem Jahr 1990 hat Barry Sharpless, Jahrgang 1941, die W.-M.-Keck-Professur am Scripps Research Institute in La Jolla, USA, inne. Er promovierte im Jahr 1968 an der Stanford University, 1969 wechselte er nach Harvard. Bevor er ans Scripps ging, war er Professor am Massachusetts Institute of Technology sowie an der Stanford University.</p><div><img src="https://media.graphcms.com/sgpiLHTbTsWaLNpiZTCg">

</div><p></p><p>Wir treffen uns mit Barry Sharpless am Ufer der Elbe in Dresden. Am Tag zuvor hat er auf dem GDCh-Wissenschaftsforum die August-Wilhelm-von-Hofmann-Vorlesung gehalten. Die Entscheidung der GDCh, ihn ausgerechnet mit einer Vorlesung zu ehren, sorgte für hochgezogene Augenbrauen. Denn der Mann, der als einer der einflussreichsten und originellsten organischen Chemiker der Welt gilt, tut sich schwer mit dem Vortragen. Sharpless erntet zwar den ersten Lacher, als er seinem Vortrag vorausschickt: „Meine Frau sagt immer, Barry, rede nicht soviel“, doch schnell wird klar, dass die Warnung keine Koketterie war.</p><p>Und so steht dann eine brillante neue Reaktion neben einem Exkurs über den Hund eines Postdocs, stehen Details zu Syntheserouten neben ausschweifenden Erzählungen über Sinn und Ziel der Wissenschaft. „Typisch Barry“, sagt nachher ein Zuhörer, der vor Jahren als Postdoktorand in Sharpless‘ Gruppe forschte, „ihm im Vortrag zu folgen, ist nicht leicht, er kommt vom Hundertstel ins Tausendstel und schweift häufig zu völlig anderen Dingen ab. Und das heute war sogar einer der besten Vorträge, die ich von ihm gehört habe.“</p><h2>Die Natur verstehen wollen</h2><p>Und so stehen wir ihm am nächsten Morgen gegenüber und schnell macht Barry Sharpless deutlich, dass Small-Talk mit ihm nicht zu haben ist: „Ich möchte in der Diskussion die Leute provozieren, bis zu dem Punkt, an dem sie mir widersprechen und mich anschreien. Wenn du immer nur höflich bist und niemandem auf die Füße trittst, bekommst du auf dieser Welt kein ordentliches Feedback!“</p><p>Widersprechen und anschreien? Das hatten wir eigentlich nicht vor, aber wenn er denn will. Also: Sharpless gilt als Kandidat für einen zweiten Nobelpreis – für das Konzept der Klick-Chemie. Aber ist Klick-Chemie nicht neuer Wein in alten Schläuchen? Bereits vorhandene Reaktionen erweitern und unter einem neuen Namen verpacken? „Klar“, meint er, „ich habe auch schon Klick-Chemie gemacht, bevor es den Namen gab.“ Klick-Chemie heißt für Sharpless, den einfachsten Weg zu suchen. Das sei früher, also vor 50 bis 100 Jahren, unter Chemikern weit verbreitet gewesen, für ihn waren das schon Klick-Chemiker. Mit der Zeit wollte man es dann immer komplizierter machen. Aber in Wahrheit sei es so: „Wir glauben vielleicht zu verstehen, was auf molekularer Ebene abläuft, aber wir haben keine echte Kommunikationsmöglichkeit mit einem Molekül.“</p><p>Na und, meinen wir, wo liegt das Problem? Sharpless gibt ein Beispiel: „Wir haben keine Möglichkeit, unser eigenes Gehirn beim Arbeiten zu beobachten. Ein Lidschlag dauert etwa eine Drittelsekunde, die elektronischen Signale aus dem Gehirn nicht mal eine Femtosekunde.“ Umgerechnet auf unsere für die menschliche Sichtweise normalen Zeiteinheiten würde aus Sicht der Synapse ein Blinzeln zwei Jahre dauern. Das sei das Problem, wenn wir molekulare Zusammenhänge begreifen wollen, nämlich dass die Zeitskalen inkompatibel sind. Oder, wie Sharpless es ausdrückt: „Wir können nicht schlauer als das System sein, in das wir eingebunden sind.“</p><p>Das größte Problem für Wissenschaftler beginnt laut Sharpless dann, wenn sie an irgendetwas zu sehr hängen. Wenn sie damit zufrieden sind, was sie erreicht haben, „große Tiere“ geworden sind und ganz besonders dann, wenn sie anfangen, ihre Lieblingstheorien zu verhätscheln. „Wenn das passiert, bist du als Wissenschaftler mausetot.“ Das klingt brutal, wenden wir ein. So sei es nun mal, meint Sharpless: „Es ist eine Folge aus dem, was ich vorhin erklärt habe. Wir verstehen die Natur nicht, alle unsere Vorstellungen sind mehr oder weniger falsch. Nur wenn du in der Lage bist, alles grundsätzlich in Frage zu stellen und nichts als gegeben hinzunehmen, wirst du manchmal etwas Grundlegendes herausfinden und vielleicht sogar verstehen.“</p><h2>Lieblingsreaktion?</h2><p>Etwas Grundlegendes herauszufinden ist Barry Sharpless mehrmals gelungen. Eine Lieblingsreaktion hat er nicht. Er mag alle Reaktionen, die seine Neugier stillen, wie ein Reaktionsmechanismus funktioniert. Aber gibt es nicht doch vielleicht eine spezielle Reaktion, eine die ihm besonders viel Freude bereitet hat? „Ja, die Aufklärung der allylischen Oxidation von Olefinen mit Selendioxid Anfang der 1970er-Jahre.“ Das Geheimnis bestand darin, die Doppelbindung in einer konzertierten Reaktion hin und wieder zurückreagieren zu lassen. Das hinbekommen zu haben, machte ihn auch persönlich stolz: „Jemand wie E. J. Corey, ein Chemiker vor dem ich ungeheuren Respekt habe, hat es nicht hingekriegt und ein paar andere Chemiker, vor denen ich nicht so großen Respekt hatte, auch nicht.“</p><h2>Damals und heute</h2><p>Einiges nimmt Barry Sharpless heute anders wahr, als zu Beginn seiner Karriere. Ihm fallen vor allem die Veränderungen im Wissenschaftssystem auf. Er ist froh, dass er in der Sputnik-Ära seinen Start als Wissenschaftler hatte. Als Folge der Angst der USA, dass die Sowjetunion sie technisch überholen könnte, schwamm das US-amerikanische Wissenschaftssystem damals geradezu im Geld. Für seine ersten drei Jahre am MIT musste er nicht einmal einen Antrag schreiben. „Kannst du dir das vorstellen?“ fragt Sharpless. Doch vielleicht sei gerade dies das Gute gewesen – „heute musst du ständig Anträge schreiben, organisieren und dich um die Finanzierung kümmern.“</p><p>Das hält er für das Hauptproblem der heutigen Wissenschaft, denn dies habe überhaupt keinen Bezug zu all den uns umgebenden seltsamen Phänomenen und Fragen, die ein Forscher eigentlich adressieren solte. Kreativität sei das Wichtigste: „Meine Frau ermahnt mich immer, meine Zeit nicht mit Menschen zu verschwenden, die nicht kreativ sind. Sie hat Recht: Wer nicht selbst kreativ ist, kann nicht verstehen, was Kreativität heißt.“</p><p>Mit Barry Sharpless sprach Nachrichten-Redakteur Christian Remenyi. Mehr von Barry Sharpless im Video auf <a href="https://ChemistryViews.org" target="_blank">ChemistryViews.org</a>: <ext-link ext-link-type="uri"><a href="http://goo.gl/pIQzey" target="_blank">http://goo.gl/pIQzey</a></ext-link></p><figure><img src="https://media.graphcms.com/mhvOZHmXTtu1lQLHkXXA"><figcaption><label>Abb. 1: </label>„Ich bin immer auf der Suche.“ Barry Sharpless im Gespräch mit den Nachrichten aus der Chemie über das, was ihn antreibt. <named-content>Fotos: Vera Köster</named-content></figcaption></figure>


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