Bildung & Gesellschaft

In der Veröffentlichung klingt alles so einfach – wer versucht, die Ergebnisse im eigenen Labor nachzuvollziehen, verzweifelt aber häufig. Unreproduzierbarkeit gehört für viele Chemiker zum Alltag. Die Wissenschaftswelt sucht nach Lösungen.
Nicht reproduzierbar heißt nicht unbedingt falsch. Es gibt viele Gründe, warum Experimente in dem einen Labor fabelhafte Resultate liefern, in einem anderen Labor aber scheitern.In seltenen Fällen mag jemand beim Zusammenfassen der Daten geschlampt haben oder entscheidende Reaktionsbedingungen unter den Tisch fallen lassen, um es den Konkurrenten schwer zu machen. Meistens aber resultiert Unreproduzierbarkeit nicht aus Betrug oder Schlamperei, da ist Annette Schmidtmann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sicher: „Gerade wenn lebende Systeme im Spiel sind, haben viele unbekannte Faktoren einen Einfluss auf den Ausgang des Experiments – das kann sogar das Spülmittel sein, mit dem die Pipetten gespült sind.“ Zellen, die schon lange in Kultur sind, veränderten sich zudem über die Zeit genetisch. „Die Zelllinie im Labor in Australien ist nach zehn Jahren nicht mehr die gleiche wie die in Bonn.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/GXZQUMq7RS3dZP09LU6F"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Annette Schmidtmann <named-content>Foto: DFG/Unterstell</named-content></figcaption></figure>
Aber es müssen gar nicht lebenswissenschaftliche Experimente sein, die sich trotz aller Anstrengung nicht reproduzieren lassen – Chemiker, die Kristalle züchten oder eine organische Verbindung synthetisieren, kennen das Problem auch. Schuld sind beispielsweise unterschiedliche klimatische Bedingungen oder andere Laborgeräte.<h2>Gang und gäbe</h2>Über 70 Prozent aller Wissenschaftler sind schon mal daran gescheitert, das Experiment eines anderen zu reproduzieren; über die Hälfte der Forscher hatte sogar Schwierigkeiten, bei eigenen Versuchen in der Wiederholung die gleichen Ergebnissen zu erzielen. Das ergab eine Umfrage der Zeitschrift Nature in diesem Jahr.1) 1576 Wissenschaftler aus aller Welt hatten daran teilgenommen.Am wenigsten erfolgreich im Nachkochen waren die Chemiker: Beinahe 90 Prozent von ihnen gaben an, dass sie die Ergebnisse anderer Forscher schon mal nicht reproduzieren konnten; bei den Biologen waren es etwa 80 Prozent, bei den Physikern und Ingenieuren weniger als 70 Prozent. Trotz allem, das ergab die Umfrage, haben neben Physikern die Chemiker das größte Vertrauen in die Richtigkeit der wissenschaftlichen Literatur.<h2>Ein Problem in der Medikamentenentwicklung</h2>Anfang dieses Jahres heizte das US-Biotechnologieunternehmen Amgen die Diskussion um unreproduzierbare Ergebnisse an: Es machte seine eigenen Daten öffentlich – eher ungewöhnlich für ein Industrieunternehmen. Amgen-Forscher hatten versucht, Ergebnisse aus drei Veröffentlichungen zu reproduzieren, die in hochrangigen Journalen erschienen waren – und waren gescheitert.2) Einem dieser Paper zufolge spielte das Gen GPR21 bei Mäusen eine wichtige Rolle in der Regulierung des Körpergewichts und des Glukosestoffwechsels – „in unseren Versuchen, diese Ergebnisse zu reproduzieren, sahen wir diesen Effekt allerdings nicht“, schreiben Jinghong Wang und Kollegen von Amgen.3) Bereits im Jahr 2012 hatte das Unternehmen darauf hingewiesen, dass es ihnen unmöglich war, 47 von 53 grundlegenden Publikationen aus der Krebsforschung im eigenen Labor nachzuvollziehen.4)Amgen ist nicht das einzige Unternehmen, das regelmäßig auf solche Schwierigkeiten stößt. Im Jahr 2011 schrieben Forscher von Bayer Healthcare in Nature Reviews Drug Discovery, dass bei fast zwei Dritteln aller Projekte, die sie bei einer firmeninternen Studie unter die Lupe genommen hatten, die eigenen Ergebnisse mit denen in der Literatur nicht übereinstimmten.5) In allen Projekten ging es um neue Targets für die Medikamentenentwicklung. Die Diskrepanz habe in den meisten Fällen dazu geführt, dass das Projekt beendet wurde. „Wir melden hier keinen Betrug, sondern ein Mangel an Reproduzierbarkeit“, betonen die Autoren. Solche Probleme erschwerten die Medikamentenentwicklung und seien vermutlich mit dafür verantwortlich, dass über 80 Prozent der klinischen Studien in Phase II scheitern. „Literaturangaben über potenzielle Drug Targets sollten mit Vorsicht betrachtet werden“, schreiben die Bayer-Forscher. Pharmaunternehmen sollten in jedem Fall publizierte Daten verifizieren, bevor sie größere Investitionen tätigen.<h2>Universität oder Industrie</h2>Besser reproduzierbar als Ergebnisse aus universitären Labors seien Studien, die in anderen Industrielabors durchgeführt worden seien, sagt Jochen Maas, Geschäftsführer der Abteilung Forschung und Entwicklung von Sanofi in Deutschland und Leiter des German R&amp;D Hub. „In der Industrie sind die Regularien, wie Studien durchzuführen sind, viel strikter als an Universitäten.“ Aber selbst von einem Industrielabor ins andere seien Ergebnisse nicht immer zu 100 Prozent wiederholbar. „Mit Nichtreproduzierbarkeit muss man leben können“, sagt er. Falsch sei es, Versuche von Anfang an zu überstandardisieren, „dann würde man die Flexibilität verlieren.“ Gerade diese Flexibilität, die es an Unis gibt, sei aber wichtig – etwa, um neue Targets zu finden. „Hundertprozentige Reproduzierbarkeit halte ich für illusorisch und außerdem nicht für optimal“, fasst er zusammen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/bNTKnNoATR2TJekxubqv"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Jochen Maas <named-content>Beide Fotos: Sanofi</named-content></figcaption></figure>
<h2>Neue Diskussionsplattform</h2>Veröffentlicht hat Amgen seine Daten bei Preclinical Reproducibility and Robustness, einer neu eingerichteten Plattform, die sich ausschließlich Reproduzierbarkeitsproblemen widmet.6) Sie ist ein Submagazin des Online-Journals F1000Research, bei dem das Peer-Review-Verfahren erst beginnt, wenn ein Paper online geht. Andere Wissenschaftler können das Paper dann lesen, bewerten und sich mit ihrem Namen öffentlich als Gutachter eintragen.Biochemiker Bruce Alberts von der University of California in San Francisco, der die neue Plattform betreut, hatte auf einem Workshop von Amgens Reproduzierbarkeitsproblemen erfahren, erzählt er. Er ermunterte Sasha Kamb, Entwicklungsleiter bei Amgen, Amgens Daten auf Preclinical Reproducibility and Robustness zu veröffentlichen. Er wünscht sich, dass das auch andere Unternehmen motiviert, ihre erfolglosen Reproduzierbarkeitsversuche zu publizieren. „Wir hoffen, dass das die Medikamentenentwicklung voranbringt.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/Cn8p1JS5qvzHZIAnawvz"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Bruce Alberts <named-content>Foto: Christopher Reiger</named-content></figcaption></figure>
<h2>„Selbstkorrektur ist wichtig“</h2>Mit der neuen Plattform wolle man „der Wahrheit in der Wissenschaft ein Stück näher kommen“, sagt Alberts: „Selbstkorrektur ist wichtig für die Forschung.“ Vieles, was einmal veröffentlicht ist, werde nie wieder korrigiert – auch wenn es inzwischen überholt sei, bemängelt er. Auch das führe dazu, dass viele Forscher erfolglos versuchen, Literaturergebnisse zu reproduzieren. Das solle sich in Zukunft ändern. „Wenn Paper in der Meta-Datenbank PubMed erscheinen, sollen Benutzer auch die Folgepaper sehen, die sagen, dass die beschriebenen Ergebnisse nicht korrekt sind“, erklärt er. Diese Folgepaper, die sich auf die Originalveröffentlichung beziehen, sind dann beispielsweise bei Preclinical Reproducibility and Robustness erschienen.Der Nature-Umfrage nach haben 24 Prozent aller Befragten schon mal die erfolgreiche Wiederholung eines Experiments veröffentlicht. Nur 13 Prozent haben schon mal publiziert, dass ein Reproduktionsversuch erfolglos war.<h2>Klappt nicht? Veröffentlichen!</h2>Keine unreproduzierbaren Ergebnisse, sondern Null- und Negativresultate veröffentlicht seit Herbst 2010 das Journal of Unsolved Questions (Junq), das Doktoranden der Graduiertenschule „Materials Science in Mainz“ gegründet haben. Es erscheint zweimal im Jahr.In Junq veröffentlichen Universitätsforscher aller Fachrichtungen. Auch Hobbyforscher reichen Manuskripte ein, erzählt Co-Chefredakteur Philipp Heller, Doktorand am Institut für Organische Chemie an der Universität Mainz. „Wir erhalten pro Jahr etwa zwei bis drei Manuskripte, die als vollwertige Artikel inklusive Peer-Review-Prozess gedacht sind“, sagt er. Manuskripte von Industrieunternehmen gingen keine ein.„Wissenschaft und Forschung basieren darauf, aus Negativresultaten zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen“, erläutert Heller die Idee hinter Junq. „Wir lernen aus dem Scheitern – erst das führt zu Fortschritt in der Wissenschaft.“ So ließe sich auch verhindern, dass andere sich unnötig Arbeit machen, etwa bei einer organischen Syntheseroute, die nicht funktioniert.Dass trotzdem relativ wenige Manuskripte eingehen, liege sicher daran, dass sich der Zeitaufwand für die meisten Wissenschaftler nach wie vor nicht lohne. „Es mangelt an Anerkennung: Negativresultate sind nicht so geschätzt wie positive Ergebnisse.“Jochen Maas sagt, dass Sanofi keine Nullergebnisse veröffentliche: „Wir stehen unter enormem Zeitdruck. Daher machen wir lieber das nächste Experiment, statt eine Publikation darüber zu schreiben, dass der letzte Versuch nicht geklappt hat.“<h2>Von Anfang an zusammenarbeiten</h2>Sanofi hat einen Weg gefunden, dem langatmigen Verifizieren von Ergebnissen aus anderen Labors zu entgehen: Wenn sie eine interessante Publikation finden, probieren sie nicht erst allein, die Ergebnisse zu reproduzieren, sondern holen sich direkt die Autoren dazu. „Studien mit externen Partnern führen wir, wenn möglich, direkt von Anfang an zusammen an einer Laborbank durch“, erzählt Maas. Und Thorsten Naumann, Chemiker und Leiter des German Hub Management Office bei Sanofi ergänzt: „Wenn wir beim Nachkochen eines Papers dessen Ergebnisse nicht reproduzieren können, wenden wir uns oft direkt an die Autoren. Im persönlichen Gespräch lässt sich vieles aufklären.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/eRwpvspTReePy6srCF0j"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Thorsten Naumann</figcaption></figure>
<h2>Mehr miteinander sprechen</h2>Häufig entscheide die exakte Handhabung eines Experiments darüber, was am Ende herauskommt, sagt Naumann. Er hat so einen Fall selbst erlebt: Im Versuchsprotokoll stand „Messung bei Raumtemperatur“ – „der eine hat die Platte mit den Testsubstanzen aus dem Kühlschrank genommen und direkt bei Raumtemperatur gemessen, der andere hat die Platte aber erst auf Raumtemperatur anwärmen lassen.“Ein Weg zu mehr Reproduzierbarkeit sei es, generell die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern zu verbessern, glaubt Maas – und die Originalautoren einfach mal zu kontaktieren, wenn man andere Ergebnisse als die publizierten erhält. „Man darf nicht denken, dass der andere einen dann für begriffsstutzig hält.“Trotzdem: In der Nature-Umfrage gaben weniger als 20 Prozent der Wissenschaftler an, schon mal von einem anderen Forscher kontaktiert worden zu sein, weil der Schwierigkeiten beim Reproduzieren hatte. Auch Amgen war eigenen Aussagen zufolge nicht mit den Originalautoren der GPR21-Studie in Kontakt getreten, als sie deren Versuche im eigenen Labor wiederholten.<h2>Hoher Publikationsdruck, unreife Daten</h2>Bei der Finanzierung von Forschungsarbeiten ist derzeit die Originalität eines Experiments ein wichtiger Faktor, sagt Annette Schmidtmann von der DFG. Hier sei ein Kulturwandel vonnöten: „Auch die Wiederholung einer wissenschaftlichen Arbeit muss finanzierbar sein.“Beim Publizieren müsse Qualität wieder wichtiger sein als Quantität: „Es gibt für Wissenschaftler heutzutage einen zu großen Zwang, veröffentlichen zu müssen“, sagt sie, „sei es, damit die befristete Stelle verlängert wird oder um die nötigen Drittmittel zu bekommen. Dieser Druck lastet stark auf den Wissenschaftlern: Entspanntes Forschen gibt es nicht mehr.“ Daher würden heutzutage häufiger als früher Daten veröffentlicht, die noch nicht reif fürs Publizieren seien. Auch zwei Drittel der von Nature Befragten sahen im Publikationsdruck eine Hauptursache für die häufige Unreproduzierbarkeit von Studien – noch vor einer schlechten statistischen Analyse.<h2>Sich austauschen und hinterfragen</h2>Naumann von Sanofi glaubt, dass sich nicht nur die Kommunikation, sondern auch der Austausch von Wissenschaftlern untereinander verbessern müsse. Niemand dürfe „alleine über seiner Arbeit brüten.“ Professoren müssten die Zeit haben, die Ergebnisse ihrer Mitarbeiter zu sichten und ihre Erfahrungen weiterzugeben. „Vier Augen sehen mehr als zwei – und wenn es zehn sind, umso besser.“Integrität in der Wissenschaft bedeute, nicht zu manipulieren und nichts wegzulassen, fügt Annette Schmidtmann hinzu. „Es bedeutet aber auch, positive Ergebnisse, die zur Hypothese passen, in Frage zu stellen.“ Gerade wenn ein Experiment fabelhafte Ergebnisse liefert, ist es wichtig, den Versuch zu wiederholen.Die promovierte Chemikerin Brigitte Osterath arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Bonn. <a href="https://www.writingscience.de" target="_blank">www.writingscience.de</a><h2>Quergelesen</h2>Anfang des Jahres veröffentlichte erstmals ein US-amerikanisches Industrieunternehmen Daten zu nicht reproduzierbaren Ergebnissen. Den gleichen Schritt gingen zuletzt Forscher von Bayer Healthcare im Jahr 2011.Wie groß das Problem Reproduzierbarkeit ist, zeigt die neu eingerichtete Plattform Preclinical Reproducibility and Robustness, die sich ausschließlich damit beschäftigt.Helfen könnte, direkt mit Autoren in Kontakt zu treten, deren Ergebnisse sich nicht wiederholen lassen. Denn manchmal entscheiden Kleinigkeiten über Erfolg oder Misserfolg.
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 M. Baker, Nature 2016, 533, 452.</li><li>
2 M. Baker, Nature 2016, 530, 141.</li><li>
3 J. Wang, Z. Pan, H. Baribault et al., F1000Research 2016, 5, 136.</li><li>
4 C.G. Begley, L.M. Ellis, Nature 2012, 483, 531.</li><li>
5 F. Prinz, T. Schlange, K. Asadullah, Nat. Rev. Drug. Discov. 2011, 10, 712. doi: 10.1038/nrd3439-c1</li><li>
6 <a href="http://f1000research.com/channels/PRR" target="_blank">http://f1000research.com/channels/PRR</a></li></ul>

Artikel

Nachkochen? Ist ein Problem!

In der Veröffentlichung klingt alles so einfach – wer versucht, die Ergebnisse im eigenen Labor nachzuvollziehen, verzweifelt aber häufig. Unreproduzierbarkeit gehört für viele Chemiker zum Alltag. Die Wissenschaftswelt sucht nach Lösungen. Nicht reproduzierbar heißt nicht unbedingt falsch. Es gi...

PD Dr.rer.nat.habil.

Im Zeitalter sofort verfügbarer Informationen ist es wichtig, die Qualität von Veröffentlichungen einschätzen zu können. Das ist nicht immer einfach, und bibliometrische Indikatoren helfen nur bedingt. Grundsätzlich gilt: Überprüfen Sie, woher die Information kommt, und ziehen Sie Standardwerke frei zugänglichen, ungeprüften Quellen vor.
Wissenschaftliche Informationen nehmen viele Nutzer nur noch wahr, wenn sie als sofort verfügbare Informationseinheit auftritt. Herkunft und Qualität der Informationen hinterfragen die Nutzer meistens nicht. So hatte ein Student von einer privaten Webseite eine Synthesevorschrift aus einem Praktikumsprotokoll heruntergeladen. Darin fehlten wichtige Informationen zur Vorbehandlung eines Ausgangsstoffs („fein mörsern“), und die Aufarbeitung war nur fragmentarisch beschrieben. Die Synthese funktionierte so nicht. Den Versuch musste der Student mit einer Vorschrift aus „Inorganic Syntheses“ wiederholen.In einem anderen Fall sollte ein Doktorand eine Synthese für eine einfache Iridiumverbindung aus dem „Brauer“1) heraussuchen. Nach zehn Minuten präsentierte er einen Ausdruck aus dem im Jahr 1963 erschienenen englischsprachigen Brauer (Abbildung 1). Die Vorschrift auf Seite 1594 war nur sechs Zeilen lang. Die deutlich längere Arbeitsvorschrift aus einer neueren deutschsprachigen Ausgabe dieses Handbuchs hatte der Doktorand nicht gefunden. Er verwendete die veraltete Ausgabe, weil sie online verfügbar ist.<figure><img src="https://media.graphcms.com/6PSDWtoTNOQde1DZCHt4"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Abb. 1. Im Internet verfügbare englischsprachige Version von Brauers Handbuch der präparativen anorganischen Chemie.</figcaption></figure>
Diese Beispiele zeigen die übliche Vorgehensweise einer immer größer werdenden Zahl internetfixierter Nutzer. Überspitzt gesagt: Was mit drei Mausklicks nicht auf den Bildschirm gezaubert werden kann, existiert nicht. Informationen, die in der Bibliothek sind oder etwas aufwendiger beschafft werden müssen, werden häufig ignoriert.<h2>Qualität einschätzen abhängig vom Medium</h2>Ein Lehrbuch eines Wissenschaftsverlags sollte nach mehreren Auflagen zuverlässig sein und geprüftes Wissen wiedergeben. Der Verlag sollte Mitglied in der International Association of Scientific, Technical, and Medical Publishers sein – herauszufinden über <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.stm-assoc.org" target="_blank">www.stm-assoc.org</a></ext-link>. Blindes Vertrauen ist jedoch auch bei Lehrbüchern nicht angebracht: So enthält der Holleman-Wiberg auch in der 102. Auflage noch Fehler, etwa bei der Erklärung der quadratisch-planaren und tetraedrischen Nickelkomplexe auf Seite 1719.2) Das Wissen aus Lehrbüchern ist nicht hochaktuell, und es gibt auch schlampig erstellte Werke. Für Synthesen im chemischen Labor sind Standardwerke mit teilweise geprüften Arbeitsvorschriften verfügbar. Dazu gehören die Sammelwerke Inorganic Syntheses, Organic Syntheses, Houben-Weyl – Methoden der organischen Chemie und Brauers Handbuch der präparativen anorganischen Chemie.Systematische Übersichtsarbeiten zu einem bestimmten Thema heißen Review-Artikel. Solche Artikel in begutachteten Fachzeitschriften mit einem hohen Impactfaktor gelten ebenfalls als zuverlässige Quelle. Hier hat mindestens ein weiterer Wissenschaftler aus dem Fachgebiet die Literatur gesichtet und im günstigen Fall sogar kritisch gewertet. Der Review-Artikel durchlief ein Peer-Review-Verfahren, ebenso wie die darin zitierten Originalarbeiten.<h2>Publikationen in chemischen Journalen und Dissertationen</h2>Originalarbeiten aus wissenschaftlichen Zeitschriften haben zum Teil sehr unterschiedliche Qualität. Die Artikel sollten unbedingt ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben. Grob verallgemeinernd gilt: Je höher der Impactfaktor der Zeitschrift ist, desto vertrauenswürdiger wirkt sie. Allerdings sind selbst in Nature3) oder Science4) vereinzelt fragwürdige Artikel erschienen. Qualitätskriterien für wissenschaftliche Zeitschriften fasst der Kasten „Qualitätskriterien“ zusammen.5)Wie oft ein Artikel zitiert wird, lässt möglicherweise Rückschlüsse auf seine Wichtigkeit zu. Allerdings hat eine ganz neue Publikation in der Regel noch keine Zitierungen. Manch gute Veröffentlichung steht in schlecht zugänglichen Zeitschriften, auf die Wissenschaftler kaum achten. Oder die Thematik wird zurzeit aufgrund wirtschaftlicher Aspekte gerade nicht weiter bearbeitet. Es gibt auch Fälle, in denen „vergessene“ Artikel erst nach vielen Jahren durch tausende Zitate aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt werden.6)Wie schätzt man Dissertationen ein? Es gibt ein breites Spektrum, von hochwertigen Arbeiten bis zu Plagiaten. Erster Anhaltspunkt kann sein, ob der Autor einen Teil der Ergebnisse aus der Dissertation bereits in hochwertigen Fachzeitschriften veröffentlicht hat. Einige generelle Anhaltspunkte, wie sich die Qualität von Dissertationen und wissenschaftlichen Artikeln einschätzen lässt, listet der Kasten „Prüfliste für die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten“.7)<h2>Qualitätskriterien für wissenschaftliche Zeitschriften</h2><list list-type="simple"><list-item></list-item></list>Ein Wissenschaftsverlag gibt die Zeitschrift heraus, und er ist über das Impressum klar zu identifizieren. Der Verlag ist Mitglied im Committee on Publication Ethics (COPE; <a href="http://publicationethics.org/" target="_blank">http://publicationethics.org/</a>)<list-item>Die Herausgeber (Editorial Board) sind namentlich genannt und arbeiten im Fachgebiet der Zeitschrift.</list-item><list-item>Die Zeitschrift hat eine ISSN-Nummer und die Artikel haben persistente URLs (z. B. DOI).</list-item><list-item>Zielgruppe der Zeitschrift sind Wissenschaftler eines bestimmten Fachgebiets.</list-item><list-item>Die Zeitschrift verwendet Mechanismen zur Qualitätssicherung (Peer-Review-Verfahren).</list-item><list-item>Die Beiträge in der Zeitschrift werden in einer bibliografischen Datenbank indexiert.</list-item><list-item>Die zitierten Quellen in den Artikeln sind überwiegend wissenschaftliche Publikationen.</list-item><h2>Prüfliste für die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten</h2><list list-type="simple"><list-item></list-item></list>In der Einleitung stellt der Autor die Motivation der Untersuchung logisch dar und erläutert den wissenschaftlichen Hintergrund.<list-item>Im experimentellen Teil nennt er genutzte Methoden und beschreibt die Versuche klar und nachvollziehbar. Messdaten listet er vollständig. Alternativ sind diese im Supplementary Material oder in einer Datenbank abrufbar (zum Beispiel Kristallstrukturdaten).</list-item><list-item>In der Diskussion analysiert er die erzielten Ergebnisse. Schlussfolgerungen ergeben sich sinnvoll und zwangsläufig aus diesen Analysen.</list-item><list-item>Tabellen, Schemata und Abbildungen beschreiben die Daten klar und verständlich.</list-item><list-item>Der Autor diskutiert die präsentierten Ergebnisse in Beziehung zur Fachliteratur.</list-item><list-item>Zitate passen inhaltlich zum Artikel und geben einen Überblick über die relevante Fachliteratur zu diesem speziellen Thema.</list-item><h2>Tagungsbeiträge</h2>Jährlich gibt es Hunderte Tagungen mit Tausenden Beiträgen. Deren Kurzfassungen werden in Tagungsbänden und teilweise sogar in Fachzeitschriften veröffentlicht. Die dort vorgestellten Ergebnisse reichen von publikationsfähigen Manuskripten über vorläufige Arbeitsberichte bis zu puren Spekulationen. Beiträge werden während der Tagung in Frage gestellt, diskutiert und bieten damit Ansätze für die Autoren, ein Thema weiterzuentwickeln. Diese Diskussionen spiegeln sich aber nicht in den Tagungsbänden wider.Tagungsbeiträge haben meistens keinen Peer-Review-Prozess durchlaufen und sind formal keine Publikationen.8) Die Kurzfassungen der Beiträge enthalten zu wenig Informationen über Methoden, Daten und Analysen, um die Qualität der Arbeiten einschätzen zu können – das geht erst, wenn sie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift mit Peer-Review-Verfahren erschienen sind.Über das weitere Schicksal von Tagungsbeiträgen in der Medizin gibt eine Untersuchung Aufschluss: Innerhalb von drei Jahren nach einer Tagung werden 50 Prozent der vorgestellten Beiträge in Zeitschriften mit hohem Impactfaktor veröffentlicht, 25 Prozent in Zeitschriften mit niedrigem Impactfaktor und 25 Prozent gar nicht.9)<h2>Wikipedia, graue Literatur, private Webseiten</h2>Wikipedia bietet auch zu vielen wissenschaftlichen Themen grundlegende Informationen. Eine strenge Qualitätskontrolle verbesserte in den letzten Jahren stark die Qualität der Wikipedia-Artikel [siehe auch Nachr. Chem. 2016, 63, 883].10,11) Mittlerweile geben viele Wikipedia-Einträge nachprüfbare Quellen und weiterführende Links an, die einen guten Einstieg in ein Thema ermöglichen. Es gibt auch immer wieder berechtigte Kritik an Wikipedia. Vor allem inhaltliche Beeinflussungen wie einseitige Darstellungen, Einflussnahme durch Lobbyisten und absichtliche Manipulation von Artikeln sind weiterhin auftretende Probleme.12) <a href="https://Wikibu.ch" target="_blank">Wikibu.ch</a> ermöglicht auf Grundlage einer statistischen Auswertung abzuschätzen, wie zuverlässig ein Artikel in Wikipedia ist.Von sehr unterschiedlicher Qualität ist graue Literatur, das sind Publikationen von Behörden, Vereinen und weitere, die nicht über den Buchhandel vertrieben werden. Pressemitteilungen oder Zeitungsberichte können Fehlinterpretationen gegenüber den ursprünglichen Daten enthalten.8) Mit den Zeitungsartikeln lässt sich jedoch die Originalarbeit finden, die auf ihre Qualität hin untersucht werden sollte (siehe Kasten S. 993).Bei privaten Webseiten und Blogs sollte der Leser versuchen, sich ein Bild über das Fachwissen des Verfassers zu machen. Ist der Verfasser der Webseite namentlich genannt? Wenn ja, lässt sich prüfen, ob der Autor auch in wissenschaftlichen Zeitschriften zu dem auf der Webseite behandelten Fachgebiet publiziert hat und ob diese Artikel von anderen zitiert werden. Positive Beispiele sind die Webseite von Roald Hoffmann (<a href="https://www.roaldhoffmann.com" target="_blank">www.roaldhoffmann.com</a>) und der Blog von Henry Rzepa (<a href="https://www.ch.imperial.ac.uk/rzepa/blog" target="_blank">www.ch.imperial.ac.uk/rzepa/blog</a>). Falls der Autor auf seiner Webseite jedoch auch über Verschwörungstheorien berichtet, sollte der Leser gegenüber den angebotenen Inhalten skeptisch sein.<figure><img src="https://media.graphcms.com/F4R5pf6HRq22i1gwcFx9"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Der Zugriff auf Fachliteratur gelingt heute ungleich schneller als im 17. Jahrhundert. <named-content>Gemälde: „Der Alchemist“ von Mattheus van Helmont, Quelle: Wikimedia Commons und die Chemical Heritage Foundation.15)</named-content></figcaption></figure>
Die Autoren danken Andreas Stumm (Universitätsbibliothek Freiberg) für hilfreiche Hinweise und die Durchsicht des Manuskriptes.<h2>Quergelesen</h2>Lehrbücher und Übersichtsartikel sind in der Regel zuverlässige Informationsquellen; Tagungsberichte haben sehr unterschiedliche Qualität.Bei Dissertationen ist ein Qualitätsindikator, wenn Teile davon in hochrangigen Journalen veröffentlicht werden.Bei Zeitungsartikeln und Wikipedia sollten unbedingt die Originalquellen zu Rate gezogen werden.Uwe Böhme studierte Chemie an der TH Merseburg und promovierte dort im Jahr 1992. Seit einem Postdoc-Aufenthalt 1992/93 bei R. J. H. Clark am University College London arbeitet er im Institut für Anorganische Chemie der TU Bergakademie Freiberg. Im Juni 2004 wurde er habilitiert. Seine Forschung beschäftigt sich mit Synthese silicium- und metallorganischer Verbindungen, mit Einkristallstrukturanalysen und der theoretischen Beschreibung der untersuchten Systeme. In seiner Freizeit schreibt er an seinem Blog <a href="https://anorg-chemie.blogspot.de" target="_blank">anorg-chemie.blogspot.de</a>.Silke Tesch studierte Verfahrenschemie an der Bergakademie Freiberg und promovierte im Jahr 1993. Von 2001 bis 2003 studierte sie Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der HU Berlin. Seit 2003 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Analytische Chemie und Fachreferentin für Naturwissenschaften an der Universitätsbibliothek Georgius Agricola der TU Bergakademie Freiberg.<figure><img src="https://media.graphcms.com/iPSKkR2tST22MgZuooAv"><figcaption><label>Abb. 3: </label></figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/frBHqpuSbSlXhq81z4iQ"><figcaption><label>Abb. 4: </label></figcaption></figure>

<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 G. Brauer, Handbuch der präparativen anorganischen Chemie in 3 Bänden, 3. Auflage, Ferdinand Enke, Stuttgart, 1975 bis 1981</li><li>
2 E. Wiberg, N. Wiberg, Holleman-Wiberg Lehrbuch der anorganischen Chemie, 102. Auflage, de Gruyter, Berlin, 2007.</li><li>
3 J. Maddox, J. Randi, W. W. Stewart: Nature, 1988, 334, 287–290.</li><li>
4 Z. Zhang, J. Gildersleeve, Y.-Y. Yang et al., Science 2009, 326, 1187.</li><li>
5 Bibliothek der Universität Konstanz, Projekt Informationskompetenz, Kriterien für eine wissenschaftliche Publikation in <a href="http://www.ub.uni-konstanz.de/fileadmin/Dateien/Informationskompetenz/Modulmaterial/Modul_1/1_kriterien_wiss_publikation.pdf" target="_blank">http://www.ub.uni-konstanz.de/fileadmin/Dateien/Informationskompetenz/Modulmaterial/Modul_1/1_kriterien_wiss_publikation.pdf</a>, abgerufen am 01.06.2016.</li><li>
6 Q. Ke, E. Ferrara, F. Radicchi, A. Flammini: Proc. Nat. Acad. Sci. USA 2015, 112, 7426–7431.</li><li>
7 K. Bonine, B. Pasch, Critical Evaluation of a Published Paper in <a href="http://www.eebweb.arizona.edu/courses/Ecol437/reading1.pdf" target="_blank">http://www.eebweb.arizona.edu/courses/Ecol437/reading1.pdf</a></li><li>
8 <a href="http://www.skepticalraptor.com/skepticalraptorblog.php/how-evaluate-quality-scientific-research/" target="_blank">http://www.skepticalraptor.com/skepticalraptorblog.php/how-evaluate-quality-scientific-research/</a> abgerufen am 24.03.2016.</li><li>
9 L. M. Schwartz, S. Woloshin, L. Baczek: J. Am. Med. Assoc. 2002, 287, 2859–2863.</li><li>
10 Qualitätssicherung in der Wikipedia unter <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Enzyklop%C3%A4die/Qualit%C3%A4tssicherung_in_der_Wikipedia#Fehlererkennung_und_-behebung" target="_blank">https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Enzyklop%C3%A4die/Qualit%C3%A4tssicherung_in_der_Wikipedia#Fehlererkennung_und_-behebung</a> abgerufen am 26.03.2016.</li><li>
11 W. Sühl-Strohmenger, Digitale Welt und Wissenschaftliche Bibliothek--Informationspraxis im Wandel. Determinanten, Ressourcen, Dienste, Kompetenzen : eine Einführung, Harrassowitz, Wiesbaden, 2008.</li><li>
12 Kritik an Wikipedia: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_an_Wikipedia" target="_blank">https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_an_Wikipedia</a> abgerufen am 26.03.2016.</li><li>
13 <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Helmont-Alchimiste.JPG" target="_blank">https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Helmont-Alchimiste.JPG</a></li></ul>

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