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&Uuml;ber das gesamte Jahr verteilt publiziert die Redaktion der Nachrichten aus der Chemie Trendberichte &uuml;ber alle chemischen Disziplinen hinweg.

Trendberichte

Mit Ionen nahe am absoluten Temperaturnullpunkt ist es möglich, Quadrupolübergänge im IR zu beobachten, Reaktionen mit ausgewählten Konformeren zu untersuchen und die Stoßenergie zwischen Reaktionspartnern präzise zu kontrollieren. Mit Rasterkraftmikroskopie an einzelnen Molekülen lässt sich die Energielandschaft eines Bindungsbruchs an einer Fest-flüssig-Grenzfläche vermessen. Wesentliche Schwächen von Batterien – unzureichende Leistungsdichte und begrenzte Zahl von Lade- und Entladevorgängen – versprechen Superkondensatoren zu überwinden.
<h2>Spektroskopie und Chemie mit kalten Ionen</h2>Sind die Naturkonstanten tatsächlich konstant? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Konformation der Reaktionspartner und der Reaktionsgeschwindigkeit, dem Mechanismus und den Produkten einer chemischen Reaktion? Welchen Einfluss hat die Kollisionsenergie auf die chemische Dynamik und welche Rolle spielt dabei der exakte Quantenzustand der Reaktanden?In unserer Arbeitsgruppe versuchen wir, diese Fragen mit chemischen und spektroskopischen Präzisionsmessungen zu beantworten. Als Untersuchungsobjekte dienen kalte Ionen, die in einer Ionenfalle im Ultrahochvakuum gefangen sind, isoliert von störenden äußeren Einflüssen. Die Zahl der Ionen, ihre kinetische Energie sowie ihr Quantenzustand lassen sich dabei genau einstellen.In unseren Experimenten werden zunächst einfach geladene Ca+-Ionen in einer Ionenfalle gefangen. Impulsübertragung von Photonen aus einem Laserstrahl kühlt die Ionen auf wenige tausendstel Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Die angeregten Atome strahlen dabei die Energie als Fluoreszenz wieder ab. Die ungeordnete Ionenwolke durchläuft während der Kühlung in der Falle einen Phasenübergang zu einer dreidimensional geordneten Struktur, einem Coulombkristall.1,2) Die Struktur der Coulombkristalle bestimmen unter anderem die Betriebsparameter der Ionenfalle; sie lässt sich durch Messen der ortsaufgelösten Fluoreszenz der Ionen mikroskopisch abbilden. In solchen Fluoreszenzbildern (Abbildung 1) ist dabei jeweils ein Schnitt durch die zentrale Ebene eines Coulombkristalls sichtbar.<figure><img src="https://media.graphcms.com/itJ2HNRxS9Syox1kjJhr"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Fluoreszenzbild eines Ca+-Coulombkristalls mit unsichtbaren a) N2+-Ionen in der Mitte und b) Rb+-Ionen an den Rändern. c) Ein Zwei-Ionen-Kristall aus einem Ca+- und einem Rb+-Ion (unsichtbar).</figcaption></figure>
Die lasergekühlten atomaren Ionen können als ein Kältebad für molekulare Ionen dienen, die ebenfalls in der Falle gefangen sind. Die Molekülionen werden dabei durch Stöße mit den atomaren Ionen auf ähnlich tiefe Temperaturen abgekühlt und in die Coulombkristalle eingelagert. Man spricht von sympathetischer (mitfühlender) Kühlung. Da die Molekülionen nicht lasergekühlt werden, fluoreszieren sie nicht und sind dadurch nur indirekt in den Fluoreszenzbildern als Fehlstellen in der Struktur sichtbar.Aufgrund der Dynamik der Ionenfalle ordnen sich Ionen, die leichter sind als Calcium, im Zentrum des Kristalls an und erscheinen als dunkler Kern (Abbildung 1a). Schwerere Ionen bilden hingegen dunkle Schalen um einen Ca+-Kern, welche die Ränder des Coulombkristalls in den Fluoreszenzaufnahmen abgeflacht erscheinen lassen (Abbildung 1b).Die exakte Form der Coulombkristalle ist stark abhängig von der Zahl der Ionen im Kristall. Wenn beispielsweise Ionen durch chemische Reaktionen verloren gehen, verändert sich die Form des Kristalls. Der Extremfall sind Kristalle aus zwei Ionen: Ein lasergekühltes atomares Ion kühlt ein weiteres atomares oder molekulares Ion sympathetisch ab (Abbildung 1c). Solche Experimente bilden die ultimative Grenze der Empfindlichkeit, nämlich Manipulationen an einzelnen Atomen oder Molekülen. Die Fähigkeit, Prozesse auf der Ebene einzelner Teilchen zu beobachten, ermöglicht extrem präzise spektroskopische und chemische Messungen.<h2>Messung der verbotenen Spektren kalter Molekülionen</h2>Die Untersuchung grundlegender Fragen ist für die Molekülspektroskopie ein neues Betätigungsfeld. Dabei geht es zum Beispiel darum, ob das Elektron ein messbares permanentes Dipolmoment hat oder ob sich die Massen von Elementarteilchen wie Elektronen oder Protonen mit der Zeit ändern. Die Herausforderung besteht dabei darin, möglichst schmale spektrale Linien in einer möglichst störungsfreien Umgebung möglichst präzise zu messen. Einzelne isolierte Moleküle bieten sich für solche Präzisionsexperimente an, da in diesem Fall inhomogene spektrale Linienverbreiterungen wegfallen, die durch Ensemblemittelung entstehen.Stickstoff zeigt in erster Näherung kein Infrarotspektrum. Infrarotanregungen sind dennoch durch die Wechselwirkung mit Licht in höherer Ordnung erlaubt. Ein solches Beispiel sind Quadrupolübergänge, die mehr als eine Milliarde Mal schwächer sind als typische Infrarotanregungen. Man spricht daher auch von verbotenen Übergängen, die daher besonders schmal sind.In Molekülionen war es bisher nicht möglich, Quadrupolübergänge zu beobachten. Gründe dafür sind ihre geringe Intensität und die geringe Messempfindlichkeit, die durch die elektrostatische Abstoßung der Teilchendichten zwischen den Ionen begrenzt ist. Mit unseren experimentellen Techniken ließ sich erstmals das Quadrupol-Infrarotspektrum eines molekularen Ions aufnehmen (Abbildung 2).3) Hierzu wurden N2+-Ionen durch Photoionisation selektiv in einem definierten Quantenzustand erzeugt.4) Die quantenzustandsselektierten N2+-Ionen wurden dann in einen Ca+-Coulombkristall eingekühlt. In der störungsfreien Umgebung des Coulombkristalls blieben die N2+-Ionen einige Minuten lang in ihrem ursprünglichen Quantenzustand. In der Zeit wurden sie mit einem Infrarotlaser bestrahlt, um Quadrupolübergänge anzuregen. Die Anregung einzelner Stickstoffionen war dann chemisch über eine Ladungstransferreaktion mit Argonatomen nachweisbar.<figure><img src="https://media.graphcms.com/zEzrPr7RiyeuoaMFputc"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Ausschnitt aus dem verbotenen Infrarotspektrum von N2+.3)</figcaption></figure>
<h2>Reaktionen mit ausgewählten Konformeren</h2>Viele Moleküle treten in Rotationsisomeren auf, die unterschiedliche Reaktivitäten zeigen. Die Schwierigkeit bei der Untersuchung konformerenspezifischer Reaktivitäten besteht darin, einzelne Konformationen zu präparieren und zu isolieren. Denn die Energiebarrieren können so flach sein, dass sich die Konformere in andere umwandeln und sich ein Gleichgewicht einstellt. Dies ist oft in Lösungen oder Gasen bei Raumtemperatur der Fall. Als Lösung für dieses Problem haben wir eine Technik adaptiert, mit der ein Gemisch von Konformeren zunächst in einer Überschallexpansion in der Gasphase intern gekühlt wird, die einzelnen Konformere dann räumlich getrennt werden und anschließend mit coulombkristallisierten Ionen in einer Ionenfalle reagieren.5,6)Um die Konformere räumlich zu trennen, nutzen wir die Wechselwirkung ihrer Dipolmomente mit äußeren elektrischen Feldern. Verschiedene Konformere haben oft unterschiedliche Dipolmomente und erfahren dadurch unterschiedlich starke Kräfte, wenn sie in einem Molekularstrahl durch ein inhomogenes elektrisches Feld fliegen.7) So wird der Molekularstrahl in konformerenspezifische Komponenten getrennt (Abbildung 3). Durch Ausrichtung des Molekularstrahls auf die räumlich lokalisierten coulombkristallisierten Ionen lassen sich dann konformerenselektierte Reaktionen untersuchen.In einem ersten Experiment wurden die cis- und trans-Konformere von 3-Aminophenol (3-AP, Abbildung 3a) räumlich separiert und ihre Reaktion mit einem Coulombkristall aus Ca+-Ionen untersucht. Die Reaktion von 3-AP mit Ca+ liefert CaOH+ oder CaNH2+ als ionische Reaktionsprodukte. Die Produkt-Ionen bleiben in der Ionenfalle gefangen und werden durch die verbleibenden lasergekühlten Ca+-Ionen sympathetisch gekühlt. Während der Reaktion wurden in regelmäßigen Abständen Bilder des Coulombkristalls aufgenommen. Durch die Bildung der schweren Produkt-Ionen veränderte sich die Form des Kristalls als Funktion der Reaktionszeit (Abbildung 3b).<figure><img src="https://media.graphcms.com/xjzfx9k9SbS3fpeYfc78"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Versuchsaufbau zur Untersuchung konformerenselektierter Reaktionen von cis/trans-3-Aminophenol (Kasten a) mit Ca+.5) Kasten b zeigt die Veränderung der Struktur des Ca+-Coulombkristalls während der Reaktionszeit t.</figcaption></figure>
Aus der Veränderung der Kristallstruktur ließen sich Reaktionsgeschwindigkeiten bestimmen. Wir fanden dabei: Die Geschwindigkeitskonstante von cis-AP ist etwa zwei Mal so groß wie die von trans-AP. Dieser Unterschied in der Reaktionsgeschwindigkeit erklärt sich durch die unterschiedlich starke Ionen-Dipol-Wechselwirkung der Konformere mit den Ca+-Ionen.Ein weiteres Anwendungsbeispiel sind pericyclische Reaktionen, die über einen cyclischen Übergangszustand verlaufen. Diesen bilden nur Reaktanden, die in geeigneter Konformation vorliegen. Mit der elektrostatischen Deflektionsmethode lassen sich zudem Molekularstrahlen von neutralen Molekülen in bestimmten Rotationszuständen erzeugen,8) was neue Perspektiven für quantenzustandsselektive Untersuchungen eröffnet.<h2>Kollisionsexperimente mit hoher Energieauflösung</h2>Durch die Fortschritte bei den Techniken zur Kühlung von Atomen und Molekülen ist es möglich, chemische Reaktionen bei Temperaturen unter 1 K zu untersuchen. Unter solch extremen Bedingungen manifestiert sich der Quantencharakter von Stößen zwischen Molekülen,9) und lichtgetriebene Reaktionsmechanismen sind zu beobachten.10) Dabei hängen Reaktionskinetik und -dynamik sehr empfindlich von den Details des Wechselwirkungspotenzials zwischen den Stoßpartnern ab.11)Ein wichtiger Parameter, um die Dynamik solcher kalten Reaktionen zu untersuchen, ist die Stoßenergie zwischen den Reaktionspartnern, die man möglichst präzise kontrollieren möchte. Wir haben ein neuartiges Experiment entwickelt, um chemische Prozesse zwischen Ionen und Atomen in einem Stoßenergie-Intervall entsprechend 10 mK bis 1 K mit einer sehr hohen Energieauflösung von wenigen Millikelvin zu untersuchen.12) Hierbei werden Rb-Atome lasergekühlt und bei einer Temperatur von zirka 1 mK in einer magneto-optischen Falle gefangen.10) Die kalten Atome werden dann mit dem Strahlungsdruck eines Laserstrahls aus der Falle beschleunigt und auf einen Coulombkristall aus kalten Ionen gelenkt, mit denen die Atome dann reagieren (Abbildung 4a). Ihre Geschwindigkeit lässt sich über die Intensität des Laserstrahls präzise abstimmen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/uI1McH42SrWlkjQNsFhS"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Untersuchung von Reaktionen zwischen kalten Atomen und coulombkristallisierten Ionen mit hoher Energieauflösung.</figcaption></figure>
Nach Durchgang durch den Coulombkristall werden die Atom in einer zweiten magneto-optischen Falle wieder eingefangen, erneut gekühlt, und dann durch einen entgegengerichteten Laserstrahl in Rückwärtsrichtung beschleunigt (Abbildung 4b). Die Atome werden so mit einer Frequenz von 25 Hz durch die kalten Ionen bewegt, was die Interaktionszeit zwischen den Reaktionspartnern und damit die Reaktionsgeschwindigkeit erhöht. Abbildung 4c zeigt das Experiment im laufenden Betrieb, in dem die Fluoreszenz der kalten Rb-Atome in den beiden magneto-optischen Fallen sichtbar ist. Dieser Versuchsaufbau eröffnet neue Wege, Ionen-Neutral-Reaktionen bei sehr niedrigen Stoßenergien und sehr hoher Energieauflösung zu untersuchen.Daniel Rösch, Jahrgang 1986, studierte Chemie an der Universität Basel und promovierte im Jahr 2016 in der Arbeitsgruppe von Stefan Willitsch. Er untersucht konformerenspezifische Effekte in chemischen Reaktionen.<div><img src="https://media.graphcms.com/RxOKxMsEQXmlGj6PGXCg">

</div>Stefan Willitsch, Jahrgang 1975, ist Professor für physikalische Chemie an der Universität Basel. Nach Studium und Doktorat in physikalischer Chemie an der ETH Zürich war er mehrere Jahre als Junior Research Fellow am Christ Church College der Universität Oxford und als Lecturer am University College London tätig. Seit dem Jahr 2008 leitet er eine Arbeitsgruppe mit Schwerpunkt chemischer Physik an der Universität Basel. Seine Forschungsinteressen umfassen kalte Moleküle und Ionen, chemische Reaktionsdynamik und molekulare Quantentechnologien. <a href="https://www.chemie.unibas.ch/~willitsch" target="_blank">www.chemie.unibas.ch/~willitsch</a><div><img src="https://media.graphcms.com/5f8cXWN8R56wky9cqWCb">

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<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 S. Willitsch, Int. Rev. Phys. Chem. 2012, 31, 175.</li><li>
2 S. Willitsch, M. T. Bell, A. D. Gingell, T. P. Softley, Phys. Chem. Chem. Phys. 2008, 10, 7200.</li><li>
3 M. Germann, X. Tong, S. Willitsch, Nat. Phys. 2014, 10, 820.</li><li>
4 X. Tong, A. H. Winney, S. Willitsch, Phys. Rev. Lett. 2010, 105, 143001.</li><li>
5 Y.-P. Chang, K. Dlugolecki, J. Küpper, D. Rösch, D. Wild, S. Willitsch, Science 2013, 342, 98.</li><li>
6 D. Rösch, S. Willitsch, Y-P. Chang, J. Küpper, J. Chem. Phys. 2014, 140, 124202.</li><li>
7 F. Filsinger, J. Küpper, G. Meijer et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2009, 48, 6900.</li><li>
8 D. A. Horke, Y.-P. Chang, K. Dlugolecki, J. Küpper, Angew. Chem. Int. Ed. 2014, 53, 11965.</li><li>
9 A. B. Henson, S. Gersten, Y. Shagam, J. Narevicius, E. Narevicius, Science, 2012, 338, 234.</li><li>
10 F. H. J. Hall, M. Aymar, N. Bouloufa-Maafa, O. Dulieu, S. Willitsch, Phys. Rev. Lett. 2011, 107, 243202.</li><li>
11 F. H J. Hall, S. Willitsch, Phys. Rev. Lett., 2012, 109, 233202.</li><li>
12 P. Eberle, A. D. Dörfler, C. von Planta, K. Ravi, S. Willitsch, Chem. Phys. Chem. 2016, 17, 3769.</li></ul>

Trendbericht

Physikalische Chemie 2016: Spektroskopie und Chemie mit kalten Ionen

Mit Ionen nahe am absoluten Temperaturnullpunkt ist es möglich, Quadrupolübergänge im IR zu beobachten, Reaktionen mit ausgewählten Konformeren zu untersuchen und die Stoßenergie zwischen Reaktionspartnern präzise zu kontrollieren. Mit Rasterkraftmikroskopie an einzelnen Molekülen lässt sich die...

Wechselwirkungen einzelner Moleküle an hydratisierten Fest-flüssig-Grenzflächen sind die molekulare Grundlage vieler technischer und biologischer Prozesse. Dazu gehören die Wechselwirkungen von biologischer Materie mit Feststoffen, Zelladhäsion oder auch Haften und Kleben. Zugrunde liegende physikochemische Parameter sind spezifische und nichtspezifische Wechselwirkungs- und Aktivierungsenergien der Adsorption und Desorption von Molekülen an Fest-flüssig-Grenzflächen.Thermodynamische Parameter von molekularer Adsorption und Desorption an Flüssig-fest-Grenzflächen sind direkt experimentell aus irreversiblen Messungen mit Einzelmolekülen bestimmbar.1–3) Aus diesen Parametern lassen sich makroskopische Werte, etwa Adhäsionsenergien abschätzen.2) Dies schafft die Grundlage, die komplexen Prozesse an Fest-flüssig-Grenzflächen zu verstehen sowie Experiment und Ab-initio-Theorie zu vergleichen.<h2>Experimentelle Methoden: Proteinfaltung im Rasterkraftmikroskop</h2>Adsorptionsvorgänge an Fest-flüssig-Grenzflächen sind durch viele molekulare Teilschritte, Wechselwirkungen und Einflussparameter gekennzeichnet. Klassische methodische Ansätze wie die Mikrokalorimetrie oder die Messung von Grenzflächen- und Oberflächenenergien liefern ausschließlich makroskopisch gemittelte Daten thermodynamischer Parameter. Wechselwirkungsenergien und die nur dynamisch zugänglichen Aktivierungsbarrieren mit atomaren und molekularen Strukturen wie Defektstrukturen und molekularen Hydratisierungen direkt zu korrelieren, ist nicht möglich.Die gemessenen makroskopischen Werte sagen also wenig über die molekularen Adsorptionsenergien und lokale Bindungszustände aus. Wie ist also ein direkter experimenteller Zugang zu molekularen und auch ortsaufgelösten kinetischen und thermodynamischen Parametern an Fest-flüssig-Grenzflächen zu erreichen?Schon seit beinahe 20 Jahren werden mit dem Rasterkraftmikroskop (Atomic-Force-Microscope, AFM) und optischen Pinzetten insbesondere biologische Einzelmoleküle untersucht. Ein typisches Beispiel ist die Entfaltung und Faltung von Domänen eines Proteins (Abbildung 1a). In einem Proteinentfaltungsversuch wird ein Protein meist kovalent zwischen zwei Oberflächen fixiert. Eine Entfaltung einer Domäne des Proteins ist als Sprung in der Kraft messbar. Da die Verbindung zwischen den Oberflächen nicht vollständig bricht und nur die Spannung im Molekül auf Grund der Entfaltung abnimmt (nicht auf Null), ist es in diesem Experiment auch möglich, den umgekehrten Vorgang zu messen, die Faltung. Diese Messmethode lässt sich erweitern, um Wechselwirkungen an Fest-flüssig-Grenzflächen zu untersuchen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/t9XAEKvGTOefXy1m0vPW"><figcaption><label>Abb. 1: </label>In einem typischen einzelmolekülbasierten Kraftspektroskopieexperiment wird ein Molekül zwischen einer beweglichen Oberfläche an einer Feder (AFM-Feder oder optische Falle) und einer weiteren Oberfläche fixiert. Wird nun eine Oberfläche verschoben, ist eine Kraft als Funktion der Verschiebung ∆x messbar, wobei das zwischen den Oberflächen befindliche Molekül reversibel gespannt wird, bis die Bindung spezifisch bricht. a) Typisches Proteinfaltungs- und -entfaltungsexperiment, und b) typisches Experiment, einen Bindungsbruch an einer Oberfläche zu vermessen (die Kugel stellt eine funktionelle Gruppe an der Oberfläche dar). Der Kraft-Abstandsverlauf ist jeweils skizziert.</figcaption></figure>
Ein typisches Experiment zur Messung von Kraft-Abstandskurven mit einzelnen Molekülen an Fest-flüssig-Grenzflächen zeigt Abbildung 1b. Bei diesem Experiment werden Moleküle am Ende einer Polymerkette mit bekannter Konturlänge an eine AFM-Spitze gebunden. Die bindende funktionelle Gruppe wird dabei am Ende eines inerten Polymerlinkers angebracht, der an eine Oberfläche bindet. Nun wird eine Kraft F aufgebracht und als Funktion der Verschiebung Δx gemessen. Bei FB bricht die Bindung. Im Gegensatz zu Proteinentfaltungsexperimenten ist es hierbei nicht möglich, die Bindungsbildung zu messen, da die Kraft mit dem Bindungsbruch auf Null fällt. Auch ist im Moment des Bindungsbruchs keine Information über die Relaxation des gespannten Polymerlinkers zugänglich. Messgrößen sind in diesem Experiment neben der Kraft FB die gesamte Arbeit<div><img src="https://media.graphcms.com/snpIv0yhThSoH1pxk7hq">

</div>die in den Bindungsbruch (Wn) und das Auslenken des Polymerlinkers ES(Δx) geht, sowie die Polymerdehnung Δx, bei der die Bindung bricht.Ein typisches experimentelles Design zeigt Abbildung 2 a. Für eine Messung (Abbildung 2b) nähert sich die AFM-Spitze einer Oberfläche an, damit die funktionelle Gruppe am Polymerlinker mit der Oberfläche wechselwirkt. Während sich die Spitze von der Oberfläche entfernt, durchläuft die Kraft zunächst ein attraktives unspezifisches Minimum. Dieses primäre Minimum entspricht der Wechselwirkung der AFM-Spitze mit der Probe.<figure><img src="https://media.graphcms.com/cQQTrLAeR3acwGAd95MQ"><figcaption><label>Abb. 2: </label>a) Typisches experimentelles Design: Spezifische Funktionalitäten werden am Ende einer PEG-Kette gebunden (hier am Beispiel Dopamin) und reagieren mit chemisch definierten Oberflächen, hier ein Self-Assembled Monolayer (SAM) mit chemisch variablen Enden auf einer AFM-Spitze. b) Typische Kraft-Abstandskurve; messbare Größen sind gekennzeichnet, gemessene Arbeits- und Kraftverteilungsfunktionen stehen darüber. c) Charakterisierung der Energielandschaft eines Bruchs einer einzelnen molekularen Bindung an einer Fest-flüssig-Grenzfläche.</figcaption></figure>
Wenn die am Polymermolekül angebrachte funktionelle Gruppe mit der Grenzfläche wechselwirkt, zeigt die Kraft-Abstandskurve eine zweite charakteristische Signatur bei größeren Abständen. Diese Kraftsignatur entspricht wie in Abbildung 1b der Auslenkung der Polymerkette aus der Gleichgewichtsform. Die Polymerkette wirkt in diesem Experiment somit als flexible molekulare Verbindung und als reversible Feder, welche die primäre Wechselwirkung der Messapparatur und die Detektion eines Bindungsbruchs zeitlich und örtlich trennt.In diesem Experiment wird also die Kraft FB gemessen, bei der die molekulare Bindung an der Fest-flüssig-Grenzfläche bricht, sowie die Arbeit Wtot, die für den molekularen Prozess erforderlich ist. Abbildung 2b zeigt die breiten Verteilungen der Messgrößen FB und Wn, die bei einem Bindungsbruch gemessen werden. Diese Verteilungen sagen auch etwas über die lokale Bindung aus, die durch die Kraft gebrochen wird.<h2>Bindungsbruch unter dem Einfluss einer externen Kraft</h2>Bell beschrieb erstmals, wie eine externe Kraft auf eine Verbindung zweier einzelner Moleküle wirkt.4) Bells Theorie beschreibt, wie sich die Energielandschaft entlang einer Reaktionskoordinate auf Grund einer externen Kraft ändert. Die Kraft wirkt dabei ähnlich wie ein Katalysator: Sie senkt die Aktivierungsbarriere zum Bindungsbruch. Wird also eine externe Kraft auf eine Bindung aufgebracht, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit für ihr Versagen.Evans und Ritchie5) haben Bells Konzept erweitert und einen Bindungsbruch unter steigender externer Krafteinwirkung als Diffusionsprozess aus einem Energieminimum mit immer kleiner werdender Aktivierungsbarriere beschrieben. Wir verstehen im Rahmen dieser Bell-Evans-Theorie also, dass eine Bindung unter Krafteinwirkung nicht bricht, sondern die Bindungspartner bei zunehmender externer Kraft mit immer größerer Wahrscheinlichkeit voneinander weg diffundieren. Aus der n-fachen Messung von FB lässt sich demnach die wahrscheinlichste externe Kraft bestimmen, die notwendig ist, um eine Bindung zu brechen. Auf Basis der Bell-Evans-Theorie5) wird damit eine Information über die Aktivierungsbarriere zur Desorption zugänglich.Direkt zugänglich sind dabei die natürliche Rate des Bindungsbruchs koff ohne Einwirkung einer externen Kraft sowie der Abstand des gebundenen Zustands und des Übergangszustands, xB (Abbildung 2c). Des Weiteren ergibt sich die Höhe der Aktivierungsbarriere aus temperaturabhängigen Messungen von koff.<h2>Differenzen der freien Enthalpie bei Nichtgleichgewichtsprozessen</h2>Bis vor kurzem war die Differenz der freien Enthalpie in einem Einzelmolekülexperiment nicht zugänglich. Experimentell direkt messbar wäre eine Differenz der freien Enthalpie nur, solange eine Bindung im thermodynamischen Gleichgewicht bricht.AFM-Kraft-Abstandskurven entstehen dynamisch und damit außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts. Im AFM-Experiment bringt die lineare Bewegung der Feder die Kraft auf. Mit AFM-Einzelmolekülspektroskopie ist somit nur die gemessene irreversible Arbeit (Wtot) für das Brechen einer Bindung zugänglich (Abbildung 2b). Die Arbeit in einem irreversiblen Prozess ist aber größer als die zugrunde liegende freie Enthalpie. Die im Durchschnitt gemessene Arbeit wird entsprechend immer größer sein als die zugrunde liegende Wechselwirkungsenergie ∆G der gebrochenen Bindung.Auf Basis von Fluktuationstheoremen leitet der Physiker Christopher Jarzynski eine Gleichung ab, die eine direkte Beziehung herstellt zwischen der thermodynamischen Zustandsfunktion ΔG und der irreversiblen Arbeit, die in vielen Messungen eines irreversiblen Prozesses während des Übergangs von einem Anfangs- zu einem Endzustand bestimmt wird:6)<div><img src="https://media.graphcms.com/CfkiphZQTsaMGCwruVrH">

</div>Diese Entdeckung ermöglicht es nun, die gesamte Energielandschaft – also auch die Differenz der freien Enthalpie ΔG zwischen dem Anfangs- und dem Endzustand – aus der n-fach wiederholten Messung des Bindungsbruchs zu bestimmen (Abbildung 2b, S. 331).Ein wichtiger Aspekt im AFM-Experiment an Fest-flüssig-Grenzflächen ist die korrekte Integration der Arbeit Wn, die in den Bindungsbruch geht: Die Polymerkette wird im AFM-Experiment in Abbildung 1b und 2 auf Grund der AFM-Bewegung ausgelenkt. Diese Bewegung ist verglichen mit molekularen Fluktuationen langsam und somit in sehr guter Näherung im thermodynamischen Gleichgewicht.Nach dem Bindungsbruch ist es aus technischen Gründen nicht möglich, mit AFM die Arbeit zu messen, die bei der Polymerrelaxation wiedergewonnen würde (Abbildung 1b, S. 330). Bei der Integration der Arbeit ist also die zum Zeitpunkt des Bindungsbruchs bei einer Federauslenkung Δx im Polymerlinker gespeicherte Energie Es(Δx) noch enthalten. Diese kann für jede einzelne Messung berechnet7) und von Wn abgezogen werden. Es ist also eine korrigierte Arbeit Wn = Wtot – Es(Δx) heranzuziehen, um die freie Enthalpie nach Jarzynskis Gleichung zu berechnen. Diese Korrektur ist sehr genau und für kurze Polymerketten mit Längen bis zu 20 bis 30 nm wesentlich kleiner als zehn Prozent des gemessenen ΔG, wird aber bei längeren Polymerketten essenziell. Das experimentelle Design muss dies berücksichtigen.<h2>Wechselwirkungen an Grenzflächen – Erfolge und Perspektiven</h2>Mit AFM-Einzelmolekülmessungen lässt sich also die gesamte Energielandschaft eines Bindungsbruchs an einer Fest-flüssig-Grenzfläche vermessen. Aus dynamischen Messungen eines Bindungsbruchs sind sowohl Übergangszustände (Bell-Evans) als auch erstmals die freien Enthalpien (Jarzynskis Gleichung) von Desorptionen an der Fest-flüssig-Grenzfläche bestimmbar.Die Tabelle zeigt die mit der beschriebenen Methode vermessenen Wechselwirkungsenergien funktioneller Gruppen mit chemisch wohldefinierten Fest-flüssig-Grenzflächen, verglichen mit geschätzten Werten aus der Literatur. Die Übereinstimmungen sind sehr vielversprechend, und es ist damit also denkbar, Datenbanken von Wechselwirkungsenergien an Fest-flüssig-Grenzflächen direkt mit Einzelmolekülen zu erstellen.<table-wrap>

<label>Table 1</label><h2>Bindungsenergien funktioneller Gruppen an verschiedenen Oberflächen, zum Beispiel chemisch definierten Self-Assembled Monolayers (SAM), oder Metallen und Oxiden im wässrigen Elektrolyten. Abschätzungen aus der Literatur sind zum Vergleich angegeben, Verweise dazu stehen in den Originalarbeiten.</h2><img src="https://media.graphcms.com/4ZoT4PpQWGZjp6tLDrtg">

</table-wrap>Wir haben insbesondere die Wechselwirkung von Dopamin bestimmt, die bei Meeresorganismen, zum Beispiel Muscheln, eine hohe Haftung in sehr hohen Salzkonzentrationen vermittelt. Dopamin hat in wässrigen Elektrolyten eine sehr hohe Wechselwirkungsenergie mit chemisch sehr verschiedenen Oberflächen wie Hydroxiden, Aminen, carbonsäuremodifizierten oder auch metallischen und oxidischen Oberflächen (Tabelle). Die Wechselwirkungsenergie ist in jedem Fall zumindest so stark wie die einer Säure-Base-Wechselwirkung. Säure-Base-Wechselwirkungen mit zirka 10 kT Bindungsenergie sind die Basis für die meisten technischen Klebstoffe. Entsprechend könnte Dopamin Potenzial als Klebstoff in der Medizin und in technischen Anwendungen haben.Mit AFM-Einzelmolekülspektroskopie lassen sich also essenzielle Größen molekularer Haftungsprozesse für – im Prinzip beliebig viele – verschiedene Wechselwirkungspaare quantifizieren. Molekulare Adhäsion kann zudem linear auf makroskopische Ebene skaliert werden, solange keine lateralen Wechselwirkungen die Adhäsion beeinflussen.1,2)Ein qualitatives molekulares Verständnis der zugrundeliegenden Prozesse ist damit aber noch nicht gegeben. Einerseits ist mit dieser Methode nicht direkt messbar, wie Elektrolytmoleküle den Wechselwirkungsprozess beeinflussen und wie die molekulare Bindungsgeometrie im Grundzustand aussieht. Aber ein Abgleich und Vergleich mit Simulationsexperimenten ist möglich. Andererseits ist es nicht klar, wo eine im AFM-Experiment geformte Bindung tatsächlich anknüpft – etwa an eine Fehlstelle oder an eine Fläche. Dazu werden ortsaufgelöste Experimente mit einkristallinen Substraten Antworten liefern.<h2>Fazit</h2>Mit dem AFM ist es in Zukunft auch möglich, die beschriebenen Untersuchungen ortsaufgelöst mit einer Genauigkeit im Nanometerbereich zum Beispiel an wohldefinierten Oberflächendefekten durchzuführen.Wie sich die molekulare Struktur bei einem Wechselwirkungsprozess an der Fest-flüssig-Grenzfläche qualitativ darstellt, ist nur durch Simulationen zu beantworten. AFM-Einzelmolekülmessungen liefert dabei erstmals Ergebnisse, die sich mit Ab-initio-Theorie direkt abgleichen lassen. Datenbanken dieser molekularen Messungen können als Maßstab für den quantitativen Abgleich mit Simulationen dienen. Simulationen liefern im Gegenzug qualitative atomistische Details der molekularen Grenzflächenprozesse.Das resultierende molekulare Verständnis trägt entscheidend zu einem funktionsbasierten Design grenzflächenaktiver Systeme bei.Markus Valtiner, Jahrgang 1981, hat an der TU Wien angewandte Synthesechemie studiert und im Jahr 2008 bei Guido Grundmeier am Max-PIanck-Institut für Eisenforschung (MPIE) promoviert. Anschließend arbeitete er bis 2012 als Postdoktorand bei Jacob Israelachvili an der University of California, Santa Barbara. Im Jahr 2012 kehrte er als Gruppenleiter in die Abteilung von Martin Stratmann am MPIE zurück, und im Jahr 2016 nahm er den Ruf an die Physikalische Chemie der TU Bergakademie Freiberg an. Hier untersucht er molekulare Strukturen und Prozesse an Fest-flüssig-Grenzflächen in biologischen, anorganischen und elektrochemischen Systemen.<div><img src="https://media.graphcms.com/XUUZj80wQQKRVNzF5tL6">

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<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 S. Raman, T. Utzig, T. Baimpos, B. R. Shrestha, M. Valtiner, Nat. Commun. 2014, 5, 7.</li><li>
2 T. Utzig, S. Raman, M. Valtiner, Langmuir 2015, doi: <ext-link ext-link-type="doi">10.1021/la504542f</ext-link>.</li><li>
3 T. Utzig, P. Stock, M. Valtiner, Angew. Chem. Int. Ed. 2016, 55, 9524.</li><li>
4 G. I. Bell, Science 1978, 200 (4342), 618–627.</li><li>
5 E. Evans, K. Ritchie, Biophys. J. 1997, 72, 1541–1555.</li><li>
6 C. Jarzynski, Phys. Rev. Lett. 1997, 78, 2690.</li><li>
7 F. Kienberger, V. P. Pastushenko, G. Kada et al., Single Mol. 2000, 1, 123.</li></ul>

Trendbericht

Physikalische Chemie 2016: Spektroskopie und Chemie mit kalten Ionen

Spektroskopie und Chemie mit kalten Ionen

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