Bildung & Gesellschaft

OStR.

Für den Chemieunterricht ist die Wöhlk-Probe auf Laktose noch immer ein interessantes Nachweisverfahren, auch wenn sie in Kliniklaboren heute überholt ist. Vor 150 Jahren kam ihr Erfinder auf die Welt.
Den Namen Alfred Wöhlk kennen Pharmaziestudenten, Mediziner und neuerdings auch Chemielehrkräfte durch die Wöhlk-Probe. Sie war eines der ersten Nachweisverfahren für Milchzucker, Laktose – allerdings nicht ganz spezifisch: Sie funktioniert auch mit Maltose, Cellobiose und Laktulose.Im Jahr 1904 suchte Alfred Wöhlk (1868 – 1949, Kasten S. 628) an der Pharmazeutischen Lehranstalt Kopenhagen nach „Spezialreagenzien auf die einzelnen Kohlehydrate“.1) Zwar gab es schon „überaus feine Reagenzien sowohl auf Pentosen als auch Hexosen“, aber beispielsweise Milchzucker von Traubenzucker zu unterscheiden, war noch nicht möglich.In Anlehnung an Experimente von Barfoed mit Natronlauge, „kohlensauren Alkalien“ und Kalkmilch untersuchte Wöhlk das Verhalten verschiedener Zucker mit Ammoniaklösung. Er „hätte fast schon das Weiterverfolgen dieses Versuchs aufgegeben“, als sich nach einer halben Stunde die Farbe der Versuchlösung änderte: Sie wurde kräftig rosa.Kurze Zeit später griff der Urologieprofessor Hans Malfatti aus Innsbruck die Versuchsvorschrift von Alfred Wöhlk auf und verbesserte sie, indem er wenige Tropfen 1-molare Kalilauge dazugab, um mit dem Verfahren den Urin von Patienten zu untersuchen.2) Die Kalilauge stellt sicher, dass die Lösung einen pH-Wert von mindestens 11 einhält. Urin ist normalerweise leicht sauer, der Toleranzbereich liegt zwischen pH 4,8 bis 7,6, und Urin puffert, etwa durch Phosphate. Außerdem beschleunigt die Kalilauge die Reaktion leicht.Streng genommen müsste die Reaktion nun „Wöhlk-Malfatti-Probe“ heißen, aber im Jargon unzähliger Pharmazie- und Medizinstudenten, Laboranten, Medizinisch-Technischer Assistenten und Laboratoriumsassistenten heißt sie nur „die Wöhlk-Probe“. Sie wurde fortan in unzähligen Arzt- und Krankenhauslabors angewendet, um beispielsweise eine relativ harmlose Lactosurie, also die Ausscheidung von Milchzucker im Urin, wie sie bei Schwangeren vorkommen kann, von einer wesentlich gefährlicheren Schwangerschaftsdiabetes zu unterscheiden.<h2>Neuer Nutzen für eine alte Reaktion</h2>Mitte der 1960er Jahre, mancherorts schon früher, verschwand die Wöhlk-Probe aus den Krankenhauslabors zugunsten schnellerer und effektiverer chromatografischer Methoden. An den meisten deutschen Universitäten ist die Wöhlk-Probe kein Lehrstoff mehr. Eine Variante mit Methylamin, Fearon‘s Test, steht noch in einem englischsprachigen Lehrbuch aus dem Jahr 2008.3) Der Reiz der farbenprächtigen Reaktion ist geblieben.Seit einiger Zeit gibt es für die Wöhlk-Probe erneut Aufschwung. Viele Menschen vertragen nach dem vierten Lebensjahr keine Laktose mehr:4) Im deutschsprachigen Raum liegt der Anteil bei unter 15 Prozent, weltweit bei etwa 75 Prozent. Dabei hängt die Intensität der Symptome von der Tagesdosis ab.4) Daher ist die Probe als einfacher halbquantitativer Nachweis von Milchzucker für den Chemieunterricht in der Schule interessant Sie macht die unterschiedlichen Laktosegehalte von Milchprodukten sichtbar.5) Zudem lassen sich die Ergebnisse für Milchprodukte und reine Zucker vergleichen.Die Wöhlk-Probe bietet sich auch am Ende eines schulischen Standardexperiments an, der Stärkespaltung durch Speichelamylase. Denn so lässt sich Maltose nachweise, die dabei als Hauptprodukt anfällt, neben Glukose, Isomaltose und anderen zufälligen Resten der endohydrolytischen Spaltung.6)<h2>Experiment: Milchprodukte und reine Zucker im Vergleich</h2>Bei der Wöhlk-Probe lässt man Milchprodukte sowie verschiedene Zucker mit Ammoniak reagieren, ein solches Experiment dauert etwa 45 Minuten. Eine genaue Versuchsbeschreibung ist unter <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.nachrichtenausderchemie.de/downloads" target="_blank">www.nachrichtenausderchemie.de/downloads</a></ext-link> herunterladbar.Getestet werden verschiedene, möglichst naturbelassene Milchprodukte ohne Farbstoffe und ohne Glukose-Fruktose-Sirup, zum Beispiel: Kuhmilch, laktosefreie Milch, Buttermilch, Kefir, Naturjoghurt, Crème fraîche, saure Sahne, dann noch Joghurt-Dessert mit Fruktose-Glukose-Zusatz und milchbasierte Kaffeesahne (Abbildung 1). Für den Vergleichstest eignen sich die Reinstoffe Laktose, Maltose, Cellobiose, Laktulose, Glukose, Galaktose, Fruktose, Arabinose, eine Mischung aus Galaktose und Glukose sowie Saccharose.<figure><img src="https://media.graphcms.com/WCDRKzEQSw69dXO644rY"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Milchprodukte, die sich für die Wöhlk-Probe in der Schule anbieten: Kuhmilch (1), laktosefreie Milch (2), Buttermilch (3), Kefir (4), Naturjoghurt (5), Crème fraîche (6), Saure Sahne (7), Joghurt-Dessert mit Fruktose-Glukose-Zusatz (8) und milchbasierte Kaffeesahne (9).</figcaption></figure>
Einige der in diesem Beispiel gewählten Zucker, vor allem Cellobiose (Dimer der Cellulose) und Arabinose (reduzierende Pentose), sind vermutlich nicht an allen Schulen vorhanden. Sie lassen sich durch andere reduzierende Zucker ersetzen oder werden einfach weggelassen. Laktulose ist preiswert in Apotheken erhältlich – sie dient als mildes Abführmittel und zur Verbesserung der Leberwerte.Von den unterschiedlichen Milchprodukten wird eine kleine Menge mit Einmalpipetten in nummerierte Reagenzgläser pipettiert; je nach Viskosität der Milchprodukte müssen die Spitzen der Einwegpipetten etwas gekürzt werden.In zehn weitere Reagenzgläser werden jeweils verschiedene Zucker gegeben und in Wasser gelöst (Abbildung 2). Anschließend werden jeweils Ammoniaklösung sowie tropfenweise verdünnte Kalilauge hinzu pipettiert.<figure><img src="https://media.graphcms.com/0AeolXU9TBaWAPoyRU2F"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Schüler beim Abwiegen von jeweils 50 mg verschiedener Zucker wie Laktose, Maltose oder Fruktose. Die Reinstoffe gibt er er danach in Reagenzgläser, löst sie in jeweils 2 mL Wasser, gibt Ammoniakwasser und Kalilauge hinzu und stellt sie in ein Wasserbad.</figcaption></figure>
Für ein Wasserbad wird in einem Becherglas Wasser auf 70 °C erhitzt und konstant auf der Temperatur gehalten. Die Reagenzgläser werden in das Wasserbad gestellt (Abbildung 3). Nach jeweils fünf Minuten kontrollieren die Experimentatoren die Reagenzgläser und nehmen zur Dokumentation des Reaktionsverlaufs jeweils ein Foto auf, etwa mit einer Smartphonekamera. Nach etwa 15 Minuten haben sich die Inhalte der Reagenzgläser unterschiedlich verfärbt.<figure><img src="https://media.graphcms.com/kWAbCNxoSuSs289VQyBH"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Reagenzgläser mit den Zuckerlösungen aus dem Schülerversuch im Wasserbad; bei 70 °C entwickelt sich nach etwa 12 Minuten die Färbung. <named-content>Fotos: Klaus Ruppersberg</named-content></figcaption></figure>
In jedem Fall sollte die Mischung von Galaktose und Glukose geprüft werden, um zu zeigen, dass Laktose in der Wöhlk-Probe nur dann eine rote Färbung hervorruft, wenn sie nicht hydrolysiert ist. In der Literatur7) steht fälschlicherweise das Gegenteil. Die Spaltprodukte Galaktose und Glukose produzieren jedoch lediglich eine gelbe Farbnuance, genau wie alle anderen reduzierenden Hexosen und Pentosen.Wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, lässt sich das Experiment in zwei Stufen durchführen: Erst werden die Zuckerlösungen getestet, die Ergebnisse protokolliert und erst im zweiten Schritt folgt der Test der Milchprodukte. Die Ergebnisse werden dann mit denen der Zuckerlösungen verglichen.<h2>Beobachtungen und Ergebnisse</h2>Vollmilch, saure Sahne und Kaffeesahne färben sich rosa – eine Mischung aus der lachsroten Färbung reiner Laktose und dem Weiß des Milchprodukts (Abbildung 4). Laktosefreie Milch färbt sich gelb, was sich mit der Probe der Mischung aus Galaktose und Glukose bei den reinen Zuckern korrelieren lässt.<figure><img src="https://media.graphcms.com/DBBugB2TgOV3OwU1eZ4w"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Ausgereifte Farben der Milchprodukte: Laktose enthalten Vollmilch (Vollm) , Buttermilch (Butter) , Kefir, saure Sahne (Saur) und Kaffeesahne (Cafes), angezeigt durch die rosa Farbe. Bei Buttermilch und Kefir ist die Färbung weniger ausgeprägt und somit auch der Laktosegehalt geringer.</figcaption></figure>
In gesäuerten Produkten wie Buttermilch, Kefir, Joghurt, Crème fraîche und Joghurt-Dessert zeigt sich je nach Produkt eine weniger intensive Färbung, was auf weniger Laktose als in der Vollmilchprobe hinweist. Bei diesen Milchprodukten bauen Enzyme oder Bakterien im Produktionsprozess die Laktose ab. Daher fällt das Ergebnis farblich anders aus als bei der Vollmilchprobe.Bei der Prüfung der reinen Zucker fällt auf, dass nicht nur Laktose die lachsrote Färbung hervorruft. Auch bei anderen Zuckern verläuft der Test positiv, zum Beispiel bei Cellobiose, Maltose und Laktulose (Abbildung 5).<figure><img src="https://media.graphcms.com/TlAhhYSGQHCduCCFUffP"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Fertig entwickelte Farben der Zuckerlösungen von links nach rechts: Laktose, Maltose, Cellobiose, Laktulose, Glukose, Galaktose, Fruktose, Arabinose, Glukose-Galaktose-Mischung und Saccharose.</figcaption></figure>
<h2>Die Chemie dahinter bleibt unbekannt</h2>Dass die Wöhlk-Probe bei Maltose funktioniert, ist seit dem Jahr 1904 bekannt. Neu ist hingegen ist die Erkenntnis, dass die Wöhlk-Probe ein Nachweis für alle Zucker des Maltosetyps ist, also eines Disaccharids, dessen zweites Monosaccharid oder alkalisches Umlagerungsprodukt Glukose ist. Dazu zählen etwa Maltulose oder Laktulose. Das erste Monosaccharid kann Glukose sein wie bei Maltose oder Galaktose wie bei Laktose. Vermutlich führt auch eine Schutzgruppe am C4-Atom statt des ersten Monosaccharids zur lachsroten Färbung.8) Diese Hypothese ist schwierig zu überprüfen, da die Wöhlk-Probe nur im Alkalischen funktioniert und sich der rote Farbstoff weder auskristallisieren noch mit anderen Lösungsmitteln ausschütteln lässt.Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich durch die Kosten für die Herstellung von Glukose mit einer Schutzgruppe am C4-Atom.Der Mechanismus der Reaktion beginnt mit einer Lobry-de-Bruyn-van-Ekenstein-Umlagerung, denn die Umlagerungsprodukte Laktulose und Maltulose bilden in der Wöhlk-Probe ebenfalls den typischen lachsroten Farbstoff, der bei 527 nm sein Absorptionsmaximum hat.8) Aber damals wie heute ist der genaue Mechanismus nicht bekannt, ebenso gibt die Struktur des roten Farbstoffs immer noch Rätsel auf.Die genaue Versuchsbeschreibung steht zum Herunterladen unter <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.nachrichtenausderchemie.de/downloads" target="_blank">www.nachrichtenausderchemie.de/downloads</a></ext-link>.<h2>Alfred Wöhlk (1868 – 1949)</h2>Der dänische Chemiker, Apotheker und Pharmazeut Alfred Wöhlk (andere Schreibweisen: Woehlk, Wøhlk) kam am 25. Juli vor 150 Jahren in Frederikshavn, an der nördlichen Spitze Dänemarks zur Welt. Er war das achte Kind von Clara Wilhelmine Wöhlk, geb. Knutzen, und Carl Andreas Nicolai Wöhlk,8) insgesamt hatte er zehn Geschwister.<figure><img src="https://media.graphcms.com/eleHkmzSRuyExYuc6QC0"><figcaption><label>Abb. 6: </label>Alfred Wöhlk (Mitte) und Mitarbeiter in der Trianglen-Apotheke in Kopenhagen. <named-content>Foto: Wiley, ChiuZ 2016</named-content></figcaption></figure>
Nach seinem Schulabschluss studierte er an der Pharmazeutischen Lehranstalt in Kopenhagen, wo er anschließend auch arbeitete und in deutscher Sprache publizierte.1) Im Jahr 1910 übernahm er als Inhaber die Trianglen-Apotheke in Kopenhagen, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1949 leitete. Die Apotheke in der Nordre Frihavnsgade 3 existiert noch heute.Neben seiner Arbeit als Apotheker publizierte Wöhlk für Danmarks Farmaceutiske Selskab (Dänemarks Pharmazeutische Gesellschaft) und erfand das Medikament Magnyl, eine dänische ASS-Variante mit Magnesiumoxid.8)<h2>Quergelesen</h2>Die Wöhlk-Probe, erfunden von einem dänischen Apotheker und verbessert von einem Tiroler Arzt, gibt es seit dem Jahr 1904. Sie ist eines der ersten Verfahren, um Glukose von Laktose zu unterscheiden.Die Probe weist über ein lachsrotes Reaktionsprodukt halbquantitativ Laktose nach.Allerdings reagiert die Probe auch auf andere Zucker wie Maltose oder Cellobiose positiv.Der genaue Mechanismus ist bis heute nicht bekannt, ebenso wenig die Struktur des Farbstoffs.<h2>Vitakasten</h2>Klaus Ruppersberg studierte von 1979 bis 1986 Chemie und Biologie für die Lehrämter an den Sekundarstufen II und I an der Universität Köln. Nach vier Jahren in der chemischen Industrie wechselte er zurück in den Lehrerberuf und war zuletzt Fachbereichsleiter Chemie an der Domschule in Schleswig. Seit dem Jahr 2014 ist er an das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik abgeordnet und arbeitet in der Abteilung Chemiedidaktik.<div><img src="https://media.graphcms.com/gPf5DudSQ9aiNGQFWuS4">

</div><a href="mailto:ruppersberg@ipn.uni-kiel.de">ruppersberg@ipn.uni-kiel.de</a>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 A. Wöhlk, Fresenius‘ Zeitschrift für analytische Chemie, 1904, 43, 670. <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://doi.org/10.1007/BF01520629" target="_blank">https://doi.org/10.1007/BF01520629</a></ext-link></li><li>
2 H. Malfatti, „Über den Nachweis von Milchzucker im Harne“, Centralblatt für die Krankheiten der Harn- und Sexualorgane. Georg-Thieme-Verlag, Leipzig, 1905, 68.</li><li>
3 J. Ochei, A. Kolhatkar, Medical Laboratory Science: Theory And Practice, 10. Auflage, Tata McGraw-Hill Publishing Company, Neu Delhi, 2008.</li><li>
4 M.C. E. Lomer, G.C. Parkes, J. D. Sanderson, J. D., Lactose intolerance in clinical practice – myths and realities. Alimentary Pharmacology &amp; Therapeutics 2008, 27, 93.</li><li>
5 C. M. Fleiss, „Kohlenhydrate im Chemieunterricht“, Plus Lucis 2013, 1–2, 40, <a href="http://pluslucis.univie.ac.at/PlusLucis/131/s40.pdf" target="_blank">http://pluslucis.univie.ac.at/PlusLucis/131/s40.pdf</a>.</li><li>
6 K. Ruppersberg, J. Hain, „Das Experiment: Wie kann der Lactosegehalt von Milchprodukten im Schulexperiment sichtbar gemacht werden?“ CHEMKON 2016, 23 (2), 90.</li><li>
7 K. Ruppersberg, „Stärkeverdauung durch Speichel – was kommt eigentlich dabei heraus? Ein einfacher Maltose-Nachweise am Ende der enzymatischen Hydrolyse von Amylose und die überraschende Anwesenheit von Glucose“, MNU-Journal 2016, 69 (5), 325.</li><li>
8 K. Ruppersberg, J. Hain, P. Mischnick, „Auf der Spur der roten Farbe: Ein historischer Lactose-Nachweis wiederentdeckt“, CHEMKON 2017, 24(4), 304.</li><li>
9 K. Ruppersberg, J. Hain, „Die Wiederentdeckung der Wöhlk-Probe“, Chem. Unserer Zeit 2016, 51, 106.</li></ul>

Artikel

Salmiakgeist und Milchzucker

Für den Chemieunterricht ist die Wöhlk-Probe auf Laktose noch immer ein interessantes Nachweisverfahren, auch wenn sie in Kliniklaboren heute überholt ist. Vor 150 Jahren kam ihr Erfinder auf die Welt. Den Namen Alfred Wöhlk kennen Pharmaziestudenten, Mediziner und neuerdings auch Chemielehrkräft...

Vor 50 Jahren erhielt der indisch-US-amerikanische Chemiker Har Gobind Khorana den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für seine Leistungen bei der Aufklärung des genetischen Codes. Dabei half ihm das Kupplungsreagenz Dicyclohexylcarbodiimid (DCC).
Har Gobind Khorana hatte ab dem Jahr 1952 in Vancouver/Kanada seine Forschungsarbeit mit dem besonderen Interesse für das Kupplungsreagenz Dicyclohexylcarbodiimid (DCC) begonnen, das er für die Synthese der Phosphatverbindungen ATP, cAMP und cGMP, sowie der Monoester der Ribonukleosid-2‘- und -3‘-Phosphate einsetzte.1)Erste Versuche zur einstufigen Synthese der Ester der Phosphorigen Säure hatte er schon 1951 bei Alexander R. Todd im britischen Cambridge durchgeführt.2) Hier begann er auch Di-p-tolyl-carbodiimid für die Synthese von Tetraestern von Pyrophosphaten einzusetzen.2) Intermediär entsteht dabei zunächst ein protonierter N,N‘-Diaryl-phosphatyl-isoharnstoff, der dann von einem zweiten Phosphatanion nukleophil angegriffen wird, wodurch Pyrophosphat und N,N‘Diarylharnstoff entstehen.Schritt für Schritt entwickelte er dann Synthesen der Phosphomonoester, die selektive Methylierung von Phosphomonoendgruppen bei verschiedenen Ribo-und Desoxyribo-oligonukleotiden mit DCC, bis ihm im Jahr 1961 die Totalsynthese des elementaren Bausteins der Biosynthese organisch aktiver Strukturen gelang – die Totalsynthese des Coenzyms A.3)<h2>Har Gobind Khorana (1922 – 2011)</h2>Har Gobind Khorana erhielt im Jahr 1968 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. Seine wegweisende Forschung begann er in England in Cambridge bei Alexander R. Todd mit der Anwendung des Kupplungsreagenzes DCC zur Synthese von ATP, cAMP und cGMP. 1958 in Vancouver synthetisierte er Ester der Phosphorigen Säure mit DCC. 1960 als Institutsdirektor in Wisconsin, Medison, gelang ihm die Synthese von Dinucleotid- und Trinucleotidsequenzen, die zur Entschlüsselung des genetischen Codes führten.Har Gobind Khorana, Aufnahme aus den 1950er Jahren. <named-content><a href="http://history.nih.gov/exhibits/nirenberg/HS7_nobel.htm" target="_blank">http://history.nih.gov/exhibits/nirenberg/HS7_nobel.htm</a></named-content><h2>Frühe Arbeiten mit Carbodiimiden</h2>Erstmals hatte Frank B. Dains N,N‘-Di-tolyl-O-methyl-pseudoharnstoffether im Jahr 1894 hergestellt und untersucht, eine Verbindung, die er durch Umsetzung von Di-tolylcarbodiimid mit Methanol erhalten hatte.4) Im Jahr 1909 beschrieb eine Forschergruppe der Universität Erlangen Carbodiimide: Sie hatten Diphenylcarbodiimid mit Phenol zur Reaktion gebracht und N,N‘-Diphenyl-O-phenyl-pseudoharnstoffether erhalten.5) Aber erst 1938 erschien wieder eine erwähnenswerte Arbeit, nämlich von Zetzsche et al. in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft.6) In dieser Arbeit ist die Darstellung von Carbodiimiden beschrieben, die dann eingesetzt wurden, um -C-O- und -C-N-Bindungen zu knüpfen, etwa um Carbonsäuren zu identifizieren. Dass bei der Umsetzung von aliphatischen Carbodiimiden mit Alkoholen zunächst O-Alkyl-pseudoharnstoffether entstehen, war allerdings schon vorher bekannt.4–7) Zudem hatte Dains bereits im Jahr 1899 mit O-Alkyl-pseudoharnstoffether-Hydrochlorid eine ionische Verbindung formuliert.4) Mit dem aromatischen Diphenylcarbodiimid stellten Lengfeld und Stieglitz 1894 mit Ethanol Diphenyl-O-ethyl-pseudoharnstoffether her.7) Auch aliphatische Carbodiimide kamen zum Einsatz, vor allem DCC, und es wurde vermutet, dass der nukleophile Angriff des Alkoxyanions bevorzugt am zentralen C-Atom erfolgt.8)<h2>Mit DCC zu den Trinukleotiden</h2>Im Jahr 1958 in Vancouver standen für Khorana und seine Mitarbeiter die Veresterung der Phosphorigen Säure mit DCC und anderen Carbodiimiden im Vordergrund, sowohl in organischen Basen, als auch durch Zusatz von Tri-n-butylamin.8) Sie synthetisierten cyclische Phosphate, Polynukleotide, Nucleosid-5‘-phosphoramidat, Peptide, Anhydride, Diester der Phosphorigen Säure und Tetrapyrophosphatester. Mechanistisch stellte sich ihnen die säurekatalysierte Addition von Methanol an Carbodiimide zum O-Methyl-isoharnstoff gemäß Abbildung 1 dar. Allein die Reaktion mit Essigsäure gliederten die Autoren in fünf Teilschritte bis zum Anhydrid.<figure><img src="https://media.graphcms.com/RRTryH5Q8uYr6J2lu3A3"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Erste Überlegungen zum Mechanismus der säurekatalysierten Reaktion von DCC mit Methanol.</figcaption></figure>
Im Jahr 1960 wechselte Khorana als Institutsdirektor an die Universität von Wisconsin. Hier widmete er sich intensiv der Synthese von kurzkettigen Desoxyribopolynukleotiden, den Dinukleotid- und den Trinukleotidsequenzen, die er zu Kettenlängen von 15 bis 20 Informationseinheiten oder sogar etwas länger aufbaute.9) Diese Synthesen wurden in verschiedenen Lösungsmittelsystemen mit dem Kupplungsreagenz DCC durchgeführt und chromatographisch aufgearbeitet.10)Die Versuchsserie setzte Khorana mit geschützten Dinukleotiden und DCC systematisch fort (Abbildungen 2 und 3): Im Jahr 1967 waren schließlich alle möglichen 64 Trinukleotide synthetisiert.11) Damit hatte er die vorausgegangenen Ergebnisse zur Entschlüsselung des genetischen Codes von Marshall Warren Nirenberg und Heinrich Matthaei bestätigt.12) Der genetische Code gilt für alle Lebewesen. Er besagt, dass die DNA Träger der biologischen Informationen ist, die durch die Reihenfolge von jeweils drei Nukleotiden festgelegt ist. Eine nicht überlappende Folge von je drei Nukleotiden steht für eine Aminosäure im Genprodukt Protein. Diese Dreierfolge wird Triplett oder Codon genannt; sie ist damit die Einheit des genetischen Codes.13)<figure><img src="https://media.graphcms.com/d5zw5RGiSL69KHCGB1bU"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Geschützte Mononukleotide und β-Cyanoethylthymidin mit DCC zu Dinukleotiden kondensiert.11)</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/gXx80kSOS56McDGEKalg"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Von Khorana synthetisierte synthetische Deoxyribopolynukleotide mit sich wiederholender Nukleotidsequenz.11)</figcaption></figure>
Dieser im Jahr 1968 mit dem Nobelpreis gewürdigte Erfolg war Khorana nur durch die konsequente Anwendung von DCC als Kondensationsmittel möglich geworden. Er bezeichnete die Nutzung von Carbodiimiden als den glücklichsten Zufall in seiner Forschung.14)Die entstehenden kurzkettigen Desoxyribopolynukleotide lassen sich direkt als reaktionsdirigierende Matrix mit RNA-Polymerase von Escherichia coli zur Vervielfältigungsreaktion einsetzen. So gelang Khorana schließlich der Aufbau von RNS-Strängen aus Di-, Tri-und Tetranukleotiden. In weiteren Versuchen wies Khorana auch deren biologische Aktivität nach.11) Dieses Verfahren führte zur in heutigen Laboratorien unentbehrlichen Polymerase Chain Reaction (PCR). Zudem entwickelte Khorana Totalsynthesen von Genen,15) etwa die Synthese eines Gens für das Ochsenrhodopsin (Sehpurpur).16)<h2>DCC in Kiel</h2>Anfang der 1960er Jahre war Rudolf Grewe, Direktor des Instituts für organische Chemie der Universität Kiel darauf aufmerksam geworden, dass Khorana DCC erfolgreich synthetisch einsetzte. Im Institut entwickelte dann Erich Vowinkel eine praktische Methode, um Arylalkylether mit DCC darzustellen;17) etwas später auch eine Methode zur Darstellung von Carbonsäureestern.18) Für diese Verfahren nutzte er die von Schmidt und Moosmüller entdeckte CuCl-Katalyse.19) Im ersten Reaktionsschritt bildet sich so ein O-AlkylN,N‘-dicyclo-hexylisoharnstoff in guter Ausbeute, die im zweiten Schritt mit einer Carbonsäure18) oder mit Phenol20) die gewünschten Produkte und den schwerlöslichen N,N‘-Dicyclohexylharnstoff (DCH) liefert.21)Nach welchem Mechanismus verlaufen diese zweistufigen Reaktionsfolgen? Khorana et al. hatten bereits 1958 vermutet, dass in Anwesenheit einer Carbonsäure der erste Schritt zum O-Acyl-pseudoharnstoff führt.8) Dieser reagiert im zweiten Schritt mit einem zweiten Carbonsäuremolekül zum Anhydrid. Mit einem Alkohol würde ein O-Alkyl-isoharnstoff als Primärprodukt entstehen.8) Da bei Vowinkels Zweistufenreaktionen nicht zu entscheiden war, welcher Mechanismus zugrunde liegt, schlug er am Beispiel der Aryletherbildung drei mechanistische Varianten für die Reaktion vor, ausgehend von Phenol mit einem primären Alkohol in Gegenwart von DCC.22) Da nach diesen Versuchen erneut nicht zu entscheiden war, welcher Mechanismus in Betracht kommt, sollte eine weitere Reaktion unter Einsatz des Sauerstoffisotops 18O als (18O)Phenol die Entscheidung bringen. Dies misslang jedoch, denn nach der Isotopenverteilung in den Produkten ließ sich lediglich ein Weg ausschließen, die cyclische Variante mit O-Phenylisoharnstoff als Primärprodukt.22) Der Reaktionsverlauf über die primäre Bildung eines Ionenpaars, des Alkyliso-uroniumkations mit dem Phenolatanion, schien danach am wahrscheinlichsten.Weitere Untersuchungen erfolgten nur noch über die Zweistufenreaktion, vor allem um die intermediäre Bildung eines O-Aryl-isoharnstoffs auszuschließen.20) Wird primär ein optisch aktiver sekundärer Alkohol wie (+)-2-Octanol in einem CuCl-katalysierten Zweistufenverfahren mit DCC umgesetzt, entsteht im ersten Schritt ebenfalls eine optisch aktive Verbindung, der (+)-(1-Methylheptyl)-N,N‘-dicyclohexylisoharnstoff. Das bedeutet, dass der nukleophile Angriff des Alkohols an das zentrale C-Atom des DCC ohne Beteiligung des asymmetrischen Alkohol-C-Atoms erfolgt sein muss, da anderenfalls eine teilweise Racemisierung erfolgt sein müsste.23) Der zweite Reaktionsschritt, die Umsetzung des optisch aktiven rechtsdrehenden Isoharnstoffs mit Essigsäure, führt dann zum optisch aktiven linksdrehenden Ester, dem (–)-(1-Methylheptyl)-acetat. Somit war der Drehsinn des aus diesem Ester nach Verseifung freigesetzten optisch aktiven 2-Octanols zu prüfen. Resultat: Der Drehwert entspricht im Wert dem des eingesetzten Alkohols, lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen. Es ist also eine totale Inversion eingetreten; die Reaktion verläuft stereospezifisch. Der nukleophile Angriff des Acetatanions an das intermediär auftretende(1-Methylheptyl)-Carbeniumkation kann nur von einer Seite erfolgt sein, da es anderenfalls zur Racemisierung gekommen wäre.23,24)Dieses Ergebnis stützte den von Vowinkel vorgeschlagenen mechanistischen Reaktionsweg B für die Zweistufenreaktion (N,N‘ -Dicyclohexyl-O-methyl-isoharnstoff → protonierter Isoharnstoff → Phenylmethylether plus DCH). Da eine stereochemische Inversion normalerweise das Hauptmerkmal einer SN2-Reaktion ist, wurde die Reaktionskinetik der Reaktion des O-(1-Methylheptyl)-N,N‘-dicyclohexyl-isoharnstoffs mit einer OH-aciden Verbindung, nämlich Essigsäure, untersucht.24) Die Ergebnisse sprachen nicht für eine Reaktion erster Ordnung, sondern für ein komplexeres Reaktionsgeschehen. Zusammengefasst verläuft diese Reaktion unabhängig von gering entstehenden Nebenprodukten in vier Reaktionsschritten, bei denen intermediär zunächst ein Ionenpaaar und anschließend ein Carbeniumkation auftreten. Da sowohl Merkmale einer SN1-Reaktion als auch Merkmale einer SN2-Reaktion nachweisbar sind, handelt es sich um einen Borderline-Mechanismus. Es ist nicht auszuschließen, dass die totale Inversion auch eine Folge des intermediär auftretenden (1-Methylheptyl)-carbeniumkations ist. Dieses ist total abgeschirmt durch die voluminösen Cyclohexylaminogruppen, sodass der nukleophile Angriff des Anions nur von einer Seite stattfinden kann.24)<h2>Fazit</h2>Khorana hatte Anfang der 1950er seine ersten Synthesen von Diestern und Triestern mit DCC einstufig in Lösungsmittelsystemen wie Pyridin oder durch Zusatz von Tri-n-butylamin oder anderen Basen durchgeführt. Dabei erreichte er die Addition von Alkoholen an Di-p-tolyl-carbodiimid in abgeschmolzenen Ampullen bei erhöhter Temperatur.25) Vowinkel entwickelte dagegen ein zweistufiges Verfahren, bei dem durch CuCl-Katalyse im ersten Schritt der O-Alkyl-isoharnstoff erhalten und isoliert sowie im zweiten Schritt mit einer OH-aciden Verbindung zum Endprodukt umgesetzt wird.Rolf Jaeger studierte Chemie in Freiburg im Breisgau und in Kiel. Er promovierte im Jahr 1971 bei Erich Vowinkel an der Universität Kiel. Nach erster Anstellung im öffentlichen Dienst wechselte er in die Ernährungsindustrie. Seit 1989 arbeitet er als Privatwissenschaftler.
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 a) H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1954, 76, 3517–3522; b) C. A. Dekker, H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1954, 76, 3522–3527.</li><li>
2 H. G. Khorana, A. R. Todd, Chem. Soc. (London) 1953, 2257–2260.</li><li>
3 a) H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1959, 81, 4657–4660; b) J. G. Moffatt, H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1961, 83, 663–675.</li><li>
4 F. B. Dains, J. Am. Chem. Soc. 1899, 21, 136–192.</li><li>
5 M. Busch, G. Blume, E. Pungs, J. Prakt. Chem. 1909, 79, 513–564.</li><li>
6 F. Zetzsche, E.Lüscher, H. E. Meyer, Ber. deutsch. Chem. Ges. 1938, A/B 71, 1088–1093.</li><li>
7 F. Lengfeld, 5. Stieglitz, Ber. deutsch. Chem. Ges. 1894, 27, 926–927.</li><li>
8 M. Smith, J. G. Moffatt, H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1958, 80, 6204–6212.</li><li>
9 T. M. Jacob, H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1965, 87, 2971–2981.</li><li>
10 E. Ohtsuka, M. W. Moon, H. G. Khorana, J. Am. Chem. Soc. 1965, 87, 2956–2970.</li><li>
11 H. G. Khorana, Nobel Lecture, 1968, 347, 350; <a href="https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1968" target="_blank">www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1968</a>.</li><li>
12 a) J. H. Matthaei, M. W. Nirenberg, Proc. Nat. Acad. Sci. USA 1961, 47, 150–1588. b) M. W. Nirenberg, J. H. Matthaei, Proc. Nat. Acad. Sci. USA 1961, 47, 1588–1602.</li><li>
13 Chemie-Lexikon Römpp [Hrsg.: J. Falbe, M. Regitz], Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 1990, S. 1518.</li><li>
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