Bildung & Gesellschaft

Die Wissenschaft kann nicht ohne Sprache existieren, und die Sprache beeinflusst, wie ein Wissenschaftler denkt. Zur Zeit hat Englisch hier die Hauptrolle. Das war nicht immer so und kann sich auch wieder ändern.
Als Nicht-Muttersprachlerin, die erst im November 2016 nach Deutschland umgezogen ist, habe ich bemerkt, wie verflochten Sprache und Wissenschaft sind. Als ich in Neuseeland Chemie studierte, ahnte ich nicht, dass ich jemals in einem Land forschen würde, in dem ich eine andere Sprache als meine Muttersprache spreche. Nun baue ich meine Forschergruppe auf der anderen Seite der Welt auf, in Kiel.Da es britische Siedler waren, die sich vor einigen hundert Jahren in Neusseland niederließen, ist Englisch meine Muttersprache. Der neuseeländische Akzent mit seinen Eigenheiten, etwa der Aussprache von „fish and chips” als „fush and chups“, ist für Nichtneuseeländer nicht immer verständlich. Trotzdem könnte ich es einfach als gegeben hinnehmen, dass Englisch die Sprache der Wissenschaft ist. Trotzdem lerne ich Deutsch und halte es für sinnvoll, in der Wissenschaft nicht nur Englisch zu verwenden.<h2>Die Abkehr vom Latein</h2>Sprache hat in der Wissenschaft viele Formen. Chemiker verwenden die Zeichen für die chemischen Elemente als Alphabet und stellen Stoffe damit dar. Während Chemiker diese Kurzschrift praktisch finden, ist sie anderen Wissenschaftlern fremd, etwa Mathematikern. Ebenso mühen sich Chemiker damit ab, mathematische Gleichungen zu verstehen. Kommunikation ist Teil der Wissenschaft und deshalb brauchen Wissenschaftler eine gemeinsame Sprache.Der Wissenschaftshistoriker Michael Gordin schreibt in seinem Buch Scientific Babel:1) „Eine Sprache der Wissenschaft muss zwei Merkmale haben: Sie muss die notwendige Flexibilität besitzen, um sich wechselnden Entdeckungen und Theorien anzupassen, und Wissenschaftler (oder, bevor dieser englische Ausdruck 1833 benannt wurde, Naturphilosophen) müssen sie auch benutzen.”Englisch war nicht immer die Sprache der Wissenschaft, sie ist es auch noch gar nicht so lange. Im Mittelalter und in früher Neuzeit hatte Latein diese Rolle. Wichtige Werke, etwa Philosophiae Naturalis Principia Mathematica aus dem Jahr 1687 von Isaac Newton, erschienen auf Latein. Erst allmählich begannen Wissenschaftler, in ihrer Muttersprache zu schreiben. Ihr Ziel: Sie wollten ihre Landesherren beeindrucken.1) So veröffentlichte Newton im Jahr 1704 Opticks auf Englisch und Galileo viele seiner Werke auf Italienisch. Latein geriet noch nicht in Vergessenheit, wurden die Erkenntnisse doch für andere Gelehrte nach und nach ins Lateinische übersetzt.Die Verlagerung weg vom Latein hin zu den Muttersprachen hatte Auswirkungen. Erkenntnisse lagen nun in unterschiedlichen Sprachen vor, daher mussten Wissenschaftler mehrere Sprachen beherrschen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren Englisch, Deutsch und Französisch die drei wichtigsten Sprachen in der Wissenschaft, wobei die Verteilung zwischen den Sprachen vom jeweiligen Fachgebiet abhing.1)In der Chemie dominierte Deutsch, und viele Chemiker, etwa die Namensgeber der Reaktionen, die Studenten heute lernen, publizierten in deutschsprachigen Zeitschriften. Otto Diels, der Namenspatron des Instituts, in dem ich jetzt arbeite, und Kurt Alder hatten ihre Cycloadditionsreaktionen in Justus Liebigs Annalen der Chemie und den Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft veröffentlicht, bevor sie dafür im Jahr 1950 den Nobelpreis für Chemie erhielten.2–3) Wegen der Bedeutung der deutschen Sprache für die Chemie belegte meine Mutter während ihres Studiums in Neuseeland in den 1970er-Jahren den Kurs „Deutsch für wissenschaftliches Schreiben“ – mehrere tausend Kilometer von Deutschland entfernt.Die Abkehr von der gemeinsamen Wissenschaftssprache Latein hatte eine weitere Folge: Der Leserkreis einer Publikation begrenzte sich auf diejenigen, welche die jeweilige Sprache verstanden. In einer Zeit chemischer Durchbrüche Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hing das Ansehen einer Entdeckung also nicht nur von der Zeitschrift ab, sondern auch von der Sprache, in der sie erschien.Dmitri Mendelejew erkannte, wie wichtig es war, in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache Russisch zu veröffentlichen, damit seine Arbeit über das Periodensystem einen größeren, internationalen Leserkreis erreichte. Er forderte daher auf 50 Kopien seiner Veröffentlichung im April 1869 in der Zeitschrift der russischen chemischen Gesellschaft einen alternativen Titel auf Französisch.1) Noch im selben Jahr erschienen seine Erkenntnisse auch auf Deutsch, in der Zeitschrift für Chemie.4) Dies war einfach, weil Friedrich Konrad Beilstein, einer der Herausgeber, zweisprachig aufgewachsen war, Deutsch wie Russisch beherrschte und den Text übersetzte.Mendelejews Arbeit bekam zwar die Aufmerksamkeit, die der Autor intendiert hatte. Allerdings verursachte ein Übersetzungsfehler einen zehn Jahre dauernden Streit mit Lothar Meyer über die Entdeckung des Periodensystems:5–8) Im deutschen Text stand „stufenweise“. Mendelejew hatte im russischen aber „periodisch“ geschrieben und hob dies hervor.6) Meyer argumentierte: „Mir aber scheint es eine zu weit gehende Forderung, dass wir deutschen Chemiker, außer den in germanischen und romanischen auch noch die in slawischen Sprachen erscheinenden Abhandlungen lesen und die deutschen Berichte über ihren Inhalt auf ihre Genauigkeit prüfen sollen.”7)<h2>Zwei Welten?</h2>Kürzlich untersuchte eine Studie anhand von Medien wie Wikipediaeinträgen oder Buchübersetzungen, wie unterschiedliche Sprachen die weltweite Kommunikation beeinflussen.9) Eine Analyse dieser globalen Sprachennetzwerke ergab, dass Englisch eine Drehscheibe ist, und Inhalte auf Englisch besser sichtbar und vernetzt sind. Deutsch und andere Sprachen, wie Chinesisch, Französisch und Russisch, haben ihre Rolle als lokale Drehscheibensprachen.Seit Englisch die Hauptsprache in der Wissenschaft ist, sprechen viele Wissenschaftler mindestens zwei Sprachen. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Naturwissenschaftlergemeinschaft von Zweisprachigkeit profitieren kann. Denn oft gelten Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, zu denen die Sprachwissenschaft ja zählt, als Gegensätze. So beschrieb der Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow sie wegen der wachsenden Unterschiede zwischen Naturwissenschaftlern und Intellektuellen aus der Literaturszene als „zwei Kulturen”.10) Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould charakterisierte beide Seiten mit dem griechischen Sprichwort über den listigen Fuchs, der viele Strategien benutzt, und den beharrlichen Igel, der eine erfolgreiche Strategie benutzt, und hob damit hervor, dass keine Strategie alleine funktioniert:11) Naturwissenschaft kann nicht ohne Sprache und die Beschäftigung mit ihr existieren. Der Soziobiologe Edward O. Wilson meinte: „Die größte Unternehmung des Geists war immer und wird immer die versuchte Verknüpfung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften sein.”12)<h2>Sprache und Weltsicht</h2>Mehrsprachige Menschen geben oft an, dass sich ihre Persönlichkeit mit der Sprache, die sie gerade nutzen, verändert. Eine im Jahr 2015 erschienene Studie hat untersucht, wie Deutsch- und Englischsprecher Ereignisse in Videofilmen wahrnehmen:13) Deutsch Sprechende neigen dazu, sich auf das Ergebnis zu konzentrieren, Englischsprachige auf die Aktion. Bilinguale Sprecher können ihren Fokus verändern, je nachdem, welche Sprache, sie gerade aktiv nutzen. Demnach verändert die Sprache die Perspektive einer Person. Dies beeinflusst auch die Wissenschaft, denn wissenschaftliche Erkenntnisse erfordern kreatives und unkonventionelles Denken. Deshalb kann die Wissenschaft von mehrsprachigen Wissenschaftlern profitieren.Als Nicht-Muttersprachler ist normalerweise Immersion, also das Eintauchen in eine fremde Sprachumgebung, die beste Art, eine Sprache zu lernen. Das funktioniert im Alltag, reicht aber nicht, um Fachbegriffe zu erlernen. Feine Nuancen der Sprache könnten in der Übersetzung verloren gehen.Wie kann man Deutsch für Chemiker lernen, wenn die meisten Publikationen und die Kommunikation in vielen Arbeitskreisen auf Englisch sind? Das war für mich die Frage, als ich meinen ersten Vortrag auf Deutsch halten sollte. Hier war die Angewandte Chemie eine wertvolle Ressource. Ich verglich die deutsche und die englische Ausgabe, um das wissenschaftliche Vokabular auf Deutsch zu erlernen.Ein Wissenschaftler könnte eine Fremdsprache auch durch Unterhaltungen mit Kollegen erlernen. Das Wichtigste dabei ist der Wille, etwas Neues zu lernen, und der Mut zu sprechen.Anna McConnell wurde im Jahr 1985 in Neuseeland geboren. Sie hat Chemie an der University of Canterbury studiert und 2010 an der University of Oxford promoviert. Nach zwei Forschungsaufenthalten am Caltech und an der University of Cambridge ist sie seit November 2016 Juniorprofessorin am Otto-Diels-Institut für Organische Chemie in Kiel. Ihre Forschungsinteressen sind supramolekulare Chemie und stimuliresponsive Käfigverbindungen.
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 M. D. Gordin, Scientific Babel, University of Chicago Press, 2015.</li><li>
2 O. Diels, K. Alder, Justus Liebigs Ann. Chem. 1928, 460, 98.</li><li>
3 O. Diels, K. Alder, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1929, 62, 554.</li><li>
4 D. Mendelejeff, Zeitschrift für Chemie 1869, N.S. 5, 405.</li><li>
5 D. Mendelejeff, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1871, 4, 348.</li><li>
6 D. Mendelejeff, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1880, 13, 1796–1804.</li><li>
7 L. Meyer, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1880, 13, 2043.</li><li>
8 L. Meyer, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1880, 13, 259.</li><li>
9 S. Ronen, B. Gonçalves, K. Z. Hu, A. Vespignani, S. Pinker, C. A. Hidalgo, Proc. Natl. Acad. Sci. 2014, 111, E5616-E5622.</li><li>
10 C. P. Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge University Press, London, 1959.</li><li>
11 S. J. Gould, The Hedgehog, the Fox, and the Magister‘s Pox Random House, London, 2003.</li><li>
12 E. O. Wilson, Consilience: The Unity of Knowledge, Knopf, New York, 1998.</li><li>
13 P. Athanasopoulos, E. Bylund, G. Montero-Melis, et al., Psychol. Sci. 2015, 26, 518.</li></ul>

Artikel

Vom Denken und Sprechen

Die Wissenschaft kann nicht ohne Sprache existieren, und die Sprache beeinflusst, wie ein Wissenschaftler denkt. Zur Zeit hat Englisch hier die Hauptrolle. Das war nicht immer so und kann sich auch wieder ändern. Als Nicht-Muttersprachlerin, die erst im November 2016 nach Deutschland umgezogen is...

Früher wurden Berufe und Geschäfte vererbt, aber gibt es auch eine Veranlagung zur Chemie? Betrachtet man die Familien von Carl Friedrich Philipp von Martius und Johannes Jaenicke, könnte man es meinen.
In der Gründungsversammlung der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin, DChG, im Jahr 1867 waren naturgemäß überwiegend Berliner Chemiker vertreten, Mit der Reichsgründung 1871 weitete sich auch die Zuständigkeit der Gesellschaft – sie pflegte den Zusammenhalt und die Traditionen deutscher Chemiker – und bildete eine große fachbezogene Familie, die heute in Gestalt der GDCh weiterlebt. Man könnte es, frei nach Goethes Roman, eine Wahlverwandtschaft nennen.Aber gibt es auch biologisch geknüpfte Chemikerfamilien? Der Beruf des Chemikers entstand erst zu einer Zeit, als die Vererbung etwa eines Handwerksberufs schon aus der Mode gekommen war. Dennoch finden sich bisweilen mehr als drei Chemiker in einem Familienverband, zum Beispiel in dem meines Doktorvaters und in meinem eigenen. Aber bleiben wir zunächst bei den Gründern der DChG.<h2>Gründerzeiten der Familie Martius</h2>Schriftführer der Gründungsversammlung war Carl Alexander Martius (Abbildung 1), der dem ersten Präsidenten August Hofmann nach Berlin gefolgt war und wie dieser in London die noch junge Chemical Society erlebt hatte. Sein Familienstammbaum ist bestens dokumentiert, und es finden sich darin Naturforscher, Apotheker und Chemiker.1)<figure><img src="https://media.graphcms.com/1dCOp565TsGRryhjGGGx"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Ein Portrait von Carl Alexander Martius ( 1838 – 1920) aus den Chemischen Berichten. <named-content>Quelle: Wikipedia</named-content></figcaption></figure>
Martius gründete mit Paul Mendelssohn-Bartholdy im März 1867, ein halbes Jahr vor der Gründung der DChG, die Gesellschaft für Anilinfabrication in Rummelsburg bei Berlin. Aus einer Fusion mit der Jordanschen Chemischen Fabrik in Berlin Treptow entstand dann die „Actien Gesellschaft für Anilin Fabrication in Berlin,“ seit 1897 unter dem Markennamen Agfa bekannt.2)Der Vater des DChG- und Agfa-Mitbegründers, Carl Friedrich Philipp von Martius (1794 – 1868), war ein prominenter Botaniker, obwohl er ursprünglich in Medizin promoviert hatte. Sein Lebenswerk, ausgehend von einer mehrjährigen Forschungsreise, widmete sich der Flora Brasiliens. Der bayrische König persönlich erhob Martius sofort nach dessen Rückkehr aus Brasilien in den persönlichen Adelsstand. Carl Alexanders Mutter, Franziska von Stengel, stammte aus einer Familie, die sich in diversen Tätigkeiten hervorgetan hatte, aber offenbar nicht besonders chemisch veranlagt war.Der Vater des Botanikers, Ernst Wilhelm Martius (1756 – 1849), stand allerdings der Chemie recht nahe. Ihm gehörte nämlich die Hof- und Universitätsapotheke in Erlangen (Abbildung 2), und ab 1818 war er der erste Dozent für Pharmazie an der dortigen Universität.<figure><img src="https://media.graphcms.com/FaKRYVgsSQiBuPgPhFZp"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Im Geburtshaus von Carl Friedrich Philipp von Martius in Erlangen ist heute die Hof-Apotheke untergebracht. Eine Tafel rechts neben dem Logo erinnert an den Botaniker. <named-content>Foto: Tors/Wikipedia</named-content></figcaption></figure>
<h2>Chemieerfahrung durch Heirat</h2>Ernst Wilhelm hatte geschickterweise in die Erlanger Hofapotheke eingeheiratet.Konkret lief das folgendermaßen ab: Von 1771 bis 1776 absolvierte Ernst Wilhelm Martius seine Lehre in der Wels’schen Universitäts- und Hof-Apotheke in Erlangen. Dann ging er auf ausgedehnte Wanderschaft und war unter anderem in Coburg und Regensburg in Apotheken tätig, wobei er in Regensburg auch die botanische Gesellschaft mitbegründete. Ab 1791 war er als Universitätsapotheker wieder in Erlangen. Am 13. Februar 1792 heiratete er Regina Weinl (1772 – 1856), die Tochter des Inhabers der Universitäts- und Hofapotheke Ernst Wilhelm Weinl (1732 – 1820). Als dieser sich in den Ruhestand verabschiedete, wurde Martius ab 1796 selbst der Inhaber dieser ehrwürdigen Institution. Sein Schwiegervater konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen, war er doch selbst zu der Apotheke gekommen, indem er Anna Barbara Wels geheiratet hatte, die Tochter des vorigen Inhabers Johann Adam Wels.Danach versiegen die Informationen in der Martius-Genealogie. Aber eine über drei Generationen vererbte Hofapotheke birgt ja schon einen erheblichen dynastischen Erfahrungsschatz im Umgang mit Chemikalien. So etwas kann durchaus, wie wir inzwischen zu verstehen beginnen, epigenetische Spuren hinterlassen. Da wundern wir uns nicht, wenn spätere Generationen Chemiker produzieren.Unter den Kindern des 1903 geadelten DChG-Gründers findet sich noch ein promovierter Chemiker, Curt von Martius (1883 – 1922).Ein weiterer (Bio-)Chemiker mit diesem Familiennamen trat im 20. Jahrhundert in Erscheinung: Carl Martius (1906 – 1993) war als Mitarbeiter von Hans Krebs an der Erforschung des Zitronensäurezyklus beteiligt, ist aber nur sehr weitläufig mit den anderen erwähnten Trägern dieses Namens verwandt.<h2>Chemie als Refugium: Die Familie Jaenicke</h2>Die Familie meines Doktorvaters Rainer Jaenicke (1930 – 2016) hat eine ungewöhnlich hohe Dichte an Chemikern. Sein Vater Johannes Jaenicke (1888 – 1984) war Fritz Habers Assistent, und seine beiden Brüder hatten ebenfalls Lehrstühle in chemischen Fächern inne. Auch in der folgenden Generation gibt es noch Chemiker.Johannes Jaenicke war Sohn eines Kaufmanns und hatte zunächst Archäologie, Philosophie und Kunstgeschichte studiert, bevor er zur Chemie fand.3) Er arbeitete ab 1916 am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie in Berlin, wo ihn Fritz Haber nach dem Ende des ersten Weltkriegs für sein abenteuerliches Projekt begeisterte, Gold aus Meerwasser zu gewinnen. Diese Arbeiten trieben die Entwicklung analytischer Methoden voran, brachten aber nicht, wie Haber beabsichtigt hatte, genügend Gold, um Deutschlands Reparationszahlungen abzudecken.4)Ab 1926 war Johannes Jaenicke Mitarbeiter der Metallgesellschaft in Frankfurt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte ihn und seine Familie in Gefahr, da seine Frau Erna Buttermilch (1895 – 1961) jüdischer Abstammung war. In dieser Notsituation war für die Söhne, die zwischen 1921 und 1930 geboren waren und nach der Nazi-Arithmetik als Halbjuden eingestuft wurden, eine Berufswahl kaum möglich. Studiengänge wie Medizin, Jura und das Lehramt waren Halbjuden schon früh verboten worden, während die Naturwissenschaften noch eine Zeit lang zugänglich blieben. Außerdem waren die Jaenicke-Kinder in der Situation auf die beruflichen und sozialen Kontakte des Vaters angewiesen, um überleben zu können.<h2>Walther Jaenicke</h2>Der älteste Sohn, Walther Jaenicke (1921 – 2010), wurde vom Rektor der Frankfurter Universität wegen seiner jüdische Abstammung abgewiesen, durfte aber in Gießen studieren. Als diese Universität kriegsbedingt geschlossen wurde, wechselte er nach Leipzig. Dort wurde er alsbald offiziell hinausgeworfen, konnte aber als Gasthörer weitermachen und bei Karl Friedrich Bonhoeffer (1899 – 1957) Forschungsarbeiten leisten, die ihm später als Promotion anerkannt wurden. Bonhoeffer, ein Bruder der im Jahr 1945 hingerichteten Widerstandskämpfer Klaus und Dietrich Bonhoeffer, war in den 1920er Jahren ebenso wie Johannes Jaenicke bei Haber am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin tätig gewesen.Ab 1943 fand Walther Jaenicke Unterschlupf in einem Forschungsinstitut, das angeblich kriegswichtige Arbeit leistete.5) Im Jahr 1946 durfte er in Leipzig promovieren und wurde später ordentlicher Professor für physikalische Chemie an der Universität Erlangen-Nürnberg.<h2>Lothar Jaenicke</h2>Auch Lothar Jaenicke (1923 – 2015) wählte aus dem eingeschränkten Fächerspektrum das Chemiestudium, bekam es verboten und studierte inoffiziell als Gasthörer bei Meerwein in Marburg weiter. Dieser schützte ihn im Jahr 1943 vor der Einberufung zur Organisation Todt – also vor der Zwangsarbeit in von Deutschland besetzten Gebieten, die vor allem in Baumaßnahmen bestand –, indem er ihn an das Unternehmen Schering in Berlin vermittelte. Dort arbeitete Jaenicke als Laborant. Nach Kriegsende kehrte er zu Meerwein zurück und schloss bei ihm sein Studium ab. Entgegen Meerweins Rat wandte er sich dann der Biochemie zu und erhielt in diesem Fach einen Lehrstuhl in Köln. Er heiratete die Chemikerin Doris Heinzel. Die vier Kinder des Paars sind den Naturwissenschaften weitgehend treu geblieben und haben in Archäologie, Chemie, Biologie und Pflanzenphysiologie promoviert.6)<h2>Rainer Jaenicke</h2>Rainer Jaenicke, der Jüngste, war bei Kriegsende erst 14 Jahre alt und somit von den nationalsozialistischen Studienbeschränkungen nicht mehr betroffen. Er studierte zunächst Botanik, landete aber letztendlich ebenso wie seine Brüder bei der Chemie und auf einem Lehrstuhl – in seinem Fall war es derjenige für biophysikalische Chemie an der Universität Regensburg.Warum er zur Chemie wechselte, ist nicht überliefert – auch die Botanik blieb ein lebenslanges Interesse, und er schwärmte oft von seiner Feinmechaniker-Ausbildung in den Werkstätten der Metallgesellschaft, die aber wohl eher eine Art Praktikum war. Vorbildfunktion und Erwartungsdruck von Vater und zwei älteren Brüdern mögen zu seiner Wahl beigetragen haben. Er betonte stets, dass er selbst anders als viele Professorenkollegen, seine Kinder nicht dazu gedrängt habe, die Tradition fortzusetzen, was insofern erfolgreich war, als alle drei andere Berufe wählten.Während die drei Brüder ihre jeweiligen Lehrstühle erwarben, blieb auch ihr Vater bis ins hohe Alter der Chemie treu. Johannes Jaenicke konnte die Kriegsjahre in Norwegen aussitzen und kehrte anschließend zur Metallgesellschaft zurück. Nach seiner Pensionierung sammelte er Materialien für eine Biographie Habers. Diese konnte er nicht selbst verfassen, da er im Alter erblindete. Aber alle existierenden Biographien beruhen auf seiner Materialsammlung, die von der Max-Planck-Gesellschaft archiviert wurde.<h2>Eine gemeinsame Kultur</h2>Merke: Eventuell erbliche Neigungen und Fähigkeiten machen noch keine Chemikerdynastie. Es müssen noch andere Faktoren hinzukommen wie ein zu vererbendes Geschäft oder eine Notsituation, die einen zwingt, auf vertrauten Pfaden zu wandeln. Ob auch die Chance, ein Lehrbuch wie den Holleman-Wiberg von seinem Vater zu erben, zum Chemiestudium verführt, hätte man den jungen Nils Wiberg (1934 – 2007) fragen können.Zudem ist die Chemie natürlich eher eine Kultur, die auch in der Kindheit prägen kann, als eine Berufsausbildung. So können, wie das auch in meiner Familie der Fall war, mehrere Generationen sehr verschiedene Berufswege gehen. Meine Großeltern absolvierten das Staatsexamen fürs Lehramt, mein Vater ging nach der Promotion in die Industrie, und ich selbst wechselte nach elf Jahren Forschung zum Schreiben. Dennoch verbindet das Fachstudium die Generationen – ebenso wie die größere Familie der Mitglieder der GDCh und ihrer Vorläufergesellschaften – mit einem gemeinsamen wissenschaftskulturellen Hintergrund.Michael Groß ist freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a>
<ul><h2>Literatur und Quellen</h2><li>
1 Stammbaum Martius: <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.martius-familie.de/register.php?personID=I11&amp;tree=martius&amp;generations=10" target="_blank">https://www.martius-familie.de/register.php?personID=I11&amp;tree=martius&amp;generations=10</a></ext-link></li><li>
2 M. Gill, H. Mustroph, Chem. Unserer Zeit 2014, 48, 424–438.</li><li>
3 H. Witte, Ber. Bunsenges. 1963, 67, 138–139.</li><li>
4 J. Jaenicke, Naturwiss. 1935, 23, 57–63.</li><li>
5 U. Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen: Chemiker und Biochemiker im Nationalsozialismus, Wiley-VCH 2001.</li><li>
6 H. Offermans, Chem. Unserer Zeit 2016, 50, 10–11.</li></ul>

Artikel

Vom Denken und Sprechen

Die Abkehr vom Latein

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...