Bildung + Gesellschaft

Mikrobielle Brennstoffzellen funktionieren auch mit Hefe als Biokatalysator. Für Versuche im Unterricht lassen sie sich einfach und aus preisgünstigen Materialien aufbauen und sind ungefährlich. Die Schüler:innen können so deren Funktionsweise selbst erschließen.
Mikrobielle Brennstoffzellen (microbial fuel cells, MFC) sind bioelektronische Zellsysteme, in denen Mikroben die Zersetzung organischer Substrate katalysieren und dabei Elektronen freisetzen. Chemische Energie wird somit durch Stoffwechselprozesse in elektrische Energie umgewandelt.1) Meist ist der Aufbau an einem Zweikammersystem orientiert, dem kontinuierlich Edukte zugeführt und Produkte entzogen werden (<xref rid="nadc20224127878-fig-0001" ref-type="fig">Abbildung</xref> 1).<figure><img src="https://media.graphassets.com/xAhkyLcDSaKZ9AbtQ649"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Aufbau einer mikrobiellen Brennstoffzelle im Zweikammersystem.</figcaption></figure>
Anode und Kathode sind durch eine Protonenaustauschmembran voneinander getrennt, aber leitend miteinander verbunden. An der Anodenreaktion sind elektroaktive Mikroben beteiligt, die immobilisiert an der Elektrode oder diffus im Elektrodenraum vorliegen. Die Kathode, an der der Sauerstoff reduziert wird, ist meist abiotisch. An der Anode wird das organische Substrat oxidiert. Während die freigesetzten Elektronen im externen Stromkreis nutzbar sind, gelangen Protonen durch die Membran in den Kathodenraum.Grundsätzlich eignen sich elektroaktive Mikroben und daraus bestehende Biofilme für MFC. Gebräuchlich sind Biofilme aus (gentechnisch veränderten) Escherichia-coli-, Shewanella- oder Geobacter-Stämmen.2) Die Art des extrazellulären Elektronentransfers (EET) auf die Anode entscheidet über die Leistung einer MFC. Bislang sind verschiedene EET-Mechanismen beschrieben (<xref rid="nadc20224127878-fig-0002" ref-type="fig">Abbildung</xref> 2): der direkte Elektronentransfer (DET) über transmembrale Redoxproteine, über bakterielle Protein-Nanowires ablaufender Elektronentransport und Elektronentransport über zelleigene oder künstlich zugesetzte (exogene) Mediatoren (mediierter Elektronentransport, MET).3)<figure><img src="https://media.graphassets.com/LwSLmcbkS1GSj8ffGpIA"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Mögliche Elektronentransferprozesse auf die Anode; links: direkter Elektronentransfer (DET) über transmembrale Redoxproteine; Mitte: über bakterielle Protein-Nanowires; rechts: über zelleigene oder künstlich zugesetzte (exogene) Mediatoren (mediierter Elektronentransport, MET).3)</figcaption></figure>
Bislang wurden in MFC außer Abwässern aus der Brauerei, der Stärkeverarbeitung, aus Synthese- und Färbeprozessen sowohl lignocellulosehaltige Biomasse als auch Deponiesickerwässer eingesetzt. Das Haupteinsatzgebiet von MFC ist demnach die Reinigung industrieller und kommunaler Abwässer, gleichzeitig liefern MFC elektrische Energie.Herausfordernd bei der Optimierung von MFC ist die Skalierbarkeit bei möglichst geringen Preisen. Die Elektrodenmaterialien müssen biokompatibel und leitfähig sein sowie eine hohe spezifische Oberfläche aufweisen. Als Elektroden werden bislang graphitbasierte Materialien und solche aus reinen Metallen oder Eisen-, Mangan- oder Platinlegierungen erprobt.2)MFC werden bei milden Bedingungen betrieben, meist bei Temperaturen zwischen 25 und 30 °C und neutralem pH-Wert.2) Dadurch eignen sie sich grundsätzlich für Experimente im Chemieunterricht.<h2>Anknüpfungspunkte und bisherige Einsatzszenarien</h2>Für das Thema mikrobielle Brennstoffzellen gibt es Anknüpfungspunkte in bundesweit allen Chemie-Lehrplänen der Sekundarstufe II.4,5) Bislang werden in der Schule hauptsächlich die medial präsenten Wasserstoff-Sauerstoff-Brennstoffzellen aufgegriffen, wie eine Befragung von 53 Mint-Lehrkräften in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2018 ergab. Die Lehrkräfte sprachen dem Thema Brennstoffzelle eine hohe Relevanz zu und brauchen Lowcost-Experimente und didaktische Materialien zu verschiedenen Brennstoffzelltypen. Von den häufig teuren Wasserstoff-Sauerstoff-Brennstoffzell-Bausätzen waren zumeist zu wenige vorhanden, um Schüler:innen damit experimentieren zu lassen.6)In einer Promotionsarbeit7) wurden daher Materialien und Versuche (weiter-)entwickelt sowie Versuchsanweisungen zu Niedertemperaturbrennstoffzellsystemen erstellt und zum kostenfreien Download auf der Homepage der Didaktik der Chemie an der Universität Wuppertal bereitgestellt.8)Die hier vorgestellten Versuche wurden sowohl in der Junior-Uni Wuppertal als auch im regulären Chemieunterricht einer zwölften Jahrgangsstufe eines G8-Gymnasiums erprobt.<h2>In der Schule: Hefe statt Bakterien</h2>Die in der MFC-Forschung bewährten Mikroorganismen sind nicht für den Einsatz an Schulen zugelassen. Als Ersatz eignet sich die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Diese ist ungefährlich, preiswert erhältlich, lagerfähig und einfach zu entsorgen. Weiterhin spricht für den Einsatz von Bäckerhefe in Schulversuchen, dass sowohl die Bäckerhefe als Biokatalysator als auch Saccharide als Substrate den Lernenden aus dem Alltag bekannt seien können.Ein Brückenexperiment zeigt die Redoxaktivität von Bäckerhefe. Dafür wurde der Nachweis der Redoxaktivität von Escherichia coli9) an die Bäckerhefe angepasst. Ein Zweitopfaufbau einer mikrobiellen Brennstoffzelle mit Bäckerhefe10) wurde vereinfacht, und auf Grundlage eines Aufbaus mit E. coli9) wurde ein Eintopfaufbau mit Bäckerhefe entwickelt.Das Ziel war, die Versuche an die Schulrealität anzupassen: Sie sollten reproduzierbar und innerhalb von 45 Minuten durchführ- und auswertbar sein, niemanden gefährden und nur aus den für die Funktion notwendigen Komponenten bestehen; diese sollten möglichst kostengünstig sein. Zudem sollten die Beobachtungen möglichst unmittelbare Rückschlüsse auf die Prozesse erlauben.Die Versuche zur mikrobiellen Brennstoffzelle mit Bäckerhefe sind Modellversuche, da Edukte Produkte nicht kontinuierlich zu- beziehungsweise abfließen.Statt Glucose eignet sich auch Saccharose als Substrat. In diesem Fall spaltet die Hefe die Saccharose in einem weiteren Stoffwechselschritt in Glucose und Fructose, sodass sich die Zellspannung um einige Sekunden verzögert aufbaut. (Abbildung 5 unten, S. 20).<h2>Redoxaktivität von Bäckerhefe</h2>Ein einfacher nasschemischer Versuch zeigt die elektrochemischen Prozesse in lebenden Hefezellen. Dazu wird eine Suspension aus 1 g Bäckerhefe in einer Glucoselösung (2 g Glucose in 15 mL Wasser) mit zwei bis drei Tropfen Methylenblaulösung (0,1 mol·L–1) versetzt. Gasblasen steigen auf, es entsteht Schaum, und nach wenigen Minuten ist die blaue Farbe nicht mehr sichtbar (<xref rid="nadc20224127878-fig-0003" ref-type="fig">Abbildung</xref> 3, S. 19).<figure><img src="https://media.graphassets.com/mEzyPP8oR5AqfzHbHtas"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Mit Methylenblau versetzte Hefe-Glucosesuspension, links unmittelbar nach dem Mischen, rechts nach einigen Minuten.</figcaption></figure>
Elektronen aus dem Stoffwechsel der Hefe reduzieren das Methylenblau zur Leukoform (<xref rid="nadc20224127878-fig-0004" ref-type="fig">Abbildung</xref> 4), sodass die blaue Suspension wieder die hefetypische bräunliche Farbe annimmt. Die Oberfläche des Schaums über der Suspension bleibt bläulich, da an der Grenzfläche Luftsauerstoff eine Reoxidation bewirkt (Abbildung 3 rechts).<figure><img src="https://media.graphassets.com/p74qXBD2Rj0iOkrHQfQg"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Struktur der oxidierten und reduzierten Form des Methylenblaumoleküls.</figcaption></figure>
Die Stoffwechselaktivität der Bäckerhefe ist temperaturabhängig, was ebenfalls anhand dieses einfachen Versuchs zu beobachten ist: Versetzt man eine raumtemperierte sowie eine auf 30 °C erwärmte Suspension mit jeweils gleicher Menge Methylenblaulösung, so ändert sich die Farbe der erwärmten Suspension schneller.<h2>Zweitopfaufbau</h2>Eine mikrobielle Brennstoffzelle als Zweitopfaufbau10) entspricht dem Aufbau der galvanischen Zelle, wie sie die Schüler:innen aus dem Chemieunterricht kennen. Sie können daher die Funktion der Halbzellen zuordnen und an bekannte Inhalte anknüpfen.Als Halbzellfassung dienen zwei 25-mL-Bechergläser mit Glucoselösung, in die jeweils ein Eisennagel als Elektrode hineinragt. In die Lösung im als Anodenraum fungierenden Becherglas werden 1,5 g Trockenhefe gerührt. Beide Bechergläser werden über ein verdrilltes Blatt Toilettenpapier miteinander verbunden, ein Multimeter zeigt die Zellspannung an (<xref rid="nadc20224127878-fig-0005" ref-type="fig">Abbildung 5</xref>).<figure><img src="https://media.graphassets.com/fIF1HmH0Sv2epEwC2gMk"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Mikrobielle Brennstoffzelle mit Bäckerhefe im Zweitopfaufbau; unten: Spannungsverlauf bei Betrieb.</figcaption></figure>
In der Hefehalbzelle steigt die Intensität der Gas- und Schaumbildung. Mit Glucose als Substrat im Anodenraum beträgt die Zellspannung etwa 400 mV, im Verlauf von 30 Minuten fällt sie ab. Die Stromstärke beträgt nach zehn Minuten 30 μA.Die Potenzialdifferenz zwischen den Elektroden entsteht aufgrund der Stoffwechselaktivität der Hefe. In der Anodenhalbzelle wird Glucose oxidiert. Dabei entsteht Kohlenstoffdioxid.Werden die Elektronen aus dem Hefestoffwechsel auf die Anode übertragen, können sie in einen externen Stromkreis überführt werden. Schließlich gelangen sie zur Kathode, wo sie mit Sauerstoffmolekülen aus der Lösung und über die Elektrolytbrücke gewanderte Protonen zu Wassermolekülen reagieren. Da in diesem einfachen Aufbau die Substratkonzentration sinkt und die Produktkonzentration steigt, fällt die Zellspannung allmählich ab.<h2>Eintopfaufbau</h2>Eine mikrobielle Brennstoffzelle mit Bäckerhefe lässt sich auch als Eintopfaufbau realisieren (<xref rid="nadc20224127878-fig-0006" ref-type="fig">Abbildung 6</xref>):5) Ein 100-mL-Becherglas dient als Fassung der Brennstoffzelle. Hinein ragen zwei Eisenbleche oder Eisennägel als Elektroden. Als Begrenzung der Anodenhalbzelle dient eine Eierkarton-Hülse, die mit einer großen Büroklammer am inneren Rand des Becherglases befestigt wird. In einem 25-mL-Becherglas werden 1,5 g Trockenhefe in 25 mL destilliertem Wasser suspendiert und 2,5 g Glucose eingerührt. Die Suspension wird in die Eierkartonhülse gegossen und gleichzeitig Glucoselösung ins Becherglas außerhalb des Eierkartons gegeben.<figure><img src="https://media.graphassets.com/e9DiHULcTiJGFsQelAxh"><figcaption><label>Abb. 6: </label>Mikrobielle Brennstoffzelle mit Bäckerhefe im Eintopfaufbau.</figcaption></figure>
Während des Betriebs entwickelt sich mit zunehmender Intensität eine Schaum auf der Oberfläche der Hefesuspension. Die Zellspannung beträgt bis zu 900 mV und erreicht nach 30 Minuten etwa 80 mV. Die Stromstärke liegt bei etwa 60 μA.Durch den Verzicht auf eine Elektrolytbrücke und die kompaktere Bauweise ist der Innenwiderstand geringer, sodass die Leistung höher als in der Zweitopfanordnung ist.<h2>Fazit</h2>Schüler:innen können die Versuche im Klassenverband durchführen, da diese ungefährlich und die benötigten Materialien preisgünstig sind. Durch die Reduktion auf die zur Funktionsweise des jeweiligen Versuchs notwendigen Komponenten und eindeutige Beobachtungen sind die Versuche didaktisch prägnant. Der Einbezug von mikrobiellen Brennstoffzellen in den Chemieunterricht schafft das Bewusstsein dafür, dass es für Brennstoffzellen mehr Einsatzgebiete als den Mobilitätssektor gibt.<h2>Die Autorinnen</h2>Diesen Beitrag haben Rebecca Grandrath (oben) und Claudia Bohrmann-Linde verfasst. Grandrath studierte Lebensmittelchemie sowie Biologie und Chemie für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen. Bis Juni 2021 promovierte sie im Arbeitskreis Bohrmann-Linde an der Universität Wuppertal. Derzeit entwickelt sie in der Didaktik der Technik eine App zur Unterrichtsplanung und arbeitet in der Chemiedidaktik im Projekt „Chemistry of and with Food Loss from Apples“. Bohrmann-Linde ist seit dem Jahr 2018 Professorin für Didaktik der Chemie in Wuppertal. Davor hatte sie die Professur für Didaktik der Chemie an der Universität Tübingen inne. <a href="mailto:bohrmann@uni-wuppertal.de">bohrmann@uni-wuppertal.de</a><div><img src="https://media.graphassets.com/W71j3hiITreYPKLHS5Ye">

</div><div><img src="https://media.graphassets.com/9BJokrnJRZyua8787Y02">

</div><h2>AUF EINEN BLICK</h2>Die Redoxaktivität der Bäckerhefe lässt sich wenigen Tropfen Methylenblaulösung in einer Hefe-Glucosesuspension zeigen.Für Schulversuche mit mikrobiellen Brennstoffzellen lassen diese sich als Zweitopf- oder als Eintopfzellen aufbauen.Der Zweitopfaufbau entspricht dem einer galvanischen Zelle, wie Schüler:innen sie aus dem Chemieunterricht kennen. Der Eintopfaufbau liefert mehr Leistung.Wissenschaftler:innen aus der experimentell-konzeptionellen Chemiedidaktik berichten an dieser Stelle über ihre Forschung.
<ul class="references"><li>
1 C. Santoro, C. Arbizzani, B. Erable, I. Ieropoulos, J. Power Sources 2017, 356, 225–244</li><li>
2 K. Obileke, H. Onyeaka, E. L. Meyer, N. Nwokolo, Electrochem. Commun. 2021, 125, 107003</li><li>
3 M. Agler-Rosenbaum, U. Schröder, F. Harnisch, Biol. Unserer Zeit 2013, 43, 96–103</li><li>
4 <a href="https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/151/KLP_GOSt_Chemie.pdf" target="_blank">www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/151/KLP_GOSt_Chemie.pdf</a> (Stand 13.2.2020)</li><li>
5 <a href="https://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/export-pdf/depot-pdf/ALLG/BP2016BW_ALLG_GYM_CH.pdf" target="_blank">www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/export-pdf/depot-pdf/ALLG/BP2016BW_ALLG_GYM_CH.pdf</a> (Stand 13.2.2020)</li><li>
6 R. Grandrath, C. Bohrmann-Linde, „Fuel cells in the chemistry classroom – a brief survey among German chemistry teachers“, ARiSE 2020, 1, 13–16</li><li>
7 R. Grandrath, Brennstoffzell-Systeme mit Fokus auf biologischen Brennstoffzellen: Entwicklung und Optimierung von schulgeeigneten Experimenten, Konzepten und Medien. Dissertation. Universität Wuppertal, Wuppertal 2021</li><li>
8 R. Grandrath, C. Bohrmann-Linde, MNU-Journal 2021, 74, 235–240</li><li>
9 H. P. Bennetto, Biotechnol. Educ. 1990, 1, 163–168</li><li>
10 G. Silveira, M. Ikegaki, J. M. Schneedorf, Green Chem. Lett. Rev. 2017, 10 , 32–41</li><li>
11 R. Grandrath, C. Bohrmann-Linde, CHEMKON 2019, 26, 196–202</li></ul>

Chemiedidaktik

Strom aus Bäckerhefe

Mikrobielle Brennstoffzellen funktionieren auch mit Hefe als Biokatalysator. Für Versuche im Unterricht lassen sie sich einfach und aus preisgünstigen Materialien aufbauen und sind ungefährlich. Die Schüler:innen können so deren Funktionsweise selbst erschließen. Mikrobielle Brennstoffzellen (mic...

Sie studierte und promovierte in Heidelberg: Lili Wachenheim (1893 &ndash; 1989). Die Chemikerin war die erste, die in einem Labor der BASF forschte. Ihre kurze Karriere begann im Jahr 1918.
Lili Wachenheim kam am 23. April 1893 in Mannheim als zweite Tochter von Eduard Wachenheim (1855 &ndash; 1898) und seiner Frau Marie, geb. Trautmann (1870 &ndash; 1934) zur Welt. Der Vater war 1880 in das Mannheimer Bankhaus von Ludwig Gernsheim eingetreten, das seitdem unter dem Namen &bdquo;Gernsheim und Wachenheim&ldquo; firmierte.1) Er starb jedoch, als seine T&ouml;chter noch Kinder waren.
Kurz nach seinem Tod lie&szlig; die Mutter Lili und ihre Schwester Hedwig (1891 &ndash; 1969) protestantisch taufen. Hedwig schrieb dar&uuml;ber: &bdquo;Die Taufe sollte die gesellschaftliche Zur&uuml;cksetzung der Juden von uns nehmen.&ldquo; Auch die Heirat mit einem Christen w&uuml;rde dadurch einfacher und die Assimilation vervollkommnet.2a) In der Zeit des Nationalsozialismus bot die Taufe allerdings keinen Schutz vor Verfolgung.
Nachdem Wachenheim die M&auml;dchen-Oberrealschule in Mannheim absolviert hatte, entschied sie sich f&uuml;r ein Chemiestudium. Sie immatrikulierte sich am 27. Oktober 1911 an der Universit&auml;t Heidelberg.3)
Im Lebenslauf in ihrer Dissertation gibt sie an, neben Chemie Mathematik und Physik geh&ouml;rt zu haben, und erw&auml;hnt unter anderem als akademische Lehrer Theodor Curtius (1857 &ndash; 1928), Emil Knoevenagel (1865 &ndash; 1921) und Max Trautz (1880 &ndash; 1960). Letzter war ihr Doktorvater.
Wachenheim hatte am 16. Dezember 1914 bei Curtius und am 6. Februar 1915 bei Trautz die Pr&uuml;fungen des Verbandsexamens bestanden.4) Das war Voraussetzung f&uuml;r die Promotion, f&uuml;r die sie die Arbeit &bdquo;&Uuml;ber das Zerfallsgleichgewicht von Nitrosylchlorid&ldquo; einreichte, vermutlich im Herbst 1916.5) Nach der erfolgreichen m&uuml;ndlichen Pr&uuml;fung am 28. Oktober 1916 erhielt sie am 27. Februar 1917 das Doktordiplom.6)
Hedwig berichtete in ihren Memoiren, ihre Schwester habe ihren Doktor der Chemie in Heidelberg mit ,,summa cum laude&ldquo; gemacht. Das hebt auch Max Trautz&lsquo; Empfehlungsschreiben hervor.7a)
Nach der Promotion hatte Wachenheim mit Max Bodenstein (1871 &ndash; 1942) zusammengearbeitet. Im Lebenslauf gab sie an, seit dem 1. November 1916 bei ihm Assistentin gewesen zu sein. Sie hat sich mit der Herstellung von Argon im Labor besch&auml;ftigt, wie eine gemeinsame Publikation zeigt.8) Es war Bodenstein, der der BASF empfahl, Wachenheim einzustellen.7b)
<h2>Eine kurze Zeit in der BASF</h2>
Am 30. Oktober 1917 war Lili Wachenheim zur <xref rid="nadc20224127295-fig-0001" ref-type="fig">Grundeignungsuntersuchung</xref> in der Ambulanz der BASF. Der Arzt bef&uuml;rwortete die Einstellung, doch Wachenheim trat erst zum 2. Januar 1918 in das Unternehmen ein. Die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags verz&ouml;gerte sich bis zum 19. M&auml;rz 1918.7c)
<figure><img src="https://media.graphassets.com/dGiXVPztQqUSONnlTeVl" />
<figcaption><label>Abb. 1: </label>Lili Wachenheim um das Jahr 1917 &ndash; dieses ist vermutlich ihr BASF-Bewerbungsfoto, das von einem externen Fotostudio aufgenommen wurde. Quelle: BASF Corporate History</figcaption>
</figure>
Wachenheim soll dem Direktor bei ihrer Anstellung mitgeteilt haben, dass sie zwar protestantischer Religion, aber urspr&uuml;nglich J&uuml;din gewesen sei. Daraufhin habe dieser geantwortet: &bdquo;Wenn wir schon eine Frau anstellen, dann kommt es darauf auch nicht mehr an.&ldquo;2b)
Lili Wachenheim ist die erste Chemikerin, die in der BASF angestellt wurde. Hinweise darauf, dass schon Marie Baum (1874 &ndash; 1964) dort besch&auml;ftigt gewesen ist,9a) lassen sich weder durch die dort verwahrten Akten noch durch Baums Autobiografie9b) belegen.
Bei der BASF arbeitete Wachenheim im Ammoniak-Laboratorium unter Leitung Alwin Mittaschs (1869 &ndash; 1953). Mittasch war ein Chemiker sorbischer Herkunft, den vor allem seine bahnbrechenden Arbeiten zur Katalysatorentwicklung f&uuml;r die Ammoniak-Synthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren bekannt machten.
Am 11. M&auml;rz 1918 legte Wachenheim den Forschungsbericht &bdquo;&Uuml;ber die Einwirkung von Stickstoffdioxyd auf Wasser und Salpeters&auml;ure in verschiedener Konzentration&ldquo; vor, zwei weitere folgten.
<h2>Weitere Stationen</h2>
Bereits zum 31. Dezember 1918 verlie&szlig; Lili Wachenheim das Unternehmen wieder,7c) vermutlich wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit. Schlie&szlig;lich galt es in der damaligen Zeit als unvereinbar, berufst&auml;tig und Ehefrau zu sein.
Am 8. Mai 1919 heiratete Lili den am 20. Oktober 1889 in M&uuml;hlhausen geborenen Chemiker Carl Heinrich (Henry) M&uuml;ller, der am 11. Januar 1915 in die BASF eingetreten war.7d) Auf der Heiratsurkunde wird Wachenheim als &bdquo;berufslose [&hellip;] Doktor philosophiae naturalis&ldquo; bezeichnet.10) Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor.
Am 30. April 1936 verlie&szlig; Heinrich M&uuml;ller das Unternehmen. Er war protestantischer Religion, wie auch das Leumundszeugnis in der Promotionsakte11) zeigt. Doch seine Frau und die Kinder wurden durch die nationalsozialistische Gesetzgebung zu &bdquo;Nicht-Ariern&ldquo;. Wie Wachenheims Enkel mitteilte, war das der entscheidende Grund f&uuml;r die Familie, Deutschland zu verlassen.
Im Dezember 1936 emigrierte sie in die USA. Die Passagierliste des Schiffs Hansa, das auf der Linie Hamburg &ndash; New York verkehrte, f&uuml;hrt Lili M&uuml;ller als Hausfrau.12) Heinrich hatte eine Anstellung in New York gefunden, als &bdquo;Technical adviser to the president and executive vice president of General Aniline &amp; Film Corporation&ldquo; (heute GAF).13) Lili war auch in den USA nicht berufst&auml;tig. Sie &uuml;berlebte ihren Mann: Er starb am 27. M&auml;rz 1964, sie am 12. Mai 1989 in den USA. Der Enkel erinnert sich an sie als eine &bdquo;wonderful <xref rid="nadc20224127295-fig-0002" ref-type="fig">grandmother</xref> and very, very smart&ldquo;. Eine Ur-Ur-Enkelin tr&auml;gt ihren Namen.
<figure><img src="https://media.graphassets.com/yPfgCY7USim7XmZo2ndw" />
<figcaption><label>Abb. 2: </label>Lili Wachenheim im September 1974 im Alter von 81 Jahren. Foto: aus den Best&auml;nden von Lilis Enkeln</figcaption>
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<h2>Die Autorin</h2>
Gisela Boeck, Jahrgang 1954, ist seit 2021 Gastprofessorin an der Technischen Universit&auml;t Riga und lehrt Geschichte der Chemie. Bis 2020 leitete sie an der Universit&auml;t Rostock die Chemieausbildung in medizinischen Studieng&auml;ngen. Boeck ist stellvertretende Vorsitzende der Fachgruppe Geschichte der Chemie. Sie hat in Rostock Chemie studiert und im Jahr 1981 auf dem Gebiet der Quantenchemie promoviert.
<div><img src="https://media.graphassets.com/KfUnuZZSXmk6zmEp5avf" /></div>

Der Text basiert auf Arbeiten von Eberhard Ehlers, Heribert Offermanns und Karin J. Schmitz.
F&uuml;r die Hilfe bei den Recherchen dankt die Autorin Isabella Blank-Elsbree (ESM/KV &ndash; Site Communications Ludwigshafen, Visitor Center &amp; Corporate History) und Jessica Drews (Agentur H&amp;C Stader), Claudius Stein (Ludwig-Maximilians-Universit&auml;t M&uuml;nchen, Universit&auml;tsbibliothek), dem Archiv der Universit&auml;t Heidelberg und besonders Eva Herrmann-Dresel.
<ul class="references">
<li>1 Karl Otto Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650&ndash;1945. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1984, S. 141&ndash;142</li>
<li>2 a) Hedwig Wachenheim: Vom Gro&szlig;b&uuml;rgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin. Berlin: Colloquium Verlag Berlin 1973, S. 10; b) ebenda, S. 83</li>
<li>3 Matrikel der Universit&auml;t Heidelberg 1386&ndash;1936: UAH M14: 1906/07&ndash;1916 S. 332, <a href="https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/uah_m14/" target="_blank" rel="noopener">digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/uah_m14/</a> (Stand 21. M&auml;rz 2022)</li>
<li>4 F&uuml;r die Namenssuche: <a href="https://wiki-de.genealogy.net/Berichte_des_Verbandes_der_Laboratoriumsvorst%C3%A4nde" target="_blank" rel="noopener">wiki-de.genealogy.net/Berichte_des_Verbandes_der_Laboratoriumsvorst%C3%A4nde</a> (Stand 21. M&auml;rz 2022); Druckfassung:Berichte des Verbandes der Laboratoriumsvorst&auml;nde 17 (1915), 21 und 32</li>
<li>5 Lili Wachenheim, Inaugural-Dissertation. Universit&auml;t Heidelberg 1917 (auch Z. anorg. allg. Chem. 1916, 97, 241&ndash;284)</li>
<li>6 Mitteilung des Universit&auml;tsarchivs Heidelberg vom 14. M&auml;rz 2022, Signatur: UAH H-V-5/15</li>
<li>7 ESM/KV &ndash; Site Communications Ludwigshafen, Visitor Center &amp; Corporate History: a) Empfehlungsschreiben von Max Trautz (Universit&auml;t Heidelberg) vom 20. Oktober 1917; b) Empfehlungsschreiben von Max Bodenstein vom 13. Oktober 1917; c) Unterlagen zu L. Wachenheim; d) Personalkarte Dr. Carl M&uuml;ller</li>
<li>8 M. Bodenstein, L. Wachenheim, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1918, 51, 265&ndash;270</li>
<li>9 a) Zum Beispiel: <a href="https://www.s197410804.online.de/Personen/baummarie.htm" target="_blank" rel="noopener">www.s197410804.online.de/Personen/baummarie.htm</a> (Stand 2. April 2022; b) Marie Baum: R&uuml;ckblick auf mein Leben. Heidelberg: Kerle 1950</li>
<li>10 <a href="https://www.geni.com" target="_blank" rel="noopener">www.geni.com</a>: Lili-Wachenheim-Mueller, <a href="https://t1p.de/u6phk" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/u6phk</a> (Stand 21. M&auml;rz 2022)</li>
<li>11 Ludwig-Maximilians-Universit&auml;t M&uuml;nchen, Universit&auml;tsbibliothek: Promotionsakte von Carl M&uuml;ller</li>
<li>12 Pers&ouml;nliche Mitteilung von Eva Herrmann-Dresel</li>
<li>13 <a href="https://www.geni.com" target="_blank" rel="noopener">www.geni.com</a>: Carl-Mueller, <a href="https://t1p.de/6ndl7" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/6ndl7</a> (Stand 2. April 2022)</li>
</ul>

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