Neue Ergebnisse der Biografieforschung liefern Zahlen zu verfolgten Chemikern, Laboranten und Studierenden und offenbaren deren Schicksale. Diese Menschen fehlten als Korrektiv bei der Gründung der GDCh.
Mit ihrer Gründung im Jahr...
puckillustrations /stock.adobe.com
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Wie wäre es, wenn wir zwei Chemiker auf dem Weg zum Paradies (Dantes „Göttliche Komödie“ lässt grüßen) belauschen könnten? Wie dem fiktiven Dialog unschwer zu entnehmen ist, lag ihr beruflicher Höhepunkt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, das Zeitgeschehen verfolgen sie aber nach wie vor mit Interesse.
Wie stark sich doch unsere GDCh seit ihrer Gründung entwickelt hat – ein Mitgliederzuwachs von 5 000 im Jahr 1949 auf heute 30 000 ist wirklich sehr beachtlich.
Ja, aber ich habe den Eindruck, dass sich in der Zwischenzeit viel verändert hat. Damals haben sich die Mitglieder untereinander viel mehr unterstützt, mit Hinweisen auf Forschungsergebnisse, mit Jobvermittlungen, mit besonderen Akzenten in der Aus- und Weiterbildung. Als Mitglied aufgenommen zu werden, kam einer Auszeichnung gleich. Vielleicht kann ein Blick zurück die GDCh noch attraktiver machen?
Das bezweifle ich. Geschichte wiederholt sich nicht immer. Die GDCh musste mit der Zeit gehen. Das ist ihr gelungen, deshalb steht sie heute gut da. Die Jobbörsen im Internet sind heute effizienter als die Stellenvermittlung der GDCh von damals. Ich bin außerdem beeindruckt von den Fortbildungsprogrammen der GDCh, die die neuen Medien sehr gut nutzen. Ich weiß, dass Sie sich schon immer für die Geschichte der Chemie begeistert haben. Aber der Blick zurück lenkt doch von der Zukunft ab.
Er lenkt nicht ab, sondern erinnert an Lösungsansätze, die meist aufgrund sehr ernster Probleme angestoßen worden sind. Ich denke da an das Versagen der Chemie bei Sicherheit und Transparenz, das die Unfälle in Seveso 1976 und Bhopal 1984 zu Katastrophen werden ließ. Oder den erzwungenen Verzicht auf das Superinsektizid DDT und das Leid, das die unvollständigen Tests des Schmerzmittels Thalidomid – bekannt als Contergan – bewirkt haben. All dies hat der Chemie gezeigt, dass sie umsichtiger und verantwortungsvoller mit ihren Produkten umgehen muss. Diese Erfahrungen sind zwar nicht eins zu eins auf die Gegenwart übertragbar. Sie können uns aber frühzeitig vor problematischen Konstellationen warnen.
Das klingt gut. Aber aus der Geschichte haben wir fast nie etwas gelernt. Was sagt uns denn die Geschichte, wie wir mit PFAS umgehen sollen? Diese Stoffgruppe tauchte erst Ende der 1940er Jahre in größerem Umfang auf. Als problematisch hat man sie erst um das Jahr 2000 wahrgenommen.
Was die Verbreitung von PFAS in der Natur angeht, gibt es in der Geschichte nichts Vergleichbares. Das gilt auch für Mikroplastik. Aber ich denke, wenn wir auf den Kern des Problems schauen, dann entdecken wir ähnliche Herausforderungen in der Vergangenheit: PFAS und Mikroplastikteilchen stehen im Verdacht, toxisch zu wirken. Man kann sich also anschauen, wie in der Vergangenheit mit toxischen Stoffen umgegangen wurde. Für Vergiftungen, beispielsweise mit Arsen und Quecksilber, waren die Strafen früher sehr drastisch.
Mit heute kann man das doch nicht vergleichen. Mit PFAS und Mikroplastik bringt man doch niemanden um.
Sicher nicht. Aber es geht doch darum, dort zu reagieren, wo etwas passiert oder passiert ist, wo es also wirklich zu Vergiftungen kommt. Von den über zehntausend PFAS-Substanzen sind die wenigsten problematisch.
Deshalb hat sich die EU jetzt auch für ein differenziertes Vorgehen entschieden,1) und wahrscheinlich wird es nur für problematische PFAS-Verbindungen Reglementierungen geben.
Lobenswert, aber leider nur eine Ausnahme. Denn heute werden vorschnell pauschale Verbote angestrebt, ohne sorgfältig zu prüfen, ob die Giftigkeit tatsächlich nachgewiesen ist. Man war kurz davor, Glyphosat wegen angeblicher Krebsgefahr zu verbieten. Auch Klebstoffe aus Acrylnitril2) standen irrtümlich unter Krebsverdacht. Jüngst wurde die Bevölkerung aufgeschreckt: Fünf Gramm Mikroplastik täglich auf dem Teller könnten der Gesundheit schaden. Der Schreck sitzt so tief, dass die Menschen sich vor Mikroplastik im Essen mehr fürchten als vor Listerien.3) Dabei unterscheidet sich Mikroplastik kaum von anderen Ballaststoffen im Essen.
Plädieren Sie ernsthaft für einen sorglosen Umgang mit Chemikalien wie in der Vergangenheit? Klar ist, dass Kunststoffe in der Regel sehr reaktionsträge sind und daher bis auf wenige Ausnahmen eher ungiftig sind. Aber sind wir wirklich sicher, dass Mikroplastik keinerlei Schaden anrichtet? Schäden, die wir noch nicht gesehen haben? Schäden, die vielleicht erst nach vielen Jahren auftreten? Es ist doch unverantwortlich, den ganzen Planeten von Pol zu Pol mit Mikro- und Nanoplastik einzunebeln, ohne die Folgen vorher abgeschätzt zu haben.
Der Einsatz neuer Materialien war schon immer mit Risiken verbunden, aber auch mit Chancen. Diese Verantwortung muss man ernst nehmen. Oft ist es aber schwierig, die Risiken rechtzeitig zu erkennen. Asbest galt anfangs als Wunderstoff: feuerfest, stabil, isolierend und eigentlich ungiftig. Doch nicht die chemische Eigenschaft, sondern die Faserstruktur4) kann Krebs auslösen. Damit hatte man nicht gerechnet.
Sie müssen zugeben, die Geschichte bringt uns hier auch nicht weiter. Man sollte die Kräfte besser auf die Gegenwart konzentrieren, um noch mehr und schneller Informationen über Materialien zu bekommen, damit man gefahrlos mit ihnen umgehen kann.
Etwa das Vorsorgeprinzip der EU? Das ist gut gemeint. Aber in letzter Konsequenz erstickt es alle Entwicklungen. Es gibt doch keine Methode, die Auswirkungen von Neuem in allen Aspekten vorherzusehen. Ohne Risiko wird es nichts Neues mehr geben. Blicken Sie in die Geschichte zurück: Das weltweit bewährte Schmerzmittel Acetylsalicylsäure würde die heutigen Zulassungsverfahren nicht bestehen, weil es bei Embryos von Ratten und anderen Tieren zu Fehlbildungen führt. Ein Beispiel von vielen.
Sollte man deshalb alle Zulassungsverfahren abschaffen? Das kann nicht die Lösung sein. Die vielen Tests liefern wertvolle Informationen über die Eigenschaften einer Chemikalie. Deshalb war es ein kluger Schritt, dass im Rahmen der EU-Chemikalienverordnung Reach alle Chemikalien geprüft werden müssen, bevor sie auf den Markt kommen. So schützt man Menschen in Zukunft vor gefährlichen Chemikalien.
Ich glaube, das bleibt ein schöner Wunsch. Vielleicht ist es auch gar nicht notwendig, dass der Wunsch in Erfüllung geht, denn Gefährlichkeit ist immer relativ. Auch das scheinbar harmlose Trinkwasser kann ab acht Litern tödlich sein, wenn es schnell getrunken wird. Apropos Trinkwasser – in der Antike wurde Blei unter anderem für Leitungen und Trinkgefäße verwendet, obwohl man auch damals wusste, dass es giftig ist. Man tolerierte das. Bis heute ist unklar, ob die römische Gesellschaft wirklich darunter gelitten hat. Trotz besserer toxikologischer Kenntnisse wurde in Deutschland bis 1996 Tetraethylblei als Antiklopfmittel den Kraftstoffen beigemischt. Käme heute wieder jemand auf diese Idee, empfände das die Gesellschaft wie einen Terroranschlag auf ihre Gesundheit. Das will ich nicht gutheißen. Aber die Geschichte lehrt, dass man sich nicht übertrieben fürchten muss. Es ist richtig, Risiken zu minimieren, also beispielsweise Bleirohre durch Kupfer- oder Kunststoffrohre zu ersetzen. Damit keiner sich vor dem Klaviertastenblei fürchten muss: Kleine Bleistückchen müssen zum Ausgleich von Dichteschwankungen des Holzes in die Tastenstruktur eingedrückt werden. Sonst würde sich jede Taste beim Anschlagen anders anfühlen.
Mit solchen Verharmlosungen aus der Geschichte bin ich nicht einverstanden. Die Chemie muss neu gedacht werden. „Rethinking Chemistry“ heißt es zu Recht. Die Chemie muss sich umstellen, nach vorne blicken und nicht zurück in selige Zeiten der Geschichte. Sie muss in Kreisläufen denken. Alles, was produziert wird, muss auch wieder einen Weg zurück zum Ausgangspunkt finden.
Der Rethinking-Gedanke, der uns an Kreisläufe erinnert, gefällt mir auch. Dabei denke ich weniger an die Geschichte der Chemie, sondern an die Geschichte der Natur. Die Natur ist ein gutes Vorbild für eine Kreislaufwirtschaft und sie ist sogar sehr effizient.
Genau. Und jetzt ist es höchste Zeit, dass die Chemie endlich mit dem Umstellungsprozess beginnt.
Einige Chemiefirmen haben schon umgestellt. Sie werben sogar mit „chemiefreien“ Produkten. Das finde ich bedenklich, dem Zeitgeist hinterherzulaufen.
Ein differenziertes Bild der Chemie zu vermitteln wäre wichtig. Aber in den unternehmensinternen Diskussionen bestimmen die Werbeabteilungen die Kommunikationspolitik. Vielleicht traut man sich dort nicht zu sagen, dass es ohne Chemie nicht geht? Denn dann müsste man auch vermitteln, dass heute jeder mehr Verantwortung im Umgang mit Chemikalien und Materialien übernehmen muss. Das betrifft Hersteller wie Verbraucher. Die Vermüllung der Strände, bei der die Wegwerfprodukte aus Kunststoff besonders auffällig sind, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Hier müssen Staaten und Staatenbünde wie die EU mehr Druck ausüben.
Auch dazu kann ich einen geschichtlichen Hinweis geben, nämlich aus der Zeit als das Auto erfunden worden ist. Als London um 1900 im Pferdemist zu versinken drohte, dachte man an große Entsorgungsanlagen5) für Pferdemist und Gülle. Doch schon wenige Jahre später ersetzte das Automobil die Pferdekutschen und das Problem war gelöst. Mir ist nicht bekannt, dass es damals einen Befehl der englischen Königin oder des Parlaments gab, eine neue Antriebstechnik zu verwenden. Die Umstellung erfolgte aufgrund der höheren Attraktivität des Automobils, auch wenn es nicht einfach war. Man musste viele Hürden überwinden, wie die Versorgung mit Treibstoff, die Einrichtung von Werkstätten und nicht zuletzt die Ausbildung der Fahrer.
Zugegeben, das ist ein schönes Beispiel aus der Geschichte. Aber der Handlungsdruck ist heute so groß – es ist keine Zeit, auf attraktive technische Konzepte und Lösungen zu warten.
Das bleibt die Frage! Führt die erzwungene oder die freiwillige Umstellung schneller zum Erfolg?
Mit Ihren Worten: Die Geschichte wird es zeigen. Aber erst in Zukunft.
Normalerweise kümmert sich Dieter Kunz (zusammen mit Helmut Ritter und beide gemeinsam im Auftrag der Seniorexperten Chemie) um die Koordination der Pro-und-Contra-Beiträge in den Nachrichten aus der Chemie. Für dieses „Schlaglichtheft 75“ hat Kunz selbst zur Feder gegriffen – und sich sowohl in die Pro- als auch in die Contra-Position hineinversetzt.
Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.