Artikel
Der große Unterschied
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Geschlechter-Unterschiede sind in der Medizin relevant, etwa im Immunsystem, bei Herzinfarkten und bei der Wirkung von Medikamenten. Und sie sind zu lange vernachlässigt worden. Es bleibt noch einiges zu verbessern, bis jede:r die richtige Behandlung bekommt.
Aristoteles behauptete, Frauen hätten nur 30 Zähne, also zwei weniger als Männer – und die europäische Wissenschaft hat ihm 2000 Jahre lang geglaubt. Erst im 17. Jahrhundert sah mal jemand nach und etablierte die Gleichberechtigung der Münder. Die Bibel versucht uns zu verkaufen, dass Eva als Sekundärprodukt aus einer Rippe Adams entstand. Ganz in diesem Sinne haben Anatomie-Lehrbücher jahrhundertelang den Mann als Normalzustand des Menschen dargestellt, von dem die Frau an einigen wenigen Stellen abweicht.
Die traditionelle Vorgehensweise, frauenspezifische Probleme als Abweichungen von der Norm oder gar Gedöns abzutun, ist heute als gefährlicher Irrtum erkannt. Sie wird bisweilen als „Bikini-Medizin” beschrieben, da sie oft davon ausging, dass Frauenkörper sich nur dort vom männlichen Standard unterscheiden, wo ein Bikini sie bedeckt.
Im Prinzip wissen wir seit Jahrzehnten, dass das zweite X-Chromosom auch außerhalb der Bikinizone Auswirkungen hat, und das auch bei Personen, die phänotypisch Männer sind, etwa weil sie den Chromosomensatz XXY tragen. Ebenso wirken sich die Geschlechtshormone in vielen Bereichen der menschlichen Gesundheit aus – unabhängig von der Bademode.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat die Medizin begonnen, sich um geschlechtsspezifische Unterschiede zu kümmern, etwa bei Autoimmunkrankheiten, Herz-Kreislauf-Problemen und der Wirkung von Medikamenten.
Ein anderes Immunsystem
Das Immunsystem unterscheidet sich deutlich bei Männern und Frauen. Das zeigt sich an verschiedenen Krankheitsverläufen. So war etwa das Risiko eines Covid-19-Verlaufs, bei dem eine Intensivbehandlung notwendig wird, für Männer dreimal so hoch wie für Frauen. Auch das Klischee „Männergrippe“ hat einen wahren Kern: Infektionskrankheiten wirken sich bei Männern schlimmer aus.
Die Kehrseite der Medaille: Das aktivere Immunsystem der Frauen schützt sie zwar besser vor Infektionskrankheiten, schießt aber auch leichter übers Ziel hinaus und löst Autoimmunkrankheiten aus. In der Evolution wurde dieser Nachteil aufgehoben durch den Vorteil, den Mütter ihren Kindern in der Schwangerschaft und in der Stillphase mitgeben. Ihre reichlich vorhandenen Antikörper erreichen über Nabelschnur und Muttermilch den Nachwuchs und verbessern dessen Überlebenschancen.
Heute wird die Säuglingssterblichkeit durch medizinische Hilfe gering gehalten: Lag sie in den Jahren 1886 und 1910 in Mecklenburg noch zwischen 16,2 und 17,1 Prozent, betrug sie im Jahr 2021 in Deutschland 3,0 Promille. Und der Übereifer des weiblichen Immunsystems zeigt sich vor allem daran, dass Frauen drei- bis viermal häufiger Autoimmunkrankheiten haben. Und diese werden oft vernachlässigt – sie kommen ja bei Männern kaum vor.
Autoimmunkrankheiten
Ein Beispiel ist die Sklerodermie. Sie beginnt als Bindegewebsveränderung der Haut, verbreitet sich aber in einem Drittel der Fälle auch als systemische Krankheit auf die inneren Organe (in Deutschland etwa 25 000 Fälle, Stand 2023). Ursachen und Mechanismen der Erkrankung sind noch unzureichend verstanden. Erst vor kurzem haben die Arbeitsgruppen von Franck Barrat an der Cornell University in New York und Jean-Charles Guéry an der Université de Toulouse einen Fortschritt gemacht. Wie sie herausgefunden haben, sind die zwei Rezeptoren TLR7 und TLR8 an der Aktivierung plasmacytoider dendritischer Zellen (plasmacytoid dendritic cells pDCs) beteiligt – damit treiben sie die chronische Fibrose voran.1)
Die Gene dieser beiden Rezeptoren liegen auf den X-Chromosomen. Der im Jahr 1961 entdeckte Vorgang der X-Inaktivierung in Zellen mit zwei X-Chromosomen sollte normalerweise eines der beiden Chromosomen stilllegen, sodass es nicht zur Proteinbiosynthese beiträgt. (Damit sollte theoretisch die Dosierung der X-spezifischen Gene bei Menschen mit XX und solchen mit XY gleich sein.) Wie Barrats Gruppe fand, umgehen die Rezeptor-Gene im zweiten X-Chromosom bei Sklerodermie-Patientinnen zu mehr als einem Drittel die X-Inaktivierung. In gesunden Zellen liegt die Rate bei 10 bis 15 Prozent. Dieser Effekt erhöht offenbar das Krankheitsrisiko bei Menschen mit zwei X-Chromosomen.
Besser altern mit XX
Das zweite X-Chromosom hat allerdings auch gute Seiten. Wie in den letzten Jahren immer deutlicher wurde, zieht die Inaktivierung des überzähligen Chromosoms dieses keineswegs zu 100 Prozent und für alle Zeiten aus dem Verkehr. Womöglich trägt die Expression bestimmter Gene des inaktivierten Chromosoms zu der geistigen Gesundheit älterer Frauen bei – das haben zumindest Margaret Gadek von der University of California, San Francisco, und Kolleg:innen ermittelt.2)
Die Forscher:innen untersuchten zunächst die Gen-Expression auf dem X-Chromosom älterer weiblicher Mäuse, wobei „älter“ zirka 20 Monate bedeutet – das entspricht etwa 65 Jahre alten Menschen. Zu diesem Zweck hatten sie die Chromosomen so manipuliert, dass sich unterscheiden ließ, ob eine mRNA vom aktiven oder vom inaktivierten X-Chromosom kam. Diese Untersuchung führten sie spezifisch für bestimmte Zelltypen des Gehirns aus und fanden heraus: 22 Gene, die, wenn sie abgelesen werden, das alternde Gehirn schützen, werden bei älteren Mausdamen von der X-Inaktivierung befreit.
Dies gilt zum Beispiel für das Protein Plp1, das bekanntermaßen das alternde Gehirn schützt. Es unterstützt die Bildung der Myelinschicht, die Nervenbahnen isoliert und damit ihre elektrische Leitfähigkeit gewährleistet. Wie drei verschiedene Verhaltensexperimente mit älteren männlichen und weiblichen Mäusen zeigen, verbessert eine verstärkte Plp1-Herstellung bei beiden Geschlechtern die kognitiven Fähigkeiten. Dies ist somit ein interessanter Ansatzpunkt, um die Alzheimer-Krankheit und andere altersbedingte kognitive Störungen zu behandeln. Es wurde bereits festgestellt, dass auch bei älteren Menschen das Plp1 bei Frauen verstärkt auftritt, also womöglich ebenso wie bei den Mäusen von einer Aufhebung der X-Inaktivierung profitiert.
Rätselhafte Ursachen
Diese Art von Phänomenen bereitet Evolutionsbiolog:innen Kopfzerbrechen. Denn die von altersbedingten Krankheiten betroffenen Frauen können sich nicht mehr fortpflanzen – ihre Gesundheit steht somit nicht unter dem Selektionsdruck der Evolution, zumindest nicht direkt.
Menschen gehören zu einer sehr kleinen Gruppe von Säugetieren, deren Weibchen eine Menopause durchlaufen und in ihrem letzten Lebensabschnitt unfruchtbar sind. Die anderen fünf bisher entdeckten sind Zahnwale, nämlich Orca, Kurzflossen-Grindwal, kleiner Schwertwal, Beluga und Narwal, wobei die beiden letztgenannten erst im Jahr 2018 in den Club aufgenommen wurden.
Um dieses evolutionsbiologische Paradoxon zu erklären, wird meist die Großmutter-Hypothese herangezogen. Demnach verbessern die mit Lebenserfahrung gesegneten Omas den Fortpflanzungserfolg ihrer Kinder und die Überlebenschancen ihrer Enkelkinder, was sich auf die Ausbreitung ihrer eigenen Gene auswirkt – zwar nur anteilig, aber immerhin.
Um diese Vermutungen auf eine solidere Grundlage zu stellen, hatten Samuel Ellis von der University of Exeter in Großbritannien und Kolleg:innen eine Idee. Sie untersuchten die Lebenserwartung der fünf Walarten mit Menopause und verglichen sie mit der ähnlicher Arten ohne post-reproduktive Lebensspanne.3) Die Studie kam zu dem Schluss: Die Wechseljahre evolvierten zumindest bei Walen als Verlängerung der Lebenserwartung, nicht etwa als Verkürzung der fruchtbaren Jahre.
Auch die Großmutter-Hypothese haben die Forschenden an diesen Walarten untersucht. Vermutlich waren zwei Dinge als Selektionsfaktoren wichtig: zum einen der Nutzen einer erfahrenen Seniorin im Familienverband, zum anderen, die Konkurrenz zwischen Müttern und Töchtern zu vermeiden, indem sich die Lebenserwartung der Großmütter verlängert, ohne die Fruchtbarkeit mitzunehmen. Nun bleibt nur noch zu klären, wie die Wale es mit der X-Inaktivierung halten.
Große und kleine Unterschiede
In vielen weiteren Bereichen der Medizin sind erst in diesem Jahrhundert die großen und kleinen Geschlechter-Unterschiede erkannt worden, deren Vernachlässigung lebensbedrohlich werden kann. So manifestieren sich etwa Herzinfarkte bei den Geschlechtern unterschiedlich. Beim typischen männlichen Herzinfarkt ist ein Herzkranzgefäß blockiert, das sich leicht aufspüren lässt. Bei Frauen betrifft die Verengung eher kleinere, fein verzweigte Blutgefäße (Kasten S. 78). Dieser Unterschied ist zwar inzwischen bekannt, wirkt sich aber immer noch auf die Reaktionszeit aus. Wie Vera Regitz-Zagrosek von der Charité in Berlin im vorigen Jahr dem Spiegel erläuterte, kommen Frauen mit einem Herzinfarkt im Mittel 30 Minuten später in die Klinik als Männer.
Hier ist weitere Aufklärung nötig, ebenso wie in vielen anderen Bereichen, in denen Symptome bei Frauen historisch nicht ernst genommen oder als Aspekt der allgemeinen Andersartigkeit von Frauen abgetan wurden. Diese Vorurteile haben dazu beigetragen, dass Erkrankungen wie etwa Endometriose immer noch unzureichend verstanden und nicht heilbar sind. Vernachlässigt, weil typisch weiblich – und nicht objektiv diagnostizierbar – ist beispielsweise Migräne; vernachlässigt, weil bei Frauen seltener, ist etwa Autismus.
Verbessern muss sich auch die experimentelle Forschung vom Tierversuch bis hin zum klinischen Test. Hier wurden weibliche Mäuse und Menschen oft ausgeschlossen, um etwaige Komplikationen zu vermeiden, die aus dem Menstruationszyklus oder einer unerwarteten Schwangerschaft entstehen könnten. Es müsste ein Grundsatz der gesetzlichen Gleichberechtigung sein, dass Medikamente, die bei Frauen und Männern zum Einsatz kommen, vorher in gleichem Umfang an beiden erprobt werden.
Bitte merken: So drückt sich ein Herzinfarkt aus
Zu den typischen Zeichen eines Herzinfarkts bei Frauen gehören der Krankenkasse Barmer1) zufolge
Engegefühl in der Brust
Schmerzen im Oberbauch
Übelkeit mit Erbrechen
Müdigkeit beziehungsweise Schwäche
Kiefer-, Nacken- oder Halsschmerzen
Rückenschmerzen
starke Kurzatmigkeit, Atemnot
Benommenheit
Schweißausbrüche
Schmerzen oder Ziehen in einem oder beiden Armen
Bei Männern ist das bekannteste Herzinfarkt-Symptom laut Deutscher Herzstiftung2) ein plötzlicher, sehr starker Schmerz, der überwiegend im Brustkorb auftritt – häufig hinter dem Brustbein („Elefant auf der Brust“). Der Schmerz hält im Normalfall länger als fünf Minuten an; er kann in Arme, Oberbauch, den Bereich zwischen den Schulterblättern, Rücken oder Hals und Kiefer ausstrahlen. Dazu kommen massives Engegefühl, Brennen in der Brust, Übelkeit, Erbrechen, Atemnot, Oberbauchschmerzen und Angstschweiß mit kalter, fahler Haut.
Der Autor
Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. michaelgross.co.uk
- 1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809
- 2 M. Gadek, C. K. Shaw, S. Abdulai-Saiku et al., Sci. Adv. 2025, 11, eads8169
- 3 S. Ellis, D. W. Franks, M. L. Kronborg Nielsen et al., Nature 2024, 627, 579–585
- 4 t1p.de/2wvx0
- 5 t1p.de/ghonl
- 1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809
- 2 M. Gadek, C. K. Shaw, S. Abdulai-Saiku et al., Sci. Adv. 2025, 11, eads8169
- 3 S. Ellis, D. W. Franks, M. L. Kronborg Nielsen et al., Nature 2024, 627, 579–585
- 4 t1p.de/2wvx0
- 5 t1p.de/ghonl
Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...
Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.