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Der Neandertaler in uns
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Der Medizin-Nobelpreis für Genomforschung an unseren vor 30 000 Jahren ausgestorbenen Verwandten mag auf den ersten Blick ironisch erscheinen. Aber er hebt hervor, dass diese anfangs exzentrisch anmutende Forschung inzwischen für die Medizin der heutigen Menschen nützlich ist.
Das menschliche Genom wurde mit Milliardenaufwand sequenziert und mit viel Fanfare im Jahr 2000 im ersten Entwurf und drei Jahre später in einer (immer noch lückenhaften) Standardversion veröffentlicht. Die darauf folgende Entwicklung überlegener Verfahren, die den Preis pro DNA-Baustein minimierte und die Sequenzierung Tausender menschlicher und anderer Genome ermöglichten, gab dem Genpionier George Church recht. Dieser hatte das Humangenomprojekt verlassen, da er zuerst in die Entwicklung besserer Verfahren investieren wollte. Die klassische Methode, die Frederick Sanger für einzelne Gene entwickelt hatte, war für Projekte von der Größe eines menschlichen Genoms ungeeignet.
Die fundamental anders konzipierten Methoden der zweiten und dritten Generation (etwa der Unternehmen Illumina beziehungsweise Nanopore) haben uns seither viele Genome von Menschen, Tieren und Pflanzen beschert. Das Earth Biogenome Project will bis zum Jahr 2028 alle bekannten Eukaryonten sequenziert haben – das sind rund 1,7 Millionen Arten.
Überraschung Neandertalergenom
Am überraschendsten war die relativ rasche Entschlüsselung des Erbguts eines ausgestorbenen Urmenschen, des Neandertalers (Foto). Konnte das Humangenomprojekt im Prinzip auf unbegrenzte Verfügbarkeit menschlicher DNA bauen, so standen dem diesjährigen Nobelpreisträger Svante Pääbo in den 1990er Jahren in München und dann ab 1999 am MPI für Evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig bei der Erforschung der Neandertaler nur Mikrogramm urzeitlicher DNA zur Verfügung.
Überdies war die Neandertaler-DNA in viele kurze Fragmente zertrümmert und außerdem mit Fremd-DNA etwa von Bodenbakterien verunreinigt. Die Herausforderung war also, die richtigen Fragmente zu identifizieren und diese wie ein Puzzle zum Gesamtbild zusammenzufügen. Der US-amerikanische Biochemiker Craig Venter hatte mit seinem Unternehmen Celera Corporation – im Wettlauf gegen das Humangenomprojekt – bereits ein menschliches Genom mit Shotgun-Sequencing gelöst, das mit Zufallsfragmenten arbeitet.
Als Konzeptbeweis publizierte Pääbo im Jahr 2006 die vorläufigen Ergebnisse, nachdem eine Million Basen sequenziert waren.1) Wie sich aber zeigte, war die Verunreinigung mit moderner DNA schlimmer als vermutet. Pääbos Arbeitsgruppe musste spezifische Markierungsmethoden entwickeln, um auszuschließen, dass Neandertal-DNA aus den urzeitlichen Proben mit moderner menschlicher DNA etwa von Mitarbeiter:innen im Labor verwechselt wurde.
Ein verrückter Aufwand, aber dank der neuen Sequenziermethoden machbar. Und im Jahr 2010 publizierte Pääbo einen Entwurf des Neandertalergesamtgenoms – nur ein Jahrzehnt nach dem Genom des modernen Menschen. Wie das urzeitliche Erbgut zeigte, trennte sich unsere Abstammungslinie von der des Neandertalers vor etwa 800 000 Jahren.
Paläogenomik
Die in diesem Projekt entwickelte Methodik der Sequenzierung urzeitlicher Genome führte zu einem blühenden neuen Forschungsgebiet (Paläogenomik). Dieses bevölkerten schon bald ehemalige Mitarbeiter:innen Pääbos, etwa Johannes Krause am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Urzeitliche DNA erhellt die Migrationsbewegungen der Menschheit etwa in der Völkerwanderung oder bei der ersten Besiedlung Amerikas. Sie verrät uns, wann und wo die Vorfahren unserer heutigen Nutztiere domestiziert wurden – so gab es etwa vor kurzem neue Familienstammbäume für Pferde und Esel.2.3)
Pääbo selbst entdeckte zufällig in einer Probe aus der Denisova-Höhle in Sibirien eine neue Unterart des Menschen, den Denisovaner. Dieser zunächst nur anhand seiner DNA identifizierte Urmensch war ein Zeitgenosse von Neandertaler und Cromagnon, dem anatomisch modernen europäischen Steinzeitmenschen. Der war vor rund 70 000 Jahren aus Afrika nach Asien und Europa gekommen. Weiteren Untersuchungen zufolge vermischten sich alle drei Gruppen. Deshalb finden sich heute noch DNA-Spuren von beiden in modernen Genomen. Alle Menschen nichtafrikanischer Abstammung tragen bis zu vier Prozent Neandertalergenom in sich. Viele Menschen in Südostasien weisen darüber hinaus bis zu sechs Prozent Erbteil der Denisovaner auf.4)
Pääbo wandte sich dann den großen Fragen zu, die seine Forschung aufwarf, etwa: Was sagt uns all das über uns selbst, die menschliche Identität? Was macht uns zum Menschen? Und was bedeutet es für unsere Gesundheit? Inzwischen kennen Pääbo und andere Expert:innen die Geografie der Genome von Denisovanern und Neandertalern so gut, dass sie diesen zahlreiche medizinisch relevante Eigenschaften zuordnen können.
Medizinische Einblicke
So geht zum Beispiel die Genvariante von EPAS1, die heutigen Menschen in Tibet das Leben im Hochgebirge erleichtert, auf das Erbe der Denisovaner zurück. Es wurden auch Neandertalgenvarianten identifiziert, die unsere Immunantwort auf Infektionen verändern, was sich im Zusammenhang mit Covid bemerkbar macht. Ein epidemiologisch entdeckter Risikofaktor, der weltweit für bis zu eine Million Todesfälle durch Covid verantwortlich gemacht wird, steuert die Expression von Chemokin-Rezeptoren, darunter CCR5. Dieser dient dem Aids-Virus HIV als Andockstelle. Die Neandertaler-Version des auf Chromosom 3 lokalisierten Gens wurde mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit der Ansteckung mit Aids verbunden, aber mit einer höheren Sterblichkeit durch Covid.5)
Viele genetisch vererbte Eigenschaften, die uns heute Sorgen machen, könnten für Neandertaler vorteilhaft gewesen sein und sich auch in anderen Urmenschen bewährt haben. Stärkere Blutgerinnung etwa kann Steinzeitmenschen nach einer Jagdverletzung oder einer schweren Geburt vor dem Verbluten geschützt haben. Das fortgeschrittene Alter, in dem uns diese Eigenschaft heute dem Risiko von Schlaganfall und Herzinfarkt aussetzt, war für die Neandertaler kein Thema.
Ebenso wenig dürften die Gene, die es vielen Menschen erschweren, das Rauchen aufzugeben, oder die nach Störung unseres Tagesrhythmus durch Jetlag oder Schichtarbeit zu Depressionen führen, den Neandertalern Sorgen bereitet haben. All diese Neandertalgenvarianten wurden bereits in den Genomen aus dem Altai-Gebirge in Sibirien aufgespürt.
Pääbos Gruppe identifizierte dann anhand eines in hoher Qualität sequenzierten Genoms einer Neandertalerin aus der Vindija-Höhle in Kroatien 16 weitere genetische Eigenarten, die für physiologische und medizinisch relevante Unterschiede bei uns sorgen. Darunter finden sich Unterschiede im Cholesterinspiegel und in der Eigenproduktion von Vitamin D sowie Risikofaktoren für Arthritis, Schizophrenie und Essstörungen.6)
Gleichzeitig durchforsteten Michael Dannemann und Janet Kelso vom Leipziger EVA-Institut die Daten von 100 000 Zeitgenossen in der UK Biobank. Sie fanden Hinweise darauf, dass Neandertalergene äußerlich sichtbare Eigenschaften wie Haar- und Hautfarbe beeinflussen.7) Allerdings lässt sich hieraus kein spezifisches Aussehen erschließen, das mit einer näheren Verwandtschaft zu Neandertalern korreliert. Im Gegenteil: Da die Neandertaler schon sehr viel früher als unsere Vorfahren aus Afrika auswanderten und sich in gemäßigten Breiten akklimatisierten, hatten sie mehr Zeit, sich an das gemäßigte und variablere Klima der nördlichen Breiten anzupassen und wiesen vielfältige Haut- und Haartypen auf.
Was uns hingegen an Neandertaler-Skeletten und Nachbildungen gleich auffällt, ist die charakteristische Schädelform. Philipp Gunz und Kollegen vom EVA untersuchten die Schädelform von mehr als 4000 modernen europäischen Menschen mit Magnetresonanztomographie und suchten nach Korrelationen mit Genvarianten.8) Sie fanden Allele auf den Chromosomen 1 und 18. Diese treten mit dem weniger rund geformten Neandertaler-Schädel auf und sind offenbar an der Steuerung nahe gelegener Gene für die Hirnentwicklung beteiligt.
Fruchtbare Forschung
Der Lebensweg Svante Pääbos, den dieser in einer Autobiografie dargelegt hat,9) zeigt, wie wichtig es für die Wissenschaft ist, abwegig und aussichtslos erscheinende Ideen mit Enthusiasmus zu verfolgen. Das Genom des Neandertalers zu sequenzieren, das war in den 1990er Jahren noch eine ziemlich verrückte Idee. Respekt gebührt der Max-Planck-Gesellschaft, die Pääbo auf dieser Grundlage im Jahr 1999 ein neues Institut anvertraute. Heute trägt diese Idee Früchte nicht nur in den grundlegenden Fragen unserer biologischen Identität und unseres Menschenbilds, sondern auch in der Physiologie und Medizin.
Der promovierte Chemiker Michael Groß ist freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. www. michaelgross.co.uk
AUF EINEN BLICK
Die Sequenzierung des Neandertalgenoms war schwierig, da nur wenig Substanz vorlag und diese stark verunreinigt war.
Vor rund 70 000 Jahren vermischte sich Erbgut von Neandertalern, Denisovanern und Cromagnon-Menschen.
Anhand des Neandertalers wurden mehr als 16 genetische Eigenarten identifiziert, die bei uns für physiologische und medizinisch relevante Unterschiede sorgen.
- 1 M. Groß, Nachr. Chem. 2007, 55, 146
- 2 P. Librado. N. Khan, A. Fages et al., Nature 2021, 598, 634
- 3 E. T. Todd, L. Tonasso-Calvière, L. Chauvey et al., Science 2022, 377, 1172
- 4 M. Groß, Nachr. Chem. 2019, 67(9), 60
- 5 H. Zeberg, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2022, 119, e21164351
- 6 K. Prüfer, C. de Filippo, SS. Grote et al., Science 2017, 358, 655
- 7 M. Dannemann, J. Kelso, Am. J. Hum. Genet. 2017, 101, 578
- 8 P. Gunz, A. K. Tilot, K. Wittfeld et al., Curr. Biol. 2019, 29, 120
- 9 S. Pääbo, Die Neandertaler und wir: Meine Suche nach den Urzeit-Genen, S. Fischer 2014
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