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Die Geschichte der Farbstoffsolarzellen wäre anders verlaufen, hätte Michael Grätzel sich an das gehalten, was ihm geraten wurde.
Michael Grätzel, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne, kann jeden Tag sehen, wie wichtig seine Forschung geworden ist: Die Brücke am Genfersee in Lausanne ist mit Farbstoffsolarzellen versehen, und auch in Basel findet man die Energiespender, zum Beispiel in Form farbiger Balkonverkleidungen. Farbstoffsolarzellen (dye sensitized solar cells, DSSC) basieren auf dem Konzept der Photosynthese und wandeln Licht über einen metallhaltigen farbigen Komplex in Elektrizität um. Dabei kann bei hohen Temperaturen die Hofmann-Eliminierung ablaufen – etwas, an das Grätzel denken muss, als er im August 2018 die August-Wilhelm-von-Hofmann-Denkmünze der GDCh in Liverpool erhält. „Vor der Hofmann-Eliminierung hatten wir immer Angst“, sagt er und lacht. Passiert sei das aber nie. „Natürlich gab es immer wieder Rückschläge, aber keine, die uns aus der Bahn geworfen hätten.“<figure><img src="https://media.graphcms.com/cr3nAp0rTJ62wNjdQiS8"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Michael Grätzel, Optimist von Natur aus. Foto: EPFL</figcaption></figure>
Grätzel, Jahrgang 1944, wuchs in Sachsen auf. Die Photosynthese als über alle Maßen effizienter Umwandlungsprozess packte ihn schon früh, und er wollte sie praktisch umsetzen. Daher kam als Studienfach Biologie für ihn nicht in Frage, er habe zwischen Physik und Chemie geschwankt: „Jetzt mache ich physikalische Chemie, das ist genau dazwischen.“Studiert hat Grätzel in Westberlin. Die Kriegsnachwirkungen habe man als junger Mensch gar nicht so gefühlt, sagt er, Westberlin war eine sehr schöne Stadt. Die Situation war ihm dennoch bewusst: „Wir konnten ja nicht raus, waren eingesperrt.“ Dass er darunter gelitten habe, glaubt er aber nicht.Sein Studium hat Grätzel in guter Erinnerung, auch wenn einige Vorlesungen „ein bisschen hinterm Mond“ waren: „Theoretische Chemie war wenig vertreten, Quantenchemie; als Postdoc musste ich Vorlesungen hören, um das nachzuholen.“ Dennoch: Insgesamt sei er „absolut zufrieden“.<h2>Energiewende</h2>Michael Grätzel ist auch mit 74 Jahren von Forschergeist erfüllt, und das nicht nur aus Spaß: Er sieht die Menschheit bezüglich des Klimawandels auf einem bedenklichen Stand. Das Problem würde ja zum Teil nicht mal ernst genommen, etwa vom derzeitigen Präsidenten der USA. Grätzel sieht seine Forschung auch als gesellschaftlichen Auftrag: „Der Klimawandel ist eine dringende Gefahr – man soll die Sache nicht weiter hinausschieben. Der Pariser Vertrag, das Zwei-Grad-Ziel muss eingehalten werden. Das ist ja auch die Motivation unserer Forschung, dass wir für die erneuerbaren Energien einen Beitrag leisten.“Hält Grätzel es für realistisch, dass das Zwei-Grad-Ziel eingehalten wird? Hier wiegt er den Kopf. „Es wird schwer werden“, sagt er, „aber wenn man heute sofort anfängt und nicht weiter alles Jahrzehnte hinausschiebt, kann es funktionieren.“ Dazu müssten, sagt Grätzel, die erneuerbaren Energien in den nächsten 50 Jahren um den Faktor 200 wachsen. Der Mann, der als Solarpionier gilt, sieht das Hauptpotenzial natürlich in der Photovoltaik. Und das nicht erst seit kurzem.<figure><img src="https://media.graphcms.com/PlP920nVSVuR4f5qxjhi"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Das Swiss Tech Convention Center auf dem Gelände der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne ist mit transparenten Farbstoffsolarzellen ausgestattet. Foto: David Martineau, Solaronix</figcaption></figure>
<h2>Forscher durch und durch</h2>Die Idee, die Photosynthese chemisch zu imitieren, fand Grätzel so überzeugend, dass er sich Mitte der 1970er Jahre trotz gegenteiliger Ratschläge nicht davon abhielten ließ, an Farbstoffsolarzellen zu forschen. Grätzel meint, diese Empfehlungen beruhten wohl auf dem damaligen Zeitgeist: „Während und nach meinem Studium war die Photovoltaik ganz in den Händen der Physik, und der Ruf dieser molekularen Systeme war schlecht, weil die Versuche nur schlechte Ergebnisse lieferten.“ Aber Grätzel brachte seine Ideen ein: „Wir sind von einer ganz anderen Seite gekommen, wir kamen ja von der Corey-Chemie mit unseren kolloidalen Halbleitern und haben die Probleme umschifft. Wir waren naiv und neugierig genug für Grundlagenforschung.“Warum hat Grätzel sich mit seinem Konzept nicht selbstständig gemacht? „Wollte ich“, sagt er, „aber die Patente gehören unserer Hochschule. Da konnte ich ja nicht mit einer eigenen Firma Konkurrenz machen.“ Stattdessen war er in Aufsichtsräten und als Berater tätig. „Inzwischen versuche ich aber, das auf ein Minimum herunterzudrehen – es gibt jetzt so viele erfahrene Leute, da muss man nicht unbedingt immer zu mir kommen.“ Denn: „Ich möchte ja auch weiter Forschung betreiben, und meine Zeit ist doch sehr begrenzt.“Der Solarpionier ist praktisch veranlagt; in seinem Vortrag anlässlich der Preisverleihung in Liverpool hat er eine Firma vorgestellt, die DSSC-betriebene E-Book-Reader herstellt. Deren Stellenanzeige hat er auch gleich an die Wand projiziert. „Bewerben Sie sich“, rät Grätzel, „die Solarindustrie boomt!“Heutigen Nachwuchswissenschaftlern rät er, mit Leidenschaft zu forschen – oder gar nicht. „Es gibt immer wieder Momente, in denen man zweifelt und schlechte Resultate hat, und das muss man durchstehen – mit einer Persistenz, aber auch einer Passion für die Forschung.“ Getreu diesem Motto kann Grätzel keine größte Enttäuschung in seinem Werdegang ausmachen: „Es passiert immer wieder, dass man gehofft hat, etwas realisiert sich, und das kommt dann nicht. Aber ich bin ein Optimist von Natur aus.“<h2>Zur Person: Michael Grätzel</h2>Michael Grätzel wurde am 11. Mai 1944 in Dorfchemnitz in Sachsen geboren. Er studierte Chemie an der Freien Universität Berlin (FU) und erhielt im Jahr 1968 sein Diplom. Zur Doktorarbeit wechselte er an die Technische Universität Berlin, wo er im Jahr 1971 bei Arnim Henglein über kurzlebige Stickstoff-Sauerstoffverbindungen promovierte. Für seine Habilitation, die er im Jahr 1976 abschloss, ging er zurück an die FU. Ab 1977 war er zunächst Associated Professor für physikalische Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, seit 1981 ist er Professor und Direktor des dortigen Photonik- und Grenzflächenlaboratoriums.Die Publikationen, die ihn berühmt gemacht haben, erschienen in den Jahren 1985 und 1991 (J. Am. Chem. Soc. 1985, 107, 2988 beziehungsweise Nature 1991, 353, 7377). Die Nature-Publikation wurde inzwischen über 20 000-mal zitiert.<h2>Chemiker – unter sich und von außen betrachtet</h2>Was denkt Grätzel, wie der zunehmende Nationalismus – also auch der Brexit – Wissenschaft und Forscher beeinflusst? Da seien die Forscher strikt dagegen, glaubt Grätzel. Er sagt: „Wir müssen miteinander, zusammen arbeiten. Ich habe noch nie einen nationalistischen Forscher getroffen – ganz im Gegenteil, wir sind stark beunruhigt über solche Tendenzen, die nur schädlich sein können.“Sind Chemiker Problemlöser? Oder doch eher Problemverursacher? „Vielleicht beides“, sagt Grätzel und lacht. „Die Chemie ist in den letzten Jahrzehnten in ein günstigeres Licht gerückt, öffentlich. Man sollte auf jeden Fall versuchen, die Reputation weiter zu verbessern.“ Und dazu könne jeder Chemiker beitragen: „Man selbst muss öffentlich Arbeit leisten. Es liegt nicht nur an den anderen; es liegt auch an Chemikern selbst, dass sie sich präsentieren, Fortschritte und die guten Seiten der Chemie aufzeigen. Und wenn es Probleme gibt, müssen wir die auch ernst nehmen.“Nachrichten-Redakteurin Eliza Leusmann traf Michael Grätzel beim Euchems-Kongress in Liverpool.

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Der Solarpionier

Die Geschichte der Farbstoffsolarzellen wäre anders verlaufen, hätte Michael Grätzel sich an das gehalten, was ihm geraten wurde. Michael Grätzel, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne, kann jeden Tag sehen, wie wichtig seine Forschung geworden ist: Die Brücke am Gen...

Warum tat sich die physikalische organische Chemie so lange schwer in Deutschland? Ein Grund dürfte die weite Verbreitung des „Lehrbuchs der organischen Chemie“ von Hans Beyer gewesen sein.
So wie es nach dem ersten Weltkrieg der Fall war, so schaute Deutschland auch nach dem zweiten Weltkrieg auf die chemische Industrie, um die zerschlagene Wirtschaft wiederzubeleben. Doch dass das Land in Besetzungszonen unterteilt war, verkomplizierte dieses Ziel. Um die deutsche Chemie wiederzubeleben, brauchte es Chemiker und chemische Anlagen, und die angehenden Chemiker brauchten Bücher und Gebäude.Ereignisse in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, führten in den meisten deutschen Universitäten dazu, dass Chemiestudenten ein einführendes Lehrbuch benutzten, das die Aneignung zeitgemäßen chemischen Denkens verzögerte.Autor dieses Lehrbuchs war Hans Beyer (1905 – 1971). Er hatte im Jahr 1932 in Berlin promoviert und seine Habilitation dort sieben Jahre später abgeschlossen. Er war seit 1933 Mitglied der Nazipartei, wurde zur Ostfront entsendet und in Stalingrad gefangen genommen, wo er zu den Russen überlief. Im Jahr 1946 wurde er in der sowjetischen Zone entlassen und im Jahr darauf Ordinarius in Greifswald, wo er hauptsächlich an Heterocyclensynthese forschte.1)<h2>Chemiestudium in der DDR: Hans Beyers Lehrbuch</h2>Beyer begann sein „Lehrbuch der organischen Chemie“, das erstmals im Jahr 1953 in Leipzig erschien, damit, dass die Elektronentheorie für jeden unentbehrlich sei, der die moderne organische Chemie zu verstehen suchte. Wie er anführte, hatte er die Nomenklatur und Symbolik übernommen, die in Deutschland am meisten verbreitet war: die von Ernst Moritz Arndt, Bernd Eistert und Eugen Müller (1905 – 1976), zusammen mit den Grenzformen.2)Wie einer seiner Kollegen einst erzählte, hatte Beyer sich der weit verbreiteten Abneigung gegen die sogenannte „Fliegendrecktheorie“ angeschlossen, also der Symbolisierung von Elektronen durch Pünktchen.3)Während Beyer im Jahr 1952 seinen Text schrieb, brach in der Sowjetunion die Resonanzkontroverse aus.4) Beyer ließ sicherheitshalber seinen Text von einem Kollegen in Leningrad prüfen; trotzdem fand später ein sowjetischer Kommentator Beyers Interpretation von Mesomerie suspekt.5)Die Gliederung der Themen im Buch hätte nicht traditioneller sein können: aliphatische, carbocyclische, aromatische, hydroaromatische und heterocyclische Verbindungen, gefolgt von Proteinen und Enzymen.Als Beyer jedoch daran ging, die Cis-trans-Isomerie zu erklären, ging er zunächst zurück zu van‘t Hoffs Tetraedern aus dem Jahr 1874, die über Kanten miteinander verbunden waren. Dann kam er auf Adolf von Baeyers Ringspannung zu sprechen, die die Doppelbindung als zweigliedrigen Ring behandelte. Nachdem er keine dieser Theorien als stichhaltig befand, zollte Beyer Johannes Thiele Respekt und schloss damit, die Antwort liege bei der Quantenmechanik − ohne dies weiter auszuführen.6)<h2>Theorie? Scheinbar nichts für organische Chemiker</h2>Im Jahr 1955 führte Beyer σ- und π-Bindungen ein und zeigte, wie sie an der Doppelbindung beteiligt sind. Dabei zitierte er Pauling und Ingold mit einer Begründung dazu, warum die Rotation sterisch gehindert ist − das allerdings nur in einem Absatz in kleiner Schrift. Ein paar Seiten später, wenn es um die Cis-trans-Isomerie geht, erscheinen erneut die Tetraeder von van‘t Hoff, und wieder erfährt der Leser, dass das Model nicht länger gültig ist, mit Verweis auf das Orbitalmodell (aber auch das in nur einem Absatz in kleiner Schrift).7) Kein Wunder, wenn Studenten verwirrt waren oder schlussfolgerten, dass Theorie für organische Chemiker nicht wichtig war. Es ist bemerkenswert, dass diese und die vorhergehende Ausgabe des Buchs sich stark unterschieden.Warum beriefen sich Walter Hückel und Hans Beyer so oft auf die Quantenmechanik, aber benutzten sie dann nicht? Chemiker in wissenschaftlich hoch entwickelten Ländern wie den USA oder Großbritannien hatten eingesehen − und fühlten sich verpflichtet, das auch in Lehrbüchern zu erwähnen −, dass die Quantenmechanik essenziell ist, um chemische Phänomene zu erklären. Trotzdem begriffen nur wenige Chemiker – vor allem wenige Organiker – die Bedeutung der Fachsprache, etwa des Überlappungsintegrals. Noch weniger konnten sie quantenmechanische Berechnungen durchführen. Der einzige deutsche Quantentheoretiker, der sich für chemische Probleme interessierte, war Erich Hückel (Abbildung 1) − und alles, was der in Sachen Anschaulichkeit zu bieten hatte, waren grafische Darstellungen von Wellenfunktionen, die für den Uneingeweihten wohl unverständlich waren. Ein Beispiel zeigt Abbildung 2.<figure><img src="https://media.graphcms.com/jhmWgx5RteG7JTsYzh2U"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Erich Hückel machte Quantenchemie unter Organikern salonfähig.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/BBlFXpJiRaaEEIJcbvVi"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Nach Energie sortierte π-Orbitale von Benzol nach dem Hückel-Molekülorbitalmodell (HMO), einer Methode der semiempirischen Quantenchemie. Mit HMO lassen sich Molekülorbitale in konjugierten Systemen abschätzen; sie ergibt gute Ergebnisse mit wenig Rechenaufwand.</figcaption></figure>
Hier spielte Pauling eine entscheidende Rolle, wenn auch eher über den Zugang der Valenzbindung als über den der Molekülorbitale. Die US-Amerikaner waren maßgeblich daran beteiligt, eine neue Grenzdisziplin auszuarbeiten: die chemische Physik, die die Standpunkte von Chemikern und Physikern zusammenbringen sollte.8)Welche pädagogischen Schwächen Beyers Buch (Abbildung 3) auch hatte: Es wurde in der organischen Chemie in ganz Deutschland tonangebend, nicht zuletzt, weil es in Westdeutschland sehr kostengünstig war. Auch war es auf Reaktionen und Synthesen ausgerichtet, mit möglichst wenig Gewicht auf der Theorie, was den meisten deutschen Professoren und Industriemanagern recht war. Als Siegfried Hünig (geboren 1921) sich um das Jahr 1960 bei Industriechemikern für eine Reform des Lehrplans einsetzte, erwiderten diese: „Wir müssen Produkte verkaufen, keine Theorien.“ Carl Duisberg sprach in den 1920er Jahren übrigens beinahe identische Ermahnungen gegenüber Richard Willstätter aus.9)<figure><img src="https://media.graphcms.com/T62Rgg8tQiiWadLWxGPo"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Hans Beyers Lehrbuch der organischen Chemie gibt es inzwischen in der 25. Auflage und firmiert unter Studierenden als „der Beyer-Walter“. Wolfgang Walter, ein Freund Beyers, übernahm nach dessen Tod im Jahr 1971 die Herausgabe des Werks. Unterstützt hat ihn ab 1991 Wittko Francke. Bild: Hirzel Verlag, Stuttgart</figcaption></figure>
Und doch gab es deutsche Studenten und praktizierende Chemiker, die mit der Situation der chemischen Pädagogik unzufrieden waren.<h2>Die Beziehung mit den USA</h2>Die US-Amerikaner förderten zu einem Großteil die Entwicklung der physikalischen organischen Chemie in Deutschland. Amerikanische Lehrbücher waren ein, aber nicht das einzige Mittel, amerikanischen Einfluss zu verbreiten. Im Gegensatz zu deutschen Erfahrungen hatte der Krieg die Situation und die Reichweite amerikanischer physikalisch-organischer Chemiker verbessert.Ihr Know-how war geschätzt, sie hatten erheblich zu Projekten in Kriegszeiten beigetragen, sie waren dabei, ein Netzwerk zu formen, und sie fanden Anstellungen in Akademie und Industrie.10) Auch waren sie begierig darauf, ihr Wissen zu verbreiten.Nach dem Zweiten Weltkrieg schienen die Westalliierten entschlossen, ihre Erfahrungen aus dem Erstem Weltkrieg, nachdem man Deutschland alle internationalen wissenschaftlichen Beziehungen untersagt hatte, nicht zu wiederholen. Wobei das Ziel womöglich nicht durch und durch edelmütig war: Ein wiederbelebtes Deutschland war schließlich ein vielversprechender Markt für westliche Güter.11)München lag in der US-amerikanischen Besatzungszone, und sein Amerika-Haus veröffentlichte zusammen mit den Zeitungen Time und Life das Journal of the American Chemical Society. Dort geriet Rolf Huisgen, Heinrich Wielands Assistent an der LMU München, in Diskussionen um die Resonanz in chemischen Molekülen. Wieland erinnerte sich daran, dass Pauling im Jahr 1926 Postdoc in Arnold Sommerfelds Gruppe gewesen war, und Sommerfeld war damit einverstanden, Huisgen für zwei Wochen sein Exemplar von „The Nature of the Chemical Bond“ zu leihen. Danach integrierte Huisgen die Resonanz in seine eigenen Vorlesungen. Später wechselte er zu MO-Berechnungen, obwohl er anmerkte, dass „die Resonanztheorie so wunderbar leicht zu lehren ist“.12)Auch wenn es nichts Vergleichbares zum amerikanischen Netzwerk der mechanistisch orientierten organischen Chemiker gab, so gab es doch Einflüsse innerhalb Deutschlands. In dieser Hinsicht waren Hans Meerwein und Rolf Huisgen besonders wichtig. Hünigs erstes Treffen mit Meerwein im Jahr 1945, in dem er als Hans Meerweins Assistent nach Marburg kam, „war wie ein Wunderland, weil er [Meerwein] ganz andere Ideen hatte.“13)<h2>Freude an Mechanismen</h2>Heinz Staab (1926 – 2012) ging im Jahr 1949 für seine Vordiplomarbeit nach Marburg. Er erinnerte sich, wie begeistert die Studenten Meerweins Vorlesungen aufnahmen, mechanistisches Material inbegriffen.14)Im Jahr 1949 wurde Huisgen in Tübingen Extraordinarius aufgrund seiner Arbeiten zu Mechanismen, und Staab pendelte zwischen beiden Städten, um an Huisgens Vorlesungen teilzunehmen.15) „Ich kam vielleicht gerade zur richtigen Zeit“, bemerkte Huisgen. „Zehn Jahre zuvor traf Bernd Eistert auf sehr viel mehr Widerstand. Er hatte die große Hürde bereits genommen, sie waren daher keine Hürden mehr für mich.“Im Jahr 1959 veröffentlichte Staab die „Einführung in die theoretische organische Chemie“, das erste deutsche Lehrbuch, das sich seit Walter Hückels Arbeiten dieses Themas annahm. Staabs Buch war viel lesbarer, und der theoretische Inhalt war sehr aktuell − schließlich hatte er sowohl Erich Hückels als auch Paulings Ansätze sorgfältig wiedergegeben. Christian Reichardt (geboren 1934) und Hans-Jörg Schneider (geboren 1935) empfanden es als „frische Brise”.15)Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Osterath.„Reaktionen und Synthesen – aber lieber keine Theorie“ ist der zweite Teil einer Serie von Beiträgen von Stephen J. Weininger in den Nachrichten aus der Chemie zur Geschichte der physikalisch-organischen Chemie in Deutschland. Die Reihe begann mit dem Beitrag „Eine Theorie der Reaktivität“ in Nachr. Chem. 2019, 67(2), 11 und basiert auf Weiningers Veröffentlichung „Delayed Reaction: The Tardy Embrace of Physical Organic Chemistry by the German Chemical Community“, Ambix 2018, doi: <ext-link ext-link-type="doi">10.1080/00026980.2017.1418709</ext-link><h2>Quergelesen</h2>Auch wenn nach dem Zweiten Weltkrieg die Quantenmechanik in Deutschland bereits bekannt war, war dies noch nicht in die verwendeten Lehrbücher eingegangen.Nur wenige Organiker begriffen die Bedeutung der Fachsprache, etwa des Überlappungsintegrals; zudem waren sie nicht in der Lage, quantenmechanische Berechnungen durchzuführen.Erst die mechanistisch-orientierten organischen Chemiker aus Amerika trugen mit ihrem Netzwerk und ihren Lehrbüchern dazu bei, dass sich die Quantentheorie auch in Deutschland verbreitete.<h2>Der Autor</h2>Stephen Weininger, Jahrgang 1937, erforscht seit den 1980er Jahren die Geschichte der Chemie, insbesondere der physikalisch-organischen Chemie. Geboren wurde er in New York City, wo er auch Chemie studierte. Er promovierte im Jahr 1964 in physikalisch-organischer Chemie an der Universität Pennsylvania. Nach einem Jahr an der Universität Durham, England, war er von 1966 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 Professor für organische Chemie am Polytechnischen Institut in Worcester, USA.<div><img src="https://media.graphcms.com/QJygQlW9Q2qIxscfuu68">

</div><email><a href="mailto:stevejw@wpi.edu">stevejw@wpi.edu</a></email>
<ul><li>
1 A. Hetzheim, Nachr. Chem. 2005, 53, 1027</li><li>
2 H. Beyer, Lehrbuch der organischen Chemie, Hirzel-Verlag, Leipzig 1953</li><li>
3 W. Walter, W. Francke, Beyer/Walter Lehrbuch der Organischen Chemie, 24. Auflage, Hirzel-Verlag, Stuttgart 2004</li><li>
4 L. R. Graham, Isis 1964, 55, 20</li><li>
5 W. Walter, W. Francke, Beyer/Walter Lehrbuch der Organischen Chemie, 24. Auflage, Hirzel-Verlag, Stuttgart 2004, S. 9</li><li>
6 H. Beyer, Lehrbuch der organischen Chemie, 2. Auflage, Hirzel-Verlag, Leipzig 1954, S. 45</li><li>
7 H. Beyer, Lehrbuch der organischen Chemie, 2. Auflage, Hirzel-Verlag, Leipzig 1955, S. 48</li><li>
8 J. W. Servos, Physical Chemistry from Ostwald to Pauling: The Making of a Science in America (Princeton: Princeton University Press, 1990)</li><li>
9 J. Johnson, private Unterhaltung mit Weininger</li><li>
10 L. Gortler, Mustard Gas and Mechanisms: The Impact of World War II on the Emergence of Physical Organic Chemistry in the United States, national meeting of the American Chemical Society,Washington, DC, 12. 9. 1979; L. Gortler, J. Chem. Educ. 1985, 62, 753</li><li>
11 D. Cassidy, Hist. Stud. Phys. Biol. 1996, 26, 197</li><li>
12 Huisgen, Gespräch mit Weininger</li><li>
13 Hünig, Gespräch mit Weininger</li><li>
14 Staab, Gespräch mit Weininger, 15. Juni 2001</li><li>
15 Heinz A. Staab, Einführung in die theoretische organische Chemie, Verlag Chemie, Weinheim 1959</li></ul>

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