Gesellschaft Deutscher Chemiker

Der Wirtschaftschemiker

Umorientieren oder untergehen

Nachrichten aus der Chemie, September 2022, Seite 51, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Was bedeutet die geopolitische Zeitenwende für die Chemieproduktion in Europa? Diese Frage ist ebenso drängend wie schwierig zu beantworten. Hinweise liefert die Standortforschung. Zu Einflussfaktoren auf eine Standortentscheidung gehören beschaffungsorientierte – darunter Rohstoffverfügbarkeit, Energiekosten und Arbeitskräfteangebot –, absatzorientierte wie Marktpotenzial sowie staatsorientierte, etwa Subventionen und Handelshemmnisse.

Für das Segment der Basischemikalien sind beschaffungsorientierte Faktoren ausschlaggebend. Eine unsichere Gasversorgung und Energiekosten, die dauerhaft um ein Vielfaches höher sind als etwa in den USA, gefährden die Wettbewerbsfähigkeit. Die Produktion wandert ab. Die Umstellung auf erneuerbare Energie und Rohstoffe – die Defossilierung – stellt darüber hinaus etablierte Produktionsmuster infrage: Welche Produktionsschritte wandern an Orte kostengünstiger erneuerbarer Energie? Die Produktion an windreichen Küsten oder in sonnenreichen Gebieten wird dann unter Kostengesichtspunkten interessant.

Für die Spezialchemie sind die Innovationskraft einer Region (Forschung, Entwicklung; Innovationsnetzwerk; Arbeitskräfte) und absatzmarktorientierte Faktoren ausschlaggebend. Der europäische Green Deal und die Ambitionen der Kundenindustrien zur Defossilierung geben eine Innovationsrichtung vor. Grüne Innovationen – so das Leitmotiv – sollen in Europa für den Weltmarkt entwickelt werden. Dies setzt jedoch neben der Innovationskraft (exzellente Forschung; schnelle Genehmigungsverfahren; erfolgreiches Scale-up und Markteinführung) die Existenz leistungsstarker Kunden- und Partnerindustrien in Europa voraus. Und schließlich: Im Zuge der Deglobalisierung können staatliche Vorgaben das etablierte weltweite Produktionsmuster beeinflussen. Die sich abzeichnende Deglobalisierung – der Zerfall der Weltwirtschaft in Handelsblöcke – schmälert die Exportchancen für die Kunden der Chemieindustrie und verdunkelt die ökonomischen Aussichten Europas.

Fazit: Wir erleben zurzeit eine Zäsur für die europäische Chemieindustrie. Die unsichere Energie- und Rohstoffversorgung erschüttert die Industrie im operativen Kern.

Allerdings kann diese Zäsur im besten Fall die Ausrichtung der Industrie auf erneuerbare Energie und Rohstoffe beschleunigen und den Aufbau einer nachhaltigen Chemie fördern. Diese Chance unternehmerisch zu nutzen ist bei allen gegenläufigen Herausforderungen des Tagesgeschäfts das Gebot der Stunde. Dabei unterstützt die Jahreskonferenz der GDCh-Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW) am 18. Oktober unter dem Titel „Globale Neujustierung von Material- und Wertflüssen“.

Hannes Utikal ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Provadis-Hochschule in Frankfurt am Main und leitet das dortige Zentrum für Industrie und Nachhaltigkeit. Er ist Vorstandsmitglied der GDCh-Vereinigung für Chemie und Wirtschaft und führt uns mit dieser Kolumne im Wechsel mit Rolf Albach durch die Welt der Wirtschaftschemie.

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