Bildung + Gesellschaft

Wolfgang Fritsche leitete von 1976 bis 1988 die Föderation Europäischer Chemischer Gesellschaften (FECS) als Generalsekretär. Diese Vorläuferorganisation der heutigen European Chemical Society wurde 1970 gegründet. Dass dort Chemiegesellschaften aus West und Ost unter einem Dach zusammenkamen, war maßgeblich Fritsches Initiative zu verdanken.
Vor 50 Jahren entstand die FECS, wie kam es zu dieser Gründung?Die Idee, einen europäischen Verband zu gründen, kam von dem Briten Eric Parker. Er war in den 1960er und 1970er-Jahren Generalsekretär des Royal Institute of Chemistry.Die Briten waren also eine treibende Kraft der FECS-Gründung?Am Anfang waren nur Generalsekretäre der westeuropäischen Chemiegesellschaften eingeladen. Ich wollte der Gründung einer Föderation europäischer chemischer Gesellschaften aber nur zustimmen, wenn wir die Chemiegesellschaften hinter dem Eisernen Vorhang einbeziehen. Es war zwar schwierig für mich, die Leute davon zu überzeugen, dass Chemie eine Wissenschaft und kein politisches Thema ist, aber schließlich gelang es mir. Und so fand die Gründung der Föderation in Prag statt.Eric Parker blieb sehr aktiv in der Föderation und war einige Jahre Generalsekretär, bis ich 1976 den Posten übernahm.Die Unterstruktur der FECS mit Working Parties und Divisions spiegelt sich heute noch in der Nachfolgeorganisation Euchems; Aspekte wie Chemie und Umwelt oder kulturelles Erbe wurden schon damals diskutiert.Ja, und wir hatten auch schon in den 1980er-Jahren eine Abteilung für berufliche Angelegenheiten, in der es um den Vergleich der Qualifikationen in Chemie in den verschiedenen Ländern ging. Wir haben damals darauf bestanden, dass der deutsche Diplom-Chemiker – den es aufgrund des Bologna-Prozesses nicht mehr gibt – als Bezugspunkt des Vergleichs dienen sollte.Die FECS gründete sich dann am 3. Juli 1970 in Prag mit 17 Gesellschaften – mitten im Kalten Krieg. Wie klappte die Zusammenarbeit zwischen West und Ost?Gut. Besonders die ungarische chemische Gesellschaft brachte sich stark ein. So kam es auch zum Beschluss, das Sekretariat der Föderation zu teilen: Ich übernahm später dann das Büro für den Westen in Frankfurt, Miklós Preisich leitete das östliche Büro in Budapest.Selbst die Sowjetunion war in der FECS vertreten. Die DDR blieb schließlich das einzige östliche Land, das nicht beitrat.Ja, aber das hat schließlich auch noch geklappt. Ich erinnere mich an eines der letzten FECS-Treffen in Budapest, bei denen ich dabei war. Egon Fanghänel und Renate Kießling nahmen damals für die Chemische Gesellschaft der DDR teil.Renate Kießling arbeitete später in der GDCh-Geschäftsstelle, und Egon Fanghänel wurde 2017 GDCh-Ehrenmitglied.Ich habe die beiden damals getroffen, das muss kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs gewesen sein.Hatten die damaligen Mitglieder aus den östlichen Ländern viele Schwierigkeiten zu reisen?Einige von ihnen sicherlich. Aber im Allgemeinen hatten sogar die Vertreter der Sowjetunion immer die Erlaubnis, an den FECS-Versammlungen teilzunehmen. Das war ziemlich einzigartig. Es hat wohl nur funktioniert, weil wir immer betont haben, Chemie sei eine wissenschaftliche Sache, keine politische.Die FECs arbeitete ohne festes Budget. Wie klappte das?Jede Gesellschaft bezahlte, was sie konnte. Die GDCh war schon immer im Vergleich zu den anderen – außer den Briten – eine finanzstarke Gesellschaft. Sie finanzierte einige Jahre zum Beispiel meine Sekretärin Jutta Bröll, die das Frankfurter Büro der FECS betreute. Auch die chemische Industrie, insbesondere die deutsche, hat uns unterstützt. Sie hat einen großen Beitrag zur Förderung unserer Ziele geleistet. Heute ist das alles anders: Die Chefs der großen Chemieunternehmen sind nicht mehr wie damals Chemiker. Der Hoechst-Vorstandsvorsitzende Karl Winnacker war etwa GDCh-Präsident der Jahre 1962/63. Mit einem seiner Nachfolger, Wolfgang Hilger, hatte ich in Bonn zusammen studiert. Wir hatten da so ein richtiges Bonner Netzwerk, zu dem auch der VCI-Geschäftsführer Wolfgang Munde gehörte.Die American Chemical Society wollte auch Mitglied der FECS werden, heißt es?Ja, das stimmt. Ich war allerdings dagegen, aber viele der anderen Mitglieder hätten dem zugestimmt. Wir wollten aber eine geografische Zuordnung: Europa. Wir hatten gute und freundschaftliche Beziehungen zur ACS, aber sie wurde kein Mitglied.Sie waren damals mitbeteiligt, das Bild einer europäischen Chemie zu formen, was ist Ihr Fazit?Nun, ich denke, die Idee war ziemlich erfolgreich. Und jetzt feiern wir 50 Jahre.Das Interview ist eine gekürzte und bearbeitete Version. Die Langversion erschien im Newsletter „Chemistry in Europe“: <a href="https://www.euchems.eu/newsletters/" target="_blank">www.euchems.eu/newsletters/</a> chemistry-in-europe-2020–2/members-perspectives/<figure><img src="https://media.graphcms.com/4HEid3VjTIG04Jp4OWVq"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Wolfgang Fritsche (links) mit seinem Nach-Nachfolger als GDCh-Geschäftsführer Wolfram Koch. Zahlreiche Auszeichnungen und Anerkennungen künden von Fritsches Verdiensten, die er sich um die FECS und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit in der Chemie erworben hat. Foto: European Chemical Society</figcaption></figure>
<h2>Vor 50 Jahren in den Nachrichten: Gründung der FECS</h2>Der Dachverband der europäischen wissenschaftlichen Chemiegesellschaften heißt heute European Chemical Society. Gegründet wurde er am 3. Juli 1970 in Prag als Föderation Europäischer Chemischer Gesellschaften (FECS). Die Blauen Blätter berichteten:„Die Föderation ist eine freiwillige Vereinigung der gemeinnützigen wissenschaftlichen Gesellschaften auf dem Gebiet der Chemie mit dem Ziel, die Zusammenarbeit dieser Gesellschaften innerhalb Europas zu fördern. … Ein Grundprinzip in der Arbeit der Föderation ist, dass die Autonomie der Mitgliedsgesellschaften in vollem Umfange erhalten bleibt.“17 Gesellschaften waren Gründungsmitglieder, darunter die chemischen Gesellschaften aus Frankreich, Irland, Italien, Jugoslawien, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz, Tschechoslowakei, Türkei und Ungarn. Belgien und das Vereinigte Königreich waren mit jeweils zwei Fachgesellschaften vertreten, ebenso wie Deutschland: neben der GDCh die Deutsche Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie. Heute gehören der European Chemical Society 51 Gesellschaften mit insgesamt 160 000 Mitgliedern an. Jedes GDCh-Mitglied ist automatisch auch Mitglied im europäischen Dachverband.„Der Gedanke, eine Föderation Europäischer Chemischer Gesellschaften zu gründen, um die schon seit vielen Jahren bestehenden freundschaftlichen Beziehungen vieler europäischer chemischer Gesellschaften auf bilateraler Basis in einem gesamteuropäischen Rahmen zu intensivieren, wird schon seit einigen Jahren diskutiert“, so berichteten die Blauen Blätter im Jahr 1970. Und weiter: „Aus einer mehr informellen Gesprächsgruppe bildete sich dann ein vorbereitendes Komitee mit sieben Mitgliedern aus verschiedenen ost- und westeuropäischen Ländern, dem von der Gesellschaft Deutscher Chemiker deren Geschäftsführer Dr. Fritsche angehörte. Dieses Komitee hat die Aufgaben für die Föderation formuliert und Statuten ausgearbeitet sowie die Gründung vorbereitet. Die Federführung dafür lag in Händen des Sekretärs des Royal Institute of Chemistry, Dr. Parker.Dr. Fritsche wurde vom GDCh-Vorstand als Delegierter der Gesellschaft Deutscher Chemiker für die Vollversammlung benannt. Auf der Gründungsversammlung in Prag wurde er zum Mitglied des Exekutivkomitees gewählt.Die Nachrichten aus Chemie und Technik werden laufend über die Tätigkeit der Föderation Europäischer Chemischer Gesellschaften berichten.“Und das tun die Nachrichten bis heute, auch wenn aus der Föderation im Jahr 2004 die European Association for Chemical and Molecular Sciences und dann 2018 die European Chemical Society geworden ist.<figure><img src="https://media.graphcms.com/vHm7UtrTaWPtpGzzMtGn"><figcaption><label>Abb. 2: </label></figcaption></figure>

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„Die Idee war ziemlich erfolgreich“

Wolfgang Fritsche leitete von 1976 bis 1988 die Föderation Europäischer Chemischer Gesellschaften (FECS) als Generalsekretär. Diese Vorläuferorganisation der heutigen European Chemical Society wurde 1970 gegründet. Dass dort Chemiegesellschaften aus West und Ost unter einem Dach zusammenkamen, wa...

Im Jahr 1931 ging im russischen Jaroslawl die erste großtechnische Butadien-Anlage weltweit in Betrieb. Sie arbeitete nach einem Verfahren, das Sergej Wasilewitsch Lebedew vier Jahre zuvor im Rahmen eines Wettbewerbs entwickelt hatte. Das war der Schlüssel zur Kautschukproduktion.
Am 11. April rief der Oberste Volkswirtschaftsrat (VNSCh) der Sowjetunion in seiner Zeitung Ekonomitscheskaja Shisn (Wirtschaftsleben) zu einem Wettbewerb zur „Gewinnung von künstlichem Kautschuk“ auf (Abbildung rechts). Die Anzeige lobte zwei Preise in Höhe von 100 000 und 50 000 Rubel aus.<figure><img src="https://media.graphcms.com/ZE94Xn26T36PQxd9PLu6"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Aufruf zum Wettbewerb des Obersten Volkswirtschaftsrats VSNCh (Высший Совет Народного Хозяйства)</figcaption></figure>
Bis zum 31. Dezember 1927 sollten dafür zwei Kilogramm eines künstlichen Kautschuks beim VSNCh abgegeben werden. Interessenten wurden bei der Anmeldung zusätzliche Bedingungen mitgeteilt:1)<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>Der künstliche Kautschuk war aus leicht zugänglichen und kostengünstigen einheimischen Rohstoffen herzustellen;<list-item>seine Qualität sollte mindestens der Durchschnittsqualität vulkanisierten Naturkautschuks entsprechen;</list-item><list-item>seine Herstellkosten sollten den Durchschnittspreis des Naturkautschuks der letzten fünf Jahre nicht übersteigen;</list-item><list-item>das Herstellverfahren sollte sich für eine Massenproduktion eignen, und</list-item><list-item>mit der Kautschukprobe waren eine detaillierte Herstellbeschreibung sowie ein Konzept für die verfahrenstechnische Umsetzung mit einer entsprechenden Kostenkalkulation einzureichen.</list-item><h2>Die Vorgeschichte</h2>Initiiert hatte den Kautschuk-Wettbewerb Wladimir Pawlowitsch Krawez, ein Mitarbeiter des Obersten Volkswirtschaftsrats.2) Krawez hatte den Chemiker Sergej Wasilewitsch Lebedew (1874 – 1934, Foto) bereits im Oktober 1925 bei einem Besuch in Leningrad über den beabsichtigten Wettbewerb informiert.3)<figure><img src="https://media.graphcms.com/n9vOjtOxTKKXmvqFlWj2"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Sergej Wasilewitsch Lebedew (1874–1934) um 1920. Quelle: Wikimedia Commons</figcaption></figure>
Lebedew galt seit seinem Vortrag vor der russisch-chemischen Gesellschaft im Dezember 1909 als einer der wichtigsten Synthesekautschukexperten des Landes. Wie Krawez bei seinem Besuch andeutete, würde ohne Lebedews Teilnahme der Wettbewerb wahrscheinlich nicht stattfinden – Lebedew sagte also zu.4a)Lebedew hatte seit 1917 den Lehrstuhl für Allgemeine Chemie an der Militärmedizinischen Akademie inne. Im Jahr 1925 war er gerade – zusätzlich zu seinen Aufgaben an der Akademie – dabei, auf Bitten der Leningrader Universität ein „Labor für Erdöl und Steinkohle“ an der Universität einzurichten.Ein Forschungsschwerpunkt dieses Labors war der Crackprozess von Erdölfraktionen, insbesondere von Baku-Ölen zur Herstellung von Butadien, dem Schlüsselrohstoff für Synthesekautschuk.5) Ende des Jahres 1925 gab es aber für die Hauptprodukte des petrochemischen Crackprozesses, vor allem Ethylen und Propylen, praktisch keine Anwendungen, sodass dieses Verfahren für die großtechnische Produktion von Butadien nicht infrage kam.Eine Alternative zur Petrochemie ist die Pyrolyse von Ethanol, bei der russische Forscher bereits während der Zarenzeit Vorarbeiten geleistet hatten. Das wichtigste Verfahren, um Butadien aus Ethanol herzustellen, war bis dahin ein von Iwan Iwanowitsch Ostromislensky im Herbst 1911 entdeckter zweistufiger Prozess (Schema oben),6) den er in den Jahren 1914 und 1915 verbesserte.7) Dieser lieferte in der ersten Stufe nach Ipatieff Acetaldehyd durch Pyrolyse von Ethanol, Katalysator war Zink. In der zweiten Stufe entstand aus einem etwa äquimolaren Ethanol-Acetaldehyd-Gemisch durch Pyrolyse bei etwa 400 °C Butadien mit Tonerde (Al2O3) als Katalysator.<figure><img src="https://media.graphcms.com/ZOYa0hmKR7yxkJ3Bu8An"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Ostromislensky-Verfahren</figcaption></figure>
Das Verfahren wurde anschließend in einer Versuchsanlage getestet, setzte sich aber wegen zu geringer Ausbeute in der Sowjetunion nicht durch.Allerdings hatte Ostromislensky ein Vermächtnis hinterlassen, das auch Lebedew bekannt war:Die erste Verfahrensstufe verläuft hochselektiv. Es wird aber weniger als die Hälfte des Alkohols umgesetzt, sodass das entstehende Acetaldehyd-Ethanol-Gemisch einen leichten Überschuss an Ethanol enthält und damit eine ideale Ausgangsmischung für die zweite Stufe darstellt. Ostromyslenki war schon im Jahr 1915 „zutiefst überzeugt, dass die ersten beiden Stufen dieses Prozesses … zu einem verbunden werden können.“8)Lebedew nahm diese Anregung auf. Sein Ziel war es, einen Mischkatalysator und die dafür optimalen Reaktionsbedingungen zu finden.<h2>Ein Wettlauf gegen die Zeit – 1926 und 1927</h2>Im Januar 1926, also etwa ein Vierteljahr vor der offiziellen Auslobung des Kautschuk-Wettbewerbs, stellte Lebedew an der Militärmedizinischen Akademie ein siebenköpfiges Team für die Alkohol-Pyrolyse zusammen. Die Mitglieder dieser „Welikolepnaja Semerka“ (Glorreichen Sieben) waren Anastasia Iosifiowna Jakubtschik, Sigismund Georgiewitsch Kibirkschtis, Valentin Petrowitsch Krause, Iwan Alekseewitsch Winogradov-Wolzhinsky, das Ehepaar Anna Wasiliewna Woronowa und Fjodor Nikolajewitsch Woronow sowie Jakow Michailowitsch Slobodin.Die Militärmedizinische Akademie stellte für den Wettbewerb nur den Alkohol zur Verfügung. Für weitere Mittel wandte sich Lebedews Mitarbeiter Krause, ein ehemaligen Kommissar der Roten Armee, an den Leningrader Parteisekretär Sergej Mironowitsch Kirow (1886–1934). Kirow, einer der mächtigsten Männer der Sowjetunion, gewährte die erbetenen 13 000 Rubel. Wichtiger war aber möglicherweise noch: Kirow wurde zu einer Art Schirmherr des Synthesekautschukprojekts.Lebedews Mischkatalysatoren bestanden zunächst aus zwei Komponenten – einer für die Dehydrierung und einer für die Kondensation. Bei jedem dieser Zweistoffkatalysatoren musste das Team Faktoren wie das Mengenverhältnis der Komponenten, die Pyrolysetemperatur oder anderes variieren und die Wirkung messen. Dazu wurden die Alkoholdämpfe durch ein katalysatorgefülltes Rohr in einen elektrischen Ofen geleitet. Anschließend untersuchten die Wissenschaftler die Zersetzungsprodukte. Aber Lebedew und seine Mitarbeiter machten die gleiche Erfahrung wie schon die Forschergeneration vor ihnen: Das Butadienmolekül widersetzte sich einer verfahrenstechnisch sinnvollen Synthese.Die Zeit wurde knapp. Nur noch etwa ein halbes Jahr bis zum Ablauf der Frist und noch immer kein substanzielles Ergebnis. Da wies Lebedew seine Mitarbeiter an, seine Sammlung an Tonmineralien auf ihre Eignung als Katalysatoren zu prüfen. Zu dieser Sammlung gehörte das von der Bremer Firma Bensmann gelieferte Floridin (Florida-Bleicherde), das hauptsächlich aus Aluminium-Magnesium-Hydrosilikat-haltigen Tonmineralien wie Kaolin bestand.9) Lebedew hatte es wenige Jahre zuvor bei seinen Versuchen zur Polymerisation von Olefinen und Diolefinen eingesetzt.10)<h2>Der Durchbruch</h2>Floridin brachte Lebedews Teammitglied Kibirkschtis im Juni 1927 den Durchbruch.9,2) Lebedew beschrieb das Verfahren so:„95%iges Ethanol wird durch ein Quarzrohr geleitet, das mit einer Mischung aus Floridin (Wasser entziehender Katalysator) und Zinkstaub (Wasserstoff entziehender Katalysator) (bei 410 °C) gefüllt ist. Die entstandenen Produkte durchlaufen einen Eiskühler, in dem nicht umgesetzter Alkohol und einige [flüssige] Nebenprodukte kondensiert werden, das Butadien und andere Gase werden in einem Gefäß mit Brom aufgefangen … Kleine Mengen des entstandenen Ethylenbromids und Pseudobutylenbromids werden abgetrennt. Der Rückstand ist fast reines Butadientetrabromid mit einem Schmelzpunkt von 110 °C. Das Butadien wird aus dem Bromid durch Zink in einer Alkohollösung freigesetzt. Unter Berücksichtigung des zurückgewonnenen Alkohols beträgt die Ausbeute mehr als 15 Gew.% [26 % der Theorie].“11)Um die Daten zu reproduzieren und das Butadien zu akkumulieren, führte das Team mehr als 260 weitere Versuche zur katalytischen Zersetzung des Alkohols durch.2) Erst Ende des Herbsts 1927, als genügend Butadien zur Verfügung stand, konnten die Polymerisationsversuche beginnen.Slobodin erinnert sich im Jahr 1979: „Den Schlüsselrohstoff hatten wir gewonnen. Für die Suche nach dem optimalen Polymerisationsverfahren war schon keine Zeit mehr übrig. Wir entschieden uns, eine in der Literatur beschriebene Methode zu nutzen: Die Polymerisation mit metallischem Natrium. Dazu füllten wir Butadien in eine Flasche, in die wir einen Draht aus Natrium einführten. Den Flaschenhals versiegelten wir mit einem mit Paraffin getränkten Korken, auf den wir eine Dreikopeken-Münze legten, die wir wie bei einer Champagner-Flasche mit einem dicken Draht befestigten. Im Inneren wurde um den grauen Natriumdraht herum ein rötliches Leuchten sichtbar. Ein erstaunliches violettes Wesen wuchs vor unseren Augen, welches einem Schalentier ähnelte oder irgendeinem fantastischen Meeresgemüse.“4b)So konnten einen Tag vor Ablauf der Frist die geforderten zwei Kilogramm Synthesekautschuk beim Obersten Volkswirtschaftsrat eingereicht werden. Um ein Fabrikationsmodell mit Kostenkalkulation zu erstellen, fehlte die Zeit; die vorgegebenen Bedingungen waren also nicht vollständig erfüllt.<h2>Großtechnische Umsetzung</h2>Zum Wettbewerb wurden fünf Arbeiten eingereicht, drei davon wurden direkt abgelehnt. Lediglich die Vorschläge von Lebedew und seines Leningrader Kollegen Boris Wasilewitsch Byzow (1880 – 1934) wurden geprüft. Am 9. Februar 1928 kam eine Prüfungskommission in Lebedews Labor (Abbildung links), um das vorgeschlagene Verfahren zu testen. Alle Angaben bestätigten sich, die Ausbeute wurde sogar nach oben korrigiert. Doch da nicht alle Wettbewerbsbedingungen erfüllt waren, erhielten Lebedew und seine Mitarbeiter keinen der ausgelobten Preise.<figure><img src="https://media.graphcms.com/Z0AtBRphTySF0QW1tVc7"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Lebedews Labor 1927. Zeichnung von Ostroumowa-Lebedewa.</figcaption></figure>
Die Jury unter Leitung von Alexei Jewgenjewitsch Tschitschibabin (1871 – 1945) war aber von Lebedews Konzept so beeindruckt, dass sie beim Obersten Volkswirtschaftsrat einen Sonderpreis von 25 000 Rubel für Lebedew und seine Mitarbeiter durchsetzte. Zudem wurde die Weiterentwicklung des Lebedew-Verfahrens gefördert, und zwar in mehreren Stufen:Im September 1928 baute Lebedew sein Petrochemielabor in eines für Synthesekautschuk um. Im April 1929 begannen Moskauer Ingenieure damit, auf Basis seiner Labordaten eine Pilotanlage zu entwerfen.Ende Februar 1930 stellte der Staat eine ehemalige Brennerei auf der St. Petersburger Gutujewski-Insel (Foto oben) für den Bau der Pilotanlage zur Verfügung. Zehn Monate später ging die nach dem Lebedew-Verfahren arbeitende Butadienanlage in Betrieb. Zwei Monate darauf, am 15. Februar 1931, lieferte sie die ersten 265 kg Kautschuk.<figure><img src="https://media.graphcms.com/0YlN0mqzSsOiwo1X1P84"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Ehemalige Brennerei auf der Gutujewski Insel, auf deren Gelände die Pilotanlage errichtet wurde.</figcaption></figure>
Unmittelbar danach begann bereits der Bau der großtechnischen Anlagen.In den Jahren 1931 bis 1933 entstanden drei Anlagen mit einer Kapazität von jeweils 10 000 Jahrestonnen. Die erste Anlage in Jaroslawl (SK-1) wurde am 7. Juni 1932 in Betrieb genommen. Es folgte am 19. Oktober 1932 die Anlage in Woronesch (SK-2) und ein Jahr später im Juni 1933 die Anlage in Jefremow (SK-3); alle drei Anlagen waren nach dem gleichen Schema gebaut worden. Im Jahr 1936 kam eine etwas modifizierte Anlage in Kasan dazu (SK-4).Doch weder das Polymerisationsverfahren noch die Verfahren zur Synthesekautschukverarbeitung waren technisch ausgereift, was große Probleme verursachte und zu Unfällen mit Verletzten und Toten führte. Lebedew, der gegen das seiner Meinung nach übereilte Vorgehen opponiert hatte, war unbequem geworden. Wie seine Ehefrau, die Künstlerin Ostroumowa-Lebedewa, in ihrem Tagebuch andeutet, wurde Lebedew bei einer Dienstreise nach Jefremow Anfang April 1934 absichtlich mit Fleckfieber (Typhus exanthemicus) infiziert – es habe in der Sowjetunion einen Markt für fleckfieberinfizierte Kleiderläuse gegeben.3b) Lebedew starb am 2. Mai 1934.<h2>Katalysatorverbesserung 1939</h2>Ende des Jahres 1939 steigerten sowjetische Forscher mit einem modifizierten Katalysator die Ausbeute auf zirka 70 % der Theorie.12) Die Zusammensetzung dieses Katalysators war ein Staatsgeheimnis und wurde nicht publiziert. Im November 1941 gelangten aber zwei Proben des ungebrauchten Katalysators in den Besitz der IG Farbenindustrie. Deren Mitarbeiter Georg von Susich bestimmte im Jahr 1942 die Zusammensetzung: Es handelte sich um einen Dreistoffkatalysator, der „hauptsächlich aus energiereichem Magnesiumhydroxid, ferner aus Kaolin und Kieselsäure besteht (je 15 bis 17 Gew. Teile auf 100 Gew.-Teile MgO. Durch die Aktivierung (Tempern bis maximal 570°C) geht der Kontakt in MgO, Metakaolin und SiO2 über.“13)<h2>Hintergrund: Butadienherstellung damals und heute</h2>Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs wurde Butadien fast ausschließlich durch Direktsynthese hergestellt. Solche On-Purpose-Verfahren waren neben dem Lebedew-Verfahren beispielsweise das deutsche Vierstufenverfahren oder in den USA die Buten-Dehydrierung.Heute wird Butadien weltweit zu fast 100 % als Nebenprodukt des petrochemischen Crack-Prozesses gewonnen. Problematisch ist dabei allerdings, dass der Kapazitätsausbau durch den Bedarf an Ethylen gesteuert wird, was häufig zu Engpässen bei der Butadienversorgung führt. Der Trend geht zu leichten Feedstocks, bei denen nur wenig Butadien anfällt. On-Purpose-Verfahren wie das Lebedew-Verfahren könnten daher in den nächsten Jahren wieder an Bedeutung gewinnen.<h2>Der Autor</h2>Axel Requardt, Jahrgang 1951, studierte Chemie an der Universität Münster und promovierte im Jahr 1984 am dortigen Institut für Physikalische Chemie. Anschließend arbeitete er in der chemischen Industrie (Beiersdorf, Bayer, Lanxess). Seit dem Jahr 2011 beschäftigt er sich mit Chemiegeschichte.<div><img src="https://media.graphcms.com/NKDY6h0DSxc8jI6rBo9A">

</div><h2>AUF EINEN BLICK</h2>Die Sowjetunion war weltweit das erste Land, das bereits Anfang der 1930er Jahre Synthesekautschuk in großtechnischem Maßstab herstellte.Der Schlüsselrohstoff Butadien wurde aus Ethanol nach einem Verfahren hergestellt, das Sergej Lebedew und Mitarbeiter im Rahmen eines Wettbewerbs entwickelt hatten.Herzstück des Verfahrens war ein Katalysator, der ständig weiterentwickelt wurde. Ab 1939 bestand seine aktivierte Form aus MgO, Metakaolin und SiO2.
<ul><li>
1 Chimija i žizn‘, No. 3, S. 3 (1967)</li><li>
2 W. Garmonow, „Istorija nauki i promyšlennosti sintetičeskogo kaučuka v SSSR 1931–1990 gg.“, Kazaìn‘ izdatel‘stvo kniìgu, 2013</li><li>
3 Anna Petrowna Ostroumowa-Lebedewa, Autobiographische Aufzeichnungen III, Moskwa Zentrpoligraf, 2003; a) S. 81; b) Anhang II: „Krankheit und Tod des Akademikers Sergej Wasilewitsch Lebedew“</li><li>
4 Ya. M. Slobodin, Chimija i žizn‘, 1979; a) No. 4, S. 15; b) No 5., S. 32</li><li>
5 S.W. Lebedew et al., „Zur Frage der Gewinnung von Butadien aus Erdöl und seinen Fraktionen“, Sintetitscheskij kautschuk, 1932</li><li>
6 I. I. Ostromislensky, Kaučuk i ego analogi : ėksperimental‘noje izslědovanie, (1911 – 1913)“, S. 177–180, Moskau September 1913</li><li>
7 I. I. Ostromislensky, Žurnal Russkogo Fiziko-Chimičeskogo Obščestva pri Leningradskom Universitete Čast‘ chimičeskaja, Vol. 47, S. 1509–1529 (1915)</li><li>
8 I. I. Ostromislensky, „Erythren neue Herstellungsmethoden“, Žurnal Russkogo Fiziko-Chimičeskogo Obščestva pri Leningradskom Universitete Čast‘ chimičeskaja, Vol. 47, S. 1489 (1915)</li><li>
9 S. R. Sergienko, „Akademik Sergej Vasil‘evič Lebedev“ Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau 1959, S. 111</li><li>
10 S.W. Lebedew, E.P. Filonenko, „X. Mitteilung: Über die Einwirkung einiger Silicate auf ungesättigte Verbindungen“, Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 1925, 58, 163–169</li><li>
11 S. W. Lebedew, „Darstellung von Divinyl aus Alkohol“, Erfinderzertifikat 35182 der UdSSR vom 29.12.1927. Die Offenlegung erfolgte erst 1934. Zu diesem Zeitpunkt war der beschriebene Katalysator schon nicht mehr im Einsatz.</li><li>
12 A. W. Petrenko, „Die sowjetische Synthesekautschuk-Industrie“, Kaučuk i rezina, Heft 4–5, S. 1 – 5, 1940</li><li>
13 G. v. Susich, Angew. Chem. 1947, 59, 167</li></ul>

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