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Entstehung des Lebens – der Weg von Chemie zu Biologie/Trendbericht Physikalische Chemie 2025 (1/3)
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Dem Ursprung des Lebens nähern sich Forschende aus zwei Richtungen: von der frühen Erde zu den ersten Biomolekülen und von heute zum Genom alter Organismen. CO2 lässt sich elektrochemisch reduzieren; damit sich das lohnt, müssen Katalysatormaterialien Moleküle mit mindestens zwei Kohlenstoffatomen bilden. Für die elektrokatalytischen Grenzflächen gibt es nun neue additive Fertigungsverfahren. Um Infrarotspektren von Molekülen vollständig zu simulieren, braucht es viel Rechenkapazität – daher gibt es Kniffe, die sogar IR-Signaturen von Proteinen zuverlässig simulierbar machen könnten.
Entstehung des Lebens – der Weg von Chemie zu Biologie
Das Forschungsfeld Origins of Life ist multidisziplinär und untersucht, wie das Leben im Universum entstanden ist. Dieser Trendbericht gibt einen Status Quo über die aktuellen Herausforderungen und Perspektiven für Entwicklungen mit dem Ziel, die nächste Generation von Wissenschaftler:innen zu inspirieren.
Origins of Life
Wie und wo ist das Leben auf der Erde entstanden? Sind wir allein im Universum? Im Jahr 2005 hat das Journal Science diese Fragen anlässlich seines 125. Jubiläums in die Liste der 125 fundamentalsten Forschungsfragen (What Don‘t We Know?) aufgenommen.1) Bis heute sind beide Fragen nicht beantwortert, sie spannen ein sich rasch entwickelndes Forschungsfeld auf.
Doch wonach halten wir Ausschau, wenn wir Leben im Universum suchen? Unser naheliegendster Ansatzpunkt sind die Eigenschaften unseres heutigen terrestrischen Lebens. Darauf basiert die derzeigte Definition der National Aeronautics and Space Administration (Nasa): Leben ist ein „sich selbst erhaltendes chemisches System, das zur darwinistischen Evolution fähig ist“.2) Leben auf Basis unserer Kenntnisse zu definieren hilft uns jedoch nicht unbedingt, dessen Entstehung auf der frühen Erde zu verstehen oder extraterrestrisches Leben zu finden.3) („To define is to limit.“ – Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray.) Dazu müssen wir jedoch genauer verstehen, welche Prozesse bei der Entstehung des Lebens beteiligt waren.4)
Hierzu gab es in den letzten Jahrzehnten bereits enorme Fortschritte, von denen hier nur wenige exemplarisch genannt werden.5)
Der Schwerpunkt dieses Trendberichts liegt jedoch auf den bestehenden Herausforderungen und welche Perspektiven sich daraus für die Forschung ergeben können.
Bottom up und Top down
Wie ging auf der frühen Erde ein chemisches in ein biologisches System über? Das Vorgehen, einzelne Stufen in ihrer Evolutionsreihenfolge zu untersuchen, heißt Bottom-up-Ansatz:6) Ein erster Schritt ist hier der Versuch, essenzielle Biomoleküle herzustellen, also etwa DNA, RNA, Peptide, Lipide und Cofaktoren aus einfachen Ausgangsstoffen unter den Bedingungen, die auf der frühen Erde herrschten.4) Ein nächster Schritt ist es herausfinden, über welche chemischen Reaktionen oder physikalischen Vorgänge sich die Biomoleküle zu funktionalen Einheiten zusammengestellt haben. Wie sind aus diesen Einheiten einfache Vorgänger von Zellen (Protozellen) und später Zellen entstanden? Danach versuchen wir, die Evolution frühester bekannter darwinistischer biologischer Organismen nachzustellen.4)
Die umgekehrte Reihenfolge heißt Top-down-Ansatz.6) Hierzu wird versucht, Genome ältester Organismen rückzuverfolgen oder Protozellen herzustellen4) – wie alt diese genau sind, ist unklar.7) Schließlich sollen Bottom-up- und Top-down-Ansatz zusammengeführt werden (Abbildung 1).
Die Herausforderungen
Öztürk hat zentrale Herausforderungen beim Bottom-up-Ansatz als „10 Commandments of Origins of Life“ formuliert (Kasten S. 68).8) Die Commandments sind hierbei nicht als auferlegte Doktrinen zu verstehen, sondern als Anhaltspunkte und Plausibilitätschecks für Theorien zur Entstehung des Lebens auf der Erde. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sollen vorwiegend künftige Generationen inspirieren.
In Laborversuchen
Konzentrierte und gereinigte isolierte Ausgangsstoffe zu verwenden kann in chemischen Synthesen dazu dienen, gewünschte Reaktionsprodukte nachzuweisen. Übertragen auf die frühe Erde müssen jedoch ganz andere Umweltbedingungen betrachtet werden (Gebot VIII). Die geologischen Bedingungen auf der frühen Erde zu verstehen ist Grundstock dafür, Bedingungen für die Laborversuche eingrenzen zu können.4) Aufgrund der Plattentektonik gibt es kaum geologische Aufzeichnungen zu frühen Stadien der Erde.9) Hinweise auf die frühen Umweltbedingungen stammen beispielsweise aus der Astronomie, von Weltraummissionen zur Untersuchung extraterrestrischen Probenmaterials und von Simulationen (Gebot IX).10) Dazu zählen Zusammensetzung der Erdatmosphäre, Gesteine, Gewässer, Temperaturen, Drücke, pH-Werte, Blitzentladungen oder Sonneneinstrahlung.16) Diese Kenntnisse in Laborversuche einzubinden ist unabdingbar für den Transfer in reale Umgebungen.
Ungleichgewichte zum Entstehen von Leben
Terrestrisches Leben besteht aus geordneten Strukturen, die sich weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht befinden;12) diese physikalischen Prozesse verbrauchen Energie.13)
Solche Ungleichgewichte können Triebkräfte für die Entstehung von Biomolekülen aus den Ausgangsstoffen der frühen Erde sein. Diskutiert werden beispielsweise Temperatur-, Konzentrations- oder pH-Gradienten, Tag-/Nacht-, Trocken-/Feuchtzyklen, Blitzentladungen oder Sonneneinstrahlung sowie Wechselspiele verschiedener Einflüsse (Abbildung 2, S. 69).11) Häufig wird jedoch nicht unter physikalischen Gesichtspunkten betrachtet, wie Energiequellen und Ungleichgewichte die Synthese von Biomolekülen – etwa Nuklein-, Aminosäuren oder Peptiden – herbeigeführt haben könnten. Stattdessen wird häufig in zufälligen Mustern nach optimalen Synthesebedingungen für Biomoleküle gesucht (Gebot II), wobei oft thermodynamische und kinetische Grenzen der beteiligten Komponenten außer Acht bleiben.
Damit auf der frühen Erde Leben entstehen konnte, mussten die dafür nötigen Biomoleküle zudem in nennenswerten Konzentrationen entstanden sein (Gebote III und IV).15) Dazu sind effektive, gerichtete, selektive Synthesewege unter den damaligen Umweltbedingungen nötig (Gebote I, III und VIII). Ein weiteres Ziel ist hier, die Biomoleküle zu funktionalen Einheiten bis hin zu den ersten (Proto-)Zellen zusammenzusetzen (Gebot X), und schließlich die Kenntnisse über biologische Prozesse mit den vorherigen Ansätzen zusammenzuführen (Gebote VI und VII; Abbildung 1).4)
Weiterführende Perspektiven
Eine weitere Herausforderung der Bottom-up-Perspektive ist zum Beispiel herauszufinden, wie Nukleotide ohne Enzyme polymerisiert und repliziert werden konnten, und wie biologische Funktionalitäten, zum Beispiel die Reparatur, entstanden sind.4) Um die Voraussetzungen für die Entstehung von Leben auf einem jungen Planeten einzugrenzen, werden erdähnliche Planeten wie der Mars erforscht, etwa auf seine Gesteine, Salze, Spuren von Wasser und die Präsenz organischer Moleküle.16)
Zusätzlich sollen Laborexperimente die Zuverlässigkeit bei der Identifikation von Biosignaturen auf Exoplaneten verbessern. So soll herausgefunden werden, ob ein anderer Planet die Voraussetzung für die Entstehung von Leben erfüllt.17)
Eine große Herausforderung bei den Top-down-Ansätzen sind die Bestandteile und Evolution von Protozellen.4) Dazu zählen Versuche, lebende Zellen auf die einfachsten funktionalen Protozellen reduzieren. Zusätzlich sollen phylogenetische Studien, also solche zu Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Arten oder Gruppen, genetische Informationen auf Erdzeitskalen rückverfolgen. Das soll Einblicke ermöglichen, wie sich die ältesten Organismen entwickelt und stetig an die Umgebung angepasst haben.
Die Fragestellung nach der Entstehung des Lebens ist interdisziplinär zwischen diversen Fachbereichen, wie Chemie, Physik, Astronomie, Geologie oder Biologie.18) Um Antworten näher zu kommen, brauchen wir die aktive Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche und müssen institutsübergreifende Strukturen schaffen, die diesen Dialog ermöglichen.
In allen genannten Teilaspekten gab es im letzten Jahrzehnt große Fortschritte. Vermutlich hätte Charles Darwin diese Entwicklungen mit Begeisterung verfolgt. Im Jahr 1872 schrieb er zur Abiogenese, früher Archebiose genannt: „I should like to live to see Archebiosis proved true, for it would be a discovery of transcendent importance; or, if false, I should like to see it disproved, and the facts otherwise explained; but I shall not live to see all this.“8,19,20)
Ob und wie schnell wir zufriedenstellende Antworten auf die beiden Leitfragen finden werden, bleibt eine Herausforderung für künftige Generationen.
Drei Fragen an die Autorin: Corinna L. Kufner
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Ich untersuche die photochemischen Mechanismen, die zur Entstehung von Biomolekülen auf der frühen Erde und in extraterrestrischen Systemen beigetragen haben könnten.
Was brauchen Sie heute im Beruf, was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Als Gruppenleiterin brauche ich Führungskompetenzen, bei denen mich das Leibniz-Institut für Photonische Technologien (IPHT) mit Workshops unterstützt. Das Sichten der Fachliteratur, eigenständige Lehrtätigkeit, das Schreiben von Projektanträgen und akademische Selbstverwaltung sind weitere Punkte, die über mein Grundstudium hinaus gehen.
Wie schaffen Sie es, Beruf und Familie unter einen Hut zu kriegen?
Während meines Studiums machte ich mir viele Gedanken und manchmal auch Sorgen um die Vereinbarkeit meiner akademischen Laufbahn mit der Möglichkeit, eine Familie zu haben. Heute bin ich glücklich verheiratet und habe eine dreijährige Tochter. Ich führe alle Aktivitäten fort, die mich erfüllen und mein Leben ausmachen, darunter Leistungssport und Orchestermusik. Mein Mann und meine Tochter nehmen selbst an einigen davon teil. Gewisse Aspekte dauern heute etwas länger, aber ich kann mein Leben weiter so führen, wie ich es mir wünsche. Dafür bin ich meiner Familie sehr dankbar.
Corinna L. Kufner ist seit Februar 2025 Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Photonische Technologien in Jena. Nach ihrer Promotion in Physik an der LMU München im Jahr 2018 arbeitete sie als Postdoc an der Harvard University. Sie beschäftigt sich mit dem Einfluss von Sonnenlicht auf die Entstehung des Lebens im Universum. Im Jahr 2025 wurde sie mit der Aufnahme in das CZS Nexus und das Leibniz Best Minds Programm ausgezeichnet.
INFO: Die 10 Gebote des Origin of Life8)
(I) Thou shalt be selective.
Ziel ist eine möglichst reine Mischung biologisch relevanter Moleküle durch chemische Reaktionen. Nebenprodukte sollen vermieden werden.
(II) Thou shalt be subtle.
Präbiotische Chemie stützt sich auf subtile chemische Umwandlungen und die Reaktivität von Verbindungen. Sie liefert nicht notwendigerweise eine einzige Verbindung mit perfekter Ausbeute durch Brute-force-Verfahren.
(III) Thou shalt not waste.
In der Systemchemie gibt es keinen Abfall. Verzweigungsreaktionen in systemchemischen Netzwerken lassen sich nutzen, um präbiotische Verbindungsklassen herzustellen.
(IV) Thou shalt tame the demon*.
Für hohe Ausbeuten an Endprodukten sind bei mehrstufigen Synthesen effiziente, hochselektive und konvergente Synthesewege nötig.
(V) Thou shalt separate.
Biologische Funktionen laufen räumlich und zeitlich getrennt ab, was sich gegenseitig ausschließende Prozesse ermöglicht. Präbiotische Chemie muss nicht „in einem Topf“ passieren, sondern kann in getrennten Umgebungen stattfinden, die sich dann kombinieren lassen.
(VI) Thou shalt bear the likeness of thy product.
Moderne Biologie und präbiotische Chemie können sich signifikant unterscheiden. Trotzdem kann die Biologie Aspekte präbiotischer Chemie übernommen und verfeinert haben. Folglich ist von grundlegenden Ähnlichkeiten auszugehen.
(VII) Remember the principle of continuity.
Die Biologie erfindet keine neuen Wege, sie nimmt langsame Wege und beschleunigt sie (Kontinuitätsprinzip).14)
(VIII) Knoweth your geochemistry.
Um plausible Szenarien für die Entstehung des Lebens auf der frühen Erde auszumachen, muss die präbiotische Chemie zu den geochemischen Randbedingungen passen.
(IX) Thou shalt iterate.
Laborchemie und die Modelle der Bedingungen auf der frühen Erde können sich gegenseitig verbessern und dazu beitragen, die Entstehung des Lebens iterativ besser zu verstehen.
(X) Thou shalt be patient.
Zwischen der präbiotischen Chemie und dem Urvorfahr (last universal common ancestor, Luca) liegen wahrscheinlich viele gescheiterte Zwischenstufen von Protozellen, die sich nicht rückverfolgen lassen.
*Arithmetischer Dämon: Die Gesamtausbeute von Reaktionen, die aus einer chronologischen Abfolge von Einzelreaktionen bestehen, ist das Produkt der Einzelausbeuten jedes Schritts. Sie wird verschwindend gering für vielstufige Synthesen mit mäßigen Einzelausbeuten.
- 1 D. Kennedy et al., Science 2005, 309 (5731), 75–75
- 2 About Life Detection. NASA, astrobiology.nasa.gov, Kurzlink: t1p.de/vusam (aufgerufen am 12. März 2025)
- 3 J. W. Szostak, J. Biomol. Struct. Dyn. 2012, 29 (4), 599–600
- 4 Jack W. Szostak, Mol. Front. J. 2017, 1 (2), 121–131
- 5 a) B. H. Patel et al., Nat. Chem. 2015, 7 (4), 301–307; b) S. Becker et al., Science 2019, 366 (6461), 76–82; c) H.-J. Kim et al., Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 2017, 114 (43), 11315–11320; d) J. Xu et al., Nat. Chem. 2019, 11 (5), 457–462; e) J. Xu et al., J. Am. Chem. Soc. 2021, 143 (36), 14482–14486; f) J. S. Teichert et al., Angew. Chem. 2019, 131 (29), 10049–10052
- 6 C. Mariscal, A. Barahona, N. Aubert-Kato et al., Orig. Life Evol. Biosph. 2019, 49, 111–145
- 7 a) M. D. Cantine, ., G. P. Fournier, Orig. Life Evol. Biosph. 2018, 48, 35–54; b) E. R. R. Moody, T. A Mahendrarajah, N. Dombrowski et al., eLife 2020, 11, e66695
- 8 S. F. Öztürk, A New Spin on the Origin of Biological Homochirality. Dissertation, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, 2024
- 9 S. J. Mojzsis et al., Nature 2001, 409 (6817), 178–181
- 10 zum Beispiel: a) S. Ranjan and D. D. Sasselov, Astrobiology 2017, 17(3), 169–204; b) C. Freissinet, D. P. Glavin, P. D. Archer et al., PNAS 2025, 122 (13) e2420580122; c) D. P. Glavin, J. P. Dworkin, C. M. O. Alexander et al. Nat. Astron. 2025, 9, 199–210; d) N. F. Wogan, D. C. Catling, K. J. Zahnle, R. Lupu Planet. Sci. J. 2023, 4 (9), 169
- 11 A. Ianeselli et al., Nat. Rev. Phys. 2023, 5 (3), 185–195
- 12 E. Schrödinger, What is life?: The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge University Press, 1944
- 13 R. Pascal et al., Open Biol. 2013, 3 (11), 130156
- 14 L. E. Orgel, J. Mol. Biol., 1968, 38 (3), 381–393
- 15 J. W. Szostak Phil. Trans. R. Soc. B. 2011, 366 (1580) , 2894–2901
- 16 C. Freissinet, D. P. Glavin, P. D. Archer et al., PNAS 2025, 122 (13) e2420580122
- 17 Key Questions Concerning the Origin of Life 2025. www.origins-federation.com (aufgerufen am 16. März 2025)
- 18 D. D. Sasselov et al., Sci. Adv. 2020, 6 (6), eaax3419
- 19 C. Darwin, F. Burkhardt, J. A. Secord, The Correspondence of Charles Darwin, Volume 20: 1872, Cambridge University Press, 2015
- 20 J. Peretó, , J. L. Bada, A. Lazcano, Orig. Life Evol. Biosph. 2009, 39, 395–406
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