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Eutektische Lösungsmittel bestehen aus mehreren Komponenten, deren Schmelzpunkte höher liegen als der Schmelzpunkt der Mischung. Sie gelten als umweltfreundlich und nachhaltig. Das muss nicht unbedingt stimmen, aber: Sie eröffnen neue Möglichkeiten für Extraktionen, Katalyse und mehr.
Die Bezeichnung (stark) eutektisches Lösungsmittel oder Deep Eutectic Solvent (DES) (Abbildung 1) nutzte erstmals die Gruppe um Abbott im Jahr 2003.1) Das Prinzip der eutektischen Mischungen war damals nicht neu, wohl aber die Bandbreite der daraus resultierenden Anwendungen. Die Komponenten sind schwache Lewis- oder Brønstedsäuren und -basen, meist ein Gemisch aus einem quartären Ammonium-, Phosphonium- oder Sulfoniumhalogenid und einem Metallchlorid oder einem Wasserstoffbrückendonor.2) Es werden fünf Typen eutektischer Lösungsmittel unterschieden (Abbildung 2).2,3)<figure><img src="https://media.graphcms.com/RQbMgiGsQCKfPd1JQ9pR"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Allgemeines Phasendiagramm einer eutektischen Mischung. Am eutektischen Punkt ist der Schmelzpunkt am niedrigsten.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/VZ3mSIwCQ1O7t3CbASxo"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Die fünf Typen eutektischer Lösungsmittel. Das Beispiel für Typ III ist eine der am häufigsten verwendeten Kombinationen, der Schmelzpunkt ist für die wasserfreie Mischung angegeben.2–4)</figcaption></figure>
<h2>Verschiedene Typen</h2>Eutektische Lösungsmittel vom Typ I bestehen aus quartären Ammoniumhalogeniden und wasserfreien Metallchloriden. Die Kombination aus quartären Ammoniumhalogeniden und Metallchloridhydraten gehört zum Typ II. Ein Gemisch aus Ammoniumhalogenid und einem Wasserstoffbrückendonor wie einer Carbonsäure, einem Carbonsäureamid oder einem Alkohol sind dem Typ III zuzuordnen. Typ IV umfasst Lösungsmittel aus Metallchloriden und Wasserstoffbrückendonoren,3) etwa Carbonsäureamide oder Alkohole.2)Anders als die eutektischen Lösungsmittel der Typen I bis IV enthält Typ V anstelle ionischer Komponenten phenolische Wasserstoffbrückendonoren und molekulare Wasserstoffbrückenakzeptoren wie Ketone, Amine, Alkohole oder Carbonsäuren.3)Neben diesen werden weitere Wasserstoffbrückenakzeptoren eingesetzt; so verwenden Iwanow und Coautoren eine Mischung aus d-Glucose und Harnstoff.5) Ruß und König beschreiben in ihrem Übersichtsartikel niedrigschmelzende Zuckermischungen mit Harnstoff und anorganischen Salzen.6) Teilweise werden auch Mischungen aus Ammoniumhalogeniden mit Flüssigkeiten wie Glycerol als eutektische Lösungsmittel bezeichnet.7,2)<h2>Eigenschaften und Abgrenzung zu ionischen Flüssigkeiten</h2>Die Eigenschaften eutektischer Lösungsmittel ähneln denen ionischer Flüssigkeiten und unterscheiden sie gleichzeitig von herkömmlichen molekularen Lösungsmitteln.Aufgrund ihrer variablen Zusammensetzung gelten eutektische Lösungsmittel als neue Generation von Lösungsmitteln mit einstellbaren Eigenschaften. Die Schmelzpunkte liegen meist unter 100 °C.8) Sie sind schwer entzündlich und haben einen niedrigen Dampfdruck; den höchsten hat die Mischung Caprinsäure/Menthol, nämlich 540,9 Pa bei 373,1 K.9) Neben ihrer Dichte, die meist höher ist als die von Wasser, sind eutektische Lösungsmittel relativ viskos und haben Oberflächenspannungen, die denen imidazoliumbasierter ionischer Flüssigkeiten gleichen.2,8)Insbesondere bei den metallfreien eutektischen Lösungsmitteln vom Typ III beeinflusst der Wassergehalt Viskosität, Dichte und Schmelzpunkt: Viskosität und Schmelzpunkt sinken bei steigendem Wassergehalt.10,4)Eutektische Lösungsmittel ähneln ionischen Flüssigkeiten in ihren physikalischen Eigenschaften, unterscheiden sich von diesen jedoch in ihrer Zusammensetzung. Ionische Flüssigkeiten bestehen in der Regel aus jeweils einer diskreten Anionen- und Kationenspezies, die aufgrund ihrer Größe und Asymmetrie niedrige Schmelzpunkte zur Folge haben.11) Eutektische Lösungsmittel dagegen enthalten in flüssiger Phase mehr als zwei Spezies. Für Typ I wird das Entstehen komplexer Halogenidometallationen angenommen, die aufgrund ihrer Größe die Gitterenergie senken und damit auch den Schmelzpunkt. Beispielsweise liegen in Mischungen von ZnCl2 und Cholinchlorid [Zn2Cl5]–-Ionen vor.12)Die Schmelzpunkterniedrigung für Typ II erfolgt nach dem gleichen Prinzip. Sie ist allerdings geringer, da die Gitterenergien der Metallchloridhydrate aufgrund des Kristallwassers bereits kleiner sind als die der reinen Metallchloride. Die Hydrate werden eingesetzt, wenn die Schmelzpunkte der wasserfreien Metallchloride so hoch liegen, dass die der eutektischen Lösungsmittel noch immer über 100 °C lägen.2) Die Interaktionen, die in den Typen III bis V zur Schmelzpunkterniedrigung führen, beruhen auf Wassersstoffbrückenbindungen, in Typ III zum Beispiel zu den Halogenidionen.1–3)<h2>Katalyse und Metallverbindungen</h2>Eutektische Lösungsmittel sind als Alternative zu giftigen und flüchtigen organischen Lösungsmitteln in der organischen Synthese sowie der Katalyse von Interesse. García-Álvarez beleuchtet in einem Übersichtsartikel eutektische Lösungsmittel für metallkatalysierte und -vermittelte organische Reaktionen, darunter Ruthenium-katalysierte Isomerisierungsreaktionen, Kupfer-katalysierte 1,3-dipolare Cycloadditionen von organischen Aziden und terminalen Alkinen sowie Umsetzungen von Ketonen mit Grignardreagenzien zu Alkoholen.13)Iwanow und Coautoren haben einen Palladiumkatalysator auf einem Träger in einem eutektischen Lösungsmittel hergestellt, das auf d-Glucose und Harnstoff basiert. Dazu lösten sie Palladium(II)-acetat in dem eutektischen Lösungsmittel und sprühten es erwärmt durch eine Düse. Kalzinieren bei 440 °C ergab die besten Ergebnisse mit der kürzesten Zeit bis zur vollständigen Umwandlung. Bei diesen Temperaturen zersetzt sich das eutektische Lösungsmittel zum Trägermaterial für die Palladiumpartikel.5)Im Jahr 2016 haben Söldner und Coautoren Magnesium-, Cobalt- und Nickelferrite der Form MFe2O4 (M = Mg, Co, Ni) aus den Metalloxiden in einem eutektischen Lösungsmittel synthetisiert, das aus Maleinsäure und Cholinchlorid im molaren Verhältnis 1:1 bestand (Abbildung 3). Entscheidend war hierfür, dass das eutektische Lösungsmittel die Edukte löst. Alle drei Ferrite entstanden bei 500 °C und 600 °C phasenrein aus dem eutektischen Lösungsmittel, während die Ansätze in Festphasenreaktionen bei 900 °C keine phasenreinen Produkte lieferten.14)<figure><img src="https://media.graphcms.com/yuslWDloRYmuec1yt1VV"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Synthese von Magnesium-, Cobalt- und Nickelferriten in einem eutektischen Lösungsmittel aus Cholinchlorid und Maleinsäure.13)</figcaption></figure>
Die von Abbott und Coautoren erstmals beschriebene gute Löslichkeit verschiedener Metalloxide in eutektischen Lösungsmitteln bildete die Grundlage für weitere Untersuchungen, wie sich Metalle und Metalloxide trennen lassen.2) Der Übersichtsartikel von Richter und Ruck vergleicht ionische Flüssigkeiten und eutektische Lösungsmittel als Medien für die Synthese und Löslichkeit von Metalloxiden. Auch Smith, Abbott und Ryder beschreiben in einem Großteil ihres Übersichtsartikels metallverarbeitende Anwendungen eutektischer Lösungsmittel, darunter als Medien für elektrolytische Abscheidungen, Metallextraktionen oder die Verarbeitung von Metalloxiden.2,15)<h2>Metalle extrahieren</h2>Ein Beispiel für die Extraktion von Metallen geben Zürner und Frisch. Sie haben mit eutektischen Lösungsmitteln auf Basis von Cholinchlorid und Oxalsäure Indium und Zinn aus Rauchgasstäuben gewonnen, und zwar durch Auslaugen und anschließende Fällungsreaktionen. Verglichen mit wässrigen Oxalsäurelösungen schnitt das eutektische Lösungsmittel besser ab, da es die verschiedenen Metallspezies gleichmäßig löst und bei selektiver Fällung einzelner Komponenten Indium und Zinn in Lösung bleiben (Abbildung 4). Die Fällung aus einer wässrigen Oxalsäurelösung dagegen führte zu einem Verlust von bis zu 50 Prozent des extrahierten Indiums.16)<figure><img src="https://media.graphcms.com/IC3MFzO7RUedIzKQ7RLv"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Auslaugen eisen-, zink-, blei- und kupferhaltiger Rauchgasstäube mit einem eutektischen Lösungsmittel aus Cholinchlorid und Oxalsäure (braune Lösung). Verdünnen mit Wasser fällt Zinkoxalat zusammen mit Pb und Cu als farblosen Niederschlag, den eine Filtration trennt (gelbgrüne Lösung). Eisen fällt nach Bestrahlen mit UV-Licht als gelber Niederschlag von FeC2O4 ∙ 2 H2O aus, während die Indium- und Zinnionen in der farblosen Lösung bleiben. Bild aus 15)</figcaption></figure>
<h2>Nicht immer umweltverträglich</h2>Eutektische Lösungsmittel werden oft als grüne und nachhaltige Lösungsmittel angepriesen, da ihre Komponenten vollständig miteinander vermischt werden, ohne dass eine Reinigung notwendig ist.13,17,18) Viele der Komponenten wie Cholinchlorid, Harnstoff und Menthol sind wenig oder nicht giftig und kommen in biologischen Prozessen vor.17) Dies gilt insbesondere für metallfreie eutektische Lösungsmittel.Dennoch ist der Ruf als ungiftige und biologisch abbaubare Lösungsmittel nicht vollständig gerechtfertigt. Einige eutektische Lösungsmittel sind als Mischungen giftiger oder wirken stärker cytotoxisch als ihre einzelnen Komponenten.19) Bei elektrochemischen Anwendungen mit eutektischen Lösungsmitteln als Elektrolyten entstehen zum Teil giftige Zersetzungsprodukte. Durch die hohe Viskosität können eutektische Lösungsmittel beispielsweise in Elektrodepositionsanwendungen ins Spülwasser und damit in die Umwelt gelangen. Zudem können sich in Extraktionsprozessen Schwermetalle in den eutektischen Lösungsmitteln anreichern, die vor der Entsorgung zu entfernen sind.2)Als nicht flüchtige, polare Lösungsmittel, die sich je nach Zusammensetzung spezifisch auf die Anwendung anpassen lassen, bieten eutektische Lösungsmittel jedoch neue Möglichkeiten für Synthesen und Anwendungen in Lösung. Besonders für Verbindungen wie Metalloxide, die bislang als schlecht oder als nur unter harschen Bedingungen löslich galten, eröffnen eutektische Lösungsmittel neue Wege für Synthese und Extraktion.Da die eigenschaftsbestimmenden Mechanismen noch nicht vollständig verstanden sind, bleibt es schwierig, die Eigenschaften genau vorherzusagen und einzustellen.<h2>Die Autoren</h2>Diesen Beitrag verfassten Friederike Fuß und Günther Thiele. Thiele betreut dieses Jahr den Blickpunkt Anorganik gemeinsam mit Phil Liebing. Thiele ist seit Ende 2017 Liebig-Stipendiat an der FU Berlin und Fulbright-Cottrell-Preisträger 2020. Er hat Chemie in Marburg und in Sydney studiert. Nach der Promotion 2015 folgten Postdocs an der University of California, Berkeley, und am Lawrence Berkeley National Laboratory. Er erforscht Salze mit elektronenreichen Metallatanionen sowie neue Elektridverbindungen. Fuß promoviert seit 2019 bei Thiele über Synthese und Charakterisierung niedrig koordinierter Alkalimetalloxidoferrate. Vorher studierte sie Lehramt für Chemie und Spanisch.<div><img src="https://media.graphcms.com/Ng9dNXpmRemGdmdkSYFv">

</div><div><img src="https://media.graphcms.com/l0AHXAmNTuGdn30nUDWW">

</div><h2>AUF EINEN BLICK</h2>Eutektische Lösungsmittel bestehen aus zwei bis drei Komponenten, deren Schmelzpunkte höher liegen als der der Mischung. Der Schmelzpunkt eines eutektischen Lösungsmittels beträgt meist weniger als 100 °C.Es gibt fünf Typen eutektischer Lösungsmittel, die sich jeweils in der Kombination aus schwachen Lewis- und Brønstedsäuren und -basen unterscheiden.Die bereits experimentell charakterisierten eutektischen Lösungsmittel eignen sich etwa, um Metalle zu extrahieren oder Katalysatoren herzustellen. Eigenschaften vorherzusagen ist schwierig.Blickpunkt Anorganik berichtet über neue präparative Techniken, Analysetechniken, Reinigungsverfahren, den richtigen Umgang mit gefährlichen Stoffen und mehr.
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1 A. P. Abbott, G. Capper, D. L. Davies, R. K. Rasheed, V. Tambyrajah, Chem. Commun. 2003, 70</li><li>
2 E. L. Smith, A. P. Abbott, K. S. Ryder, Chem. Rev. 2014, 114, 11060</li><li>
3 D. O. Abranches, M. A. R. Martins, L. P. Silva et al., Chem. Commun. 2019, 55, 10253</li><li>
4 X. Meng, K. Ballerat-Busserolles, P. Husson, J.-M. Andanson, New J. Chem. 2016, 40, 4492</li><li>
5 M. Iwanow, J. Finkelmeyer, A. Söldner et al., Chem. Eur. J. 2017, 23, 12467</li><li>
6 C. Ruß, B. König, Green Chem. 2012, 14, 2969</li><li>
7 J. García-Álvarez, E. Hevia, V. Capriati, Chem. Eur. J. 2018, 24, 14854</li><li>
8 Q. Zhang, K. de Oliveira Vigier, S. Royer, F. Jérôme, Chem. Soc. Rev. 2012, 41, 7108</li><li>
9 C. H. J. T. Dietz, J. T. Creemers, M. A. Meulemann et al., ACS Sustainable Chem. Eng. 2019, 7(4), 4047</li><li>
10 B. Gurkan, H. Squire, E. Pentzer, J. Phys. Chem. Lett. 2019, 10, 7956</li><li>
11 P. Wasserscheid, T. Welton (Hrsg.) Ionic liquids in synthesis, Wiley-VCH, Weinheim, 2008</li><li>
12 A. P. Abbott, J. C. Barron, K. S. Ryder, D. Wilson, Chem. Eur. J. 2007, 13, 6495</li><li>
13 J. García-Álvarez, Eur. J. Inorg. Chem. 2015, 2015, 5147</li><li>
14 A. Söldner, J. Zach, M. Iwanow et al., Chem. Eur. J. 2016, 22, 13108</li><li>
15 J. Richter, M. Ruck, Molecules 2019, 25</li><li>
16 P. Zürner, G. Frisch, ACS Sustainable Chem. Eng. 2019, 7, 5300</li><li>
17 R. A. Sheldon, Chem. Eur. J. 2016, 22, 12984</li><li>
18 N. Schaeffer, M. A. R. Martins, C. M. S. S. Neves, S. P. Pinho, J. A. P. Coutinho, Chem. Commun. 2018, 54, 8104</li><li>
19 C. J. Clarke, W.-C. Tu, O. Levers, A. Bröhl, J. P. Hallett, Chem. Rev. 2018, 118, 747</li></ul>

Artikel

Fest und fest macht flüssig

Eutektische Lösungsmittel bestehen aus mehreren Komponenten, deren Schmelzpunkte höher liegen als der Schmelzpunkt der Mischung. Sie gelten als umweltfreundlich und nachhaltig. Das muss nicht unbedingt stimmen, aber: Sie eröffnen neue Möglichkeiten für Extraktionen, Katalyse und mehr. Die Bezeich...

Die eskalierende Covid-19-Pandemie hat bewirkt, dass mehrere Impfstoffe gegen die Krankheit in Rekordtempo entwickelt und zugelassen wurden. Dabei setzten Forscher sowohl etablierte als auch neue Strategien ein.
Im Jahr 1 der Pandemie haben wir gelernt: Die Krankheit Covid-19 ist komplexer als erwartet. Es ist nicht nur eine Atemwegserkrankung. In schweren Fällen, die zum Tode führen, und auch in weniger schweren, die lang anhaltende, chronische Symptome nach sich ziehen, sind eine ganze Reihe von Organen und Körperfunktionen in verschiedenster Weise betroffen.Das Virus, das diese Symptome auslöst, ist hingegen verblüffend einfach strukturiert. Sein Genom liegt in Form einer Boten-RNA (messengerRNA, mRNA) vor, die in der Wirtzelle direkt in Proteine übersetzt wird. Dabei werden insgesamt nur vier Proteine hergestellt: S (spike, also die Antennen, die aus der Oberfläche der Viruspartikel herausragen), E (envelope, also Hülle), M (Membran) und N (Nucleocapsid).Wie schnell und effektiv ein Viruspartikel (Virion) an eine menschliche Zelle andocken und in diese eindringen kann, darüber entscheidet vor allem die Wechselwirkung des S-Proteins mit der Zelloberfläche und insbesondere mit dem Angiotensin-konvertierenden Enzym 2 (ACE2). Deshalb war das S-Protein das vorrangige Ziel bei der Entwicklung neuer Impfstoffe. Die anderen drei Proteine dienen im wesentlichen der Verpackung der Boten-RNA.Wie aber bringen wir unserem Immunsystem bei, vor diesem S-Protein auf der Hut zu sein? Aufgrund der Dringlichkeit des Problems haben zahlreiche Forschungsgruppen rund um den Globus alle verfügbaren Strategien genutzt: von der lang etablierten Verwendung inaktivierter Viruspartikel bis hin zum neuartigen Einsatz synthetischer Boten-RNA.<h2>Wege zur Immunität</h2>Ein klassischer Weg zur Immunisierung ist, eine abgeschwächte Variante des Krankheitserregers zu verwenden. Diese muss ähnlich genug sein, um das Immunsystem zu mobilisieren, aber unfähig, die Krankheit auszulösen. Solche Impfstoffe werden bereits gegen Grippe eingesetzt. Sie leiten sich direkt von der ersten Pockenimpfung ab, die den Erreger der Kuhpocken als schwächere Variante nutzte. Solche Impfstoffe werden „Lebendimpfstoff“ genannt, obwohl Viren nicht als Lebewesen zählen.Einen Schritt weiter ging man dann mit der Entwicklung von Totimpfstoffen, die inaktivierte Viren enthalten. Damit ist eine Erkrankung etwa durch eine Rückmutation des geschwächten Virus ausgeschlossen. Gegenüber einfacheren molekularen Wirkstoffen liegt der Vorteil dieser Methode darin, dass das Immunsystem gleich mehrere Merkmale des Erregers vorgesetzt bekommt, also an einem Ziel trainiert wird, das dem wirklichen Erreger so ähnlich wie möglich ist. Es ist also eine mehrfache Reaktion des Immunsystems zu erhoffen, die das Virus nicht so leicht durch Mutation umgehen kann.In China haben drei Projekte diese Vorgehensweise genutzt:1) zum einen die Firma Sinovac mit einem inaktivierten Virus, das sie mit Aluminiumhydroxid kombiniert – dieses dient als Adjuvans, das die immunisierende Wirkung verstärken soll. Zudem gibt es zwei Projekte der Firma Sinopharm mit Forschungsinstituten in Peking beziehungsweise Wuhan. Auch die indische Firma Bharat Biotech ging diesen Weg.Der Wirkstoff BBIBP-CorV von Sinopharm ist inzwischen in China sowie in den Vereinigten Arabischen Emiraten regulär zugelassen. Coronavac von Sinovac hat in China eine Notzulassung erhalten, dasselbe gilt für den indischen Impfstoff BBV152 in Indien.Bei den westlichen Industrieländer hat diese Methode keinen Anklang gefunden. Da ein Teil der Todesfälle durch Covid-19 auf eine Überreaktion des Immunsystems zurückzuführen ist, könnte sich die breitflächige Aktivierung des Immunsystems durch solche Impfstoffe als Risiko erweisen. Auf jeden Fall sind bei diesen Anwendungen die möglichen Nebenwirkungen zu berücksichtigen.<h2>Viraler Vektor</h2>Der zweite, ebenfalls lange etablierte Weg ist, einen anderen, für den Menschen nachweislich harmlosen Virus als Träger für charakteristische Merkmale (Antigene) des Coronavirus zu nutzen. Das Jenner-Institut der Universität Oxford hat seit Jahren ein Adenovirus aus Schimpansen zur Impfstoffplattform ChAdOx1 entwickelt. Diese wurde bereits für zahlreiche Impfstoffkandidaten benutzt, die sich in verschiedenen Stadien der klinischen Erprobung befinden.Unter anderem wurde dieser Vektor für potenzielle Impfstoffe gegen Tuberkulose, Malaria und Grippe genutzt. Allerdings hat bisher keine dieser Entwicklungen zu einer Zulassung geführt. Eine der erfolgreichsten Anwendungen des Vektors war bei einem anderen Coronavirus, nämlich dem Erreger des Middle East Respiratory Syndrome (Mers). Das ist weniger ansteckend als Covid-19, aber dafür deutlich gefährlicher, wenn man sich angesteckt hat. Wiederholte Übertragung von Kamelen auf Menschen gilt als einer der Gründe, warum diese Krankheit vor allem in arabischen Ländern immer wieder aufgeflammt ist.2)Aufgrund dieser Erfahrungen hat das Oxforder Institut bereits im März damit begonnen, einen neuen Impfstoff gegen das neue Coronavirus zu entwickeln, das mit dem Erreger von Mers entfernt verwandt ist. Ende März wurden die ersten Teilnehmer für klinische Studien rekrutiert. Die Firma Astrazeneca wurde Partner für die industrielle Herstellung und die Durchführung von Studien in größerem Maßstab. Bei den Tests mit mehr als 30 000 Teilnehmern gab es vereinzelte Probleme, die zeitweise für Schlagzeilen sorgten und untersucht werden mussten. Auch die widersprüchlichen Ergebnisse zur Wirksamkeit des Impfstoffs je nach Dosierung sorgten für Unruhe. Dennoch konnten die Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs letztlich hinreichend belegt werden.3) Großbritannien genehmigte die Verwendung am 30. Dezember, und am 2. Januar erhielt der erste Patient diesen Impfstoff außerhalb eines klinischen Tests.Auf demselben Prinzip basiert der russische Impfstoff Sputnik V, der in Russland und mehreren anderen Ländern eingesetzt wird, sowie ein Impfstoff der chinesischen Firma Cansino Biologics, der in China eine vorläufige Genehmigung erhalten hat.<h2>RNA-Botschaften</h2>Überraschungssieger im Wettlauf um die Entwicklung eines Impfstoffs, den die Behörden westlicher Industrieländer zulassen, ist die Mainzer Firma Biontech, die eigentlich ganz andere Pläne hatte. Das von den Eheleuten Uğur Şahin und Özlem Türeci mitgegründete und geleitete Start-up entwickelte mRNA-Technik mit dem Ziel, personalisierte Immuntherapie gegen Krebs zu ermöglichen. Vor drei Jahren hatten die Mainzer damit erste Erfolge, die Aufsehen erregten.Dann kam Covid-19 und die Idee, dass man mit mRNA auch dagegen impfen könnte. Die Mainzer entwickelten zunächst zwei Boten-RNAs als Impfstoffkandidaten. Verwendet wurde am Ende die Version, die für ein komplettes S-Protein mit zwei stabilisierenden Mutationen codiert. Diese erwies sich in den klinischen Studien als besser verträglich als die Variante, die für eine trimere Version des Bereichs codiert, mit dem das S-Protein die Rezeptoren menschlicher Zellen erkennt. Verpackt wird die Boten-RNA nicht in Viren, sondern in künstlichen Vesikeln, den Lipid-Nanopartikeln (LNPs).Mit Unterstützung des Pharmariesen Pfizer ließ Biontech den Impfstoff an mehr als 40 000 Personen testen. Nach den Ergebnissen schützt er eine Woche nach der zweiten Dosis mehr als 90 Prozent der geimpften Personen davor, an Covid-19 zu erkranken. Ob er die Übertragung ebenso wirksam verhindert, bleibt noch zu klären. Auch die Wirksamkeit bei Kindern, schwangeren Frauen und immunsupprimierten Patienten ist noch ungeklärt, da diese Gruppen nicht hinreichend untersucht wurden.Der Impfstoff BNT162b2 hat inzwischen sowohl einen offiziellen als auch einen Handelsnamen: Tozinameran beziehungsweise Comirnaty. Er erhielt am 2. Dezember eine Notzulassung in Großbritannien und dann am 21. Dezember die reguläre Zulassung der EU. Andere Zulassungsbehörden folgten. Vereinzelt wurden allergische Reaktionen beobachtet, deshalb empfiehlt die britische Gesundheitsbehörde jetzt, den Impfstoff bei Patienten mit starken Allergien nicht zu benutzen.Dasselbe Prinzip nutzt die US-Firma Moderna (in dem Namen steckt „modifizierte RNA“, modRNA). Auch ihr Impfstoff, der inzwischen EU-weit zugelassen ist, enthält eine Boten-RNA, die für eine leicht abgewandelte Version des S-Proteins codiert und in LNPs verpackt ist. Die Formulierung des Präparats mit zusätzlichen Stabilisatoren wie Ethylenglykol ist vermutlich dafür verantwortlich, dass es auch bei Kühlschranktemperaturen 30 Tage haltbar ist (oder vier Monate bei –20 °C), während Biontech für Tozinameran eine Lagerung bei –70 °C vorschreibt.Die bereits im Jahr 2000 in Tübingen gegründete Firma Curevac entwickelt ebenfalls einen mRNA-Impfstoff. Dieser trägt die vorläufige Bezeichnung CvnCoV und enthält Boten-RNA, die für das S-Protein codiert. Curevac konnte allerdings erst Mitte Dezember mit groß angelegten Tests der Phase IIb/III beginnen, die bis Ende März abgeschlossen sein und die Voraussetzung für eine Zulassung schaffen sollen. Wie das Unternehmen am 7. Januar bekannt gab, wird sie für die Zulassung und die kommerzielle Produktion des Impfstoffs mit Bayer zusammenarbeiten.Die Verfügbarkeit von zwei ähnlichen und bereits zugelassenen Impfstoffen könnte der Studie allerdings Probleme bereiten. Insbesondere bei gefährdeten Altersgruppen wäre das zu Vergleichszwecken nötige Placebo bei der Hälfte der Teilnehmenden ethisch bedenklich, wenn eine echte Impfung problemlos möglich wäre. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre, sich auf die Anwendung in der jüngeren Bevölkerung zu konzentrieren.<h2>Andere Verfahren</h2>Zusätzlich zu den acht bis zum 10. Januar zugelassenen Impfstoffen gibt es noch mehr als 20 Kandidaten, darunter welche auf Peptid- oder Proteinbasis. Die US-Firma Novavax will zum Beispiel das S-Protein in Form von Proteinnanopartikeln verabreichen. Eine klinische Studie der Phase III mit 30 000 Personen läuft derzeit in Mexiko und den USA. Mehrere andere Firmen arbeiten ebenfalls mit Protein-Konstrukten auf Grundlage des S-Proteins oder seiner Bindungsdomäne. Das Finlay-Institut in der kubanischen Hauptstadt Havanna hat im November eine klinische Studie der Phase II für ein Konstrukt aus S-Protein und dem gängigen Tetanusimpfstoff gestartet, der aus einer inaktivierten Version des hochgiftigen Proteins Tetanus-Toxin besteht.Die kanadische Firma Medicago entwickelt einen Impfstoff auf Grundlage virusartiger Partikel (virus-like particles, VLPs), die in genmodifizierten Nicotianapflanzen hergestellt werden sollen. Der Pharmariese Glaxosmithkline steuert zu diesem Projekt ein Adjuvans bei. Klinische Tests der Phase II haben im November begonnen.Insgesamt hat die Pandemie also der Impfstoffentwicklung einen enormen Schub gegeben. Neue Prinzipien und Produkte wurden in Rekordzeit entwickelt und optimiert – was normalerweise Jahre dauert, gelang nun in Monaten.Die neuen Boten-RNA-Impfstoffe lassen sich jederzeit und mit geringem Aufwand umprogrammieren. Wenn also eines Tages nach Sars, Mers und Covid ein viertes Coronavirus auf den Menschen überspringt, dann wird die Menschheit darauf besser vorbereitet sein.Der promovierte Chemiker Michael Groß ist freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England.<figure><img src="https://media.graphcms.com/Qd2MrWPuR3yPU9gEDtz8"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Bild: Leigh Prather/AdobeStock</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/JyhRubfSQaiJAT5wvVgF"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Impfstoffarten sowie ihre potenziellen Vor- und Nachteile. Beispiele für Lebendimpfstoffe: Masern, Windpocken; Totimpfstoffe: Polio, Hepatitis B; Vektorimpfstoffe: Denguefieber, Ebola; Untereinheitimpfstoffe: Grippe, Tetanus. APC: antigenpräsentierende Zellen. Grafik aus Lit. 1), Übersetzungen angepasst an den aktuellen Forschungsstand (mRNA).</figcaption></figure>
<h2>Wie die Impfstoffe funktionieren</h2>Beim Oxford-Impfstoff enthält die Hülle des Schimpansen-Adenovirus, das als Vektor dient, anstelle der viruseigenen DNA die DNA des S-Proteins. Der Vektor dringt in die menschliche Zelle und in den Zellkern ein. Dort wird das Gen für das S-Protein transkribiert, also die Boten-RNA hergestellt. Diese muss ins Cytoplasma exportiert werden, wo die Ribosomen dann entsprechend der Anleitung der Boten-RNA die Aminosäuren zur Sequenz des S-Proteins aufreihen. Das entstandene Protein wird zur Zelloberfläche transportiert und dort dem Immunsystem als Ganzes sowie in Fragmenten präsentiert.Bei den RNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna hingegen sind DNA und Zellkern nicht beteiligt, der Impfstoff muss deshalb nur bis ins Cytoplasma vordringen. Hier wird die Boten-RNA abgelesen und das S-Protein hergestellt. Die Zellen erhalten also nur die Information zur Herstellung einzelner Antigene, aber keine Krankheitserreger oder Bestandteile davon. Da die Zellen nur einzelne Proteine herstellen, birgt diese Methode kein Infektionsrisiko.
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1 Y. Dong, T. Dai, Y. Wei et al., Sig. Transduct. Target. Ther. 2020, 5, 237</li><li>
2 M. Groß, Nachr. Chem. 2020, 68(5), 63</li><li>
3 P. M. Folegatti, Lancet 2020, 396, 467</li></ul>

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