Gesellschaft Deutscher Chemiker

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“Historiker müssen werten, und die GDCh auch”

Nachrichten aus der Chemie, April 2015, S. 415-418, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Nachrichten aus der Chemie: Herr Maier, Sie haben für die GDCh das Verhalten der Chemiker in der NS-Zeit untersucht. Sie stützen sich dabei ausschließlich auf schriftliche Quellen. Haben Sie bewusst darauf verzichtet, zeitnahe Zeugen zu befragen, also zum Beispiel Chemiker aus der Schülergeneration der damaligen Protagonisten?

Helmut Maier: Auf der einen Seite hatte ich genug archivalische Quellen, und auf der anderen Seite sind Zeitzeugen nur bedingt zuverlässige Quellen: Sie bringen nur dann einen Erkenntnisgewinn, wenn ihre Aussagen auch im Licht anderer Quellen plausibel erscheinen. Wenn es um die Geschichte des Nationalsozialismus geht, ist die Schülergeneration sogar besonders schwierig. Sie war im Nationalsozialismus selbst noch sehr jung, und es sind keine Funktionsträger in ihr. Viele haben ihre Mentoren und Doktorväter erst während der Kriegsjahre oder im Nachkriegsdeutschland kennengelernt. Manche wollen auch die von ihnen verehrten Lehrer von jeglichem Bezug zum NS-Regime reinwaschen.

Nachrichten: In den letzten zwei Jahrzehnten begannen viele Institutionen, sich ihrer Rolle oder der ihrer Vorläufergesellschaften im Nationalsozialismus bewusst zu werden: MPG, DFG und Auswärtiges Amt haben historische Studien finanziert und unterstützt. Woher kommt dieser Trend?

Maier: Zum einen sind das innerverbandliche Prozesse: Vereine, Gesellschaften und Institutionen sind jeweils zu Jubiläen immer damit konfrontiert, was in ihrer Geschichte passiert ist. Zum anderen steht das aber auch in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext: Mit der Wende 1990 wurde in der historischen Forschung der Vergleich der DDR-Diktatur mit der nationalsozialistischen Herrschaft interessant. Und da wurde auf einmal offensichtlich, dass sehr vieles über die NS-Zeit unklar war. Gerade das Verhalten und die Bedeutung von Organisationen, ja sogar von staatlichen Einrichtungen von der Krankenkasse bis zum Außenministerium.

Nachrichten: Auch Industrieunternehmen begannen in den 1990er Jahren, sich um ihre NS-Geschichte zu kümmern.

Maier: Da ging es vor allem das Thema Zwangsarbeiterentschädigung, das den Handlungsbedarf setzte. Die Unternehmen waren gezwungen sich zu fragen: Wie viele Zwangsarbeiter hatten wir, wie haben wir sie behandelt und entschädigt?

Nachrichten: Hat nicht auch ein Generationenwechsel stattgefunden, der die historische Forschung zur NS-Zeit heute einfacher macht?

Maier: Da haben Sie recht, die Vertreter der Generation, die heute in den Unternehmensleitungen sitzt, also die etwa 1955 bis 1975 Geborenen, haben einen anderen Blick auf die NS-Zeit. Die Tatsache einer mehr oder weniger schuldhaften Verstrickung und damit der Mitverantwortung ist heute allgemein akzeptiert. Als Institution, als Unternehmen muss man dann eben von einer institutionellen Mitverantwortung sprechen. Hilfreich war auch, dass es einen Paradigmenwechsel in der NS-Forschung gab. Bis in die 1980er Jahre war es das Ziel, das Geschehen in Gut-Böse-, in Täter-Opfer-Kategorien einzuordnen. Wir sehen das heute viel differenzierter, da gibt es sehr viele Grautöne.

Aufarbeitung mit Verspätung

Nachrichten: Kommt diese Forschung nicht viel zu spät? Es ist ja nicht so, dass die NS-Zeit ein blinder Fleck der deutschen Geschichtsforschung war. Spätestens seit der 68er Bewegung war die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in vollem Gange.

Maier: Ja, das ist richtig, und es gab keineswegs unter den Historikern eine Abwehr gegen das Thema Nationalsozialismus.

Nachrichten: Kann es sein, dass sich die Institutionen lange selbst nicht darum kümmern wollten?

Maier: Auf jeden Fall. Lange herrschte vielerorts diese Unter-den-Teppich-kehren-Mentalität aus den 1950/60er Jahren, die von der Schülergeneration bereitwillig weitergetragen wurde. Dass es dann in den 1990er Jahren losgeht, liegt auch an den auf einmal zugänglichen Archiven: Wir haben jetzt die DDR-Archive zur Verfügung und insbesondere auch die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Zudem sind in bekannten Archiven die Sperrfristen abgelaufen. Personalakten in Behörden zum Beispiel, die das Interessanteste sind, wenn man Persönlichkeiten historisch untersuchen will, haben eine Sperrfrist von 30 Jahren ab dem Todesdatum der Person.

Nachrichten: Unternehmens- und Vereinsarchive sind aber privatrechtliche Archive, die müssen gar niemanden in ihre Akten schauen lassen.

Maier: Ja, das ist richtig. Interessant ist der Blick in die Schweiz. Da gab es in den 90er Jahren eine intensive Debatte um das Nazigold bei den Schweizer Banken, und die Frage wurde immer drängender, wie weit die Schweiz verstrickt war. Der Schweizer Bundesrat hat das von einer unabhängigen Expertenkommission untersuchen lassen. Und mehr noch: Sie haben ein Gesetz erlassen, dass die Unternehmen verpflichtete, Angehörigen dieser Kommission Einblick in die Archive zu gewähren.

Nachrichten: In Deutschland haben die Unternehmen das selbst in die Hand genommen und Historikern die Archive geöffnet.

Maier: Das stimmt, es sind etliche große historische Untersuchungen erschienen zu fast allen großen Konzernen — Höchst, BASF, um nur zwei zu nennen. Es gibt aber eine Lücke, die für meine Arbeit schmerzhaft war: Über die NS-Zeit bei Merck gibt es sehr wenige Studien.

Nachrichten: Das wäre hilfreich gewesen, weil ja der damalige Merck-Chef Karl Emanuel Merck ab 1937 auch Vorsitzender des Vereins Deutscher Chemiker war.

Maier: Ja, an Hand der Unternehmenspolitik lassen sich nämlich viele Rückschlüsse auf die beteiligten Personen ziehen — beispielsweise die Haltung zur Arisierung und zu Zwangsarbeitern.

Nachrichten: War die Quellenlage aber im Großen und Ganzen zufriedenstellend?

Maier: Die Quellenlage ist sogar gut. Nehmen wir nur mal das Bayer-Archiv, meine wichtigste Quelle. Da wirkt das Erbe von Carl Duisberg fort, der Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt hat: “Wir heben jeden Schnipsel auf”. Diese sammlerische Akribie hat sich bis heute fortgesetzt, und die Politik des Unternehmens ist Offenheit. Das ist der Traum des Historikers. Bei meinem ersten Besuch kam ich dort an, schilderte dem Archivar, was ich brauchte, der sagte “Kein Problem” und kam dann mit einem Rollwagen voll mit Akten, und das war nur der Anfang.

Nachrichten: Hatten Sie Hilfe bei der Sichtung der Quellen?

Maier: Carsten Reinhardt und Malte Stöcken haben mich bei den Berliner Archiven unterstützt, also vor allem bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft. Wir konnten da noch einige Nachlässe heben.

Nachrichten: Gab es bei der Quellenarbeit Aha-Erlebnisse?

Maier:Natürlich! In Marl gibt es zum Beispiel das Evonik-Archiv, vormals Th. Goldschmidt. Dort im kleinen Bestand fand ich so ein Juwel. Dabei ging es um die Versuche radikaler NS-Chemiker, die Macht im VDCh-Bezirksverein Rheinland-Westfalen an sich zu reißen. Wenn Sie nämlich als Historiker einen Sachverhalt beschreiben wollen, gibt es immer Lücken. Sie wissen zum Beispiel aus einem Protokoll von einem Vorgang, es fehlen jedoch genauere Informationen oder eine zweite unabhängige Verifikation. Dann bleibt ihnen nur die geschulte Spekulation, wie der Historiker das nennt. Der Protokolleintrag ist natürlich ein starkes Indiz, dass der Vorgang Tatsache war, aber für ein Buch müssen Sie sorgfältig formulieren und relativieren, damit ihre Aussage nicht als eindeutiger Befund aufgefasst wird, sondern nur als — wenn auch gut begründete — Vermutung. Und so etwas ist mir in Marl passiert: Da fand ich ein Dokument, das alles bestätigte, was ich vorher als geschulte Spekulation formuliert hatte.

Nachrichten: Was war mit dem Archiv der GDCh in Frankfurt?

Maier: Das war meine zweitwichtigste Quelle. Dessen Archivalien doppeln sich zwar häufig mit dem Bayer-Archiv in Leverkusen. Das darf man aber nicht als negativ wahrnehmen, sondern im Gegenteil: Es zeigt, dass man Sachverhalte richtig einordnet, wenn man Bestätigung findet für das, was man schon hat.

Grenzüberschreitungen

Nachrichten: Eine der überraschenden Erkenntnisse war, dass sich die Chemiker schon sehr früh zu Erfüllungsgehilfen der Rüstungsämter gemacht haben.

Maier: Ja, aber den Begriff Erfüllungsgehilfe werden Sie bei mir nicht finden

Nachrichten: … weil er ein moralisch wertender Begriff ist?

Maier: Nein, nicht deswegen. Werten müssen wir als Historiker — und die GDCh als Auftraggeberin der Studie übrigens auch. Die GDCh hat zum Beispiel zu Recht die Vergabe der Kuhn-Medaille eingestellt. Richard Kuhn kann für uns heute kein Vorbild mehr sein. Den Begriff “Erfüllungsgehilfe” verwende ich aber deshalb nicht, weil er ungenau ist. Als Historiker beschreiben wir die geschichtlichen Vorgänge wie eine chemische Reaktion: Die Beteiligten an einem Prozess bilden Ressourcen füreinander. Wenn es um ethisch-moralische Fragen geht, passt deshalb der Begriff “Grenzüberschreitung” viel besser: Funktionäre der Chemikerorganisationen wurden von sich aus aktiv, zogen keine Linie gegenüber den Rüstungsämtern und nutzten Handlungsspielräume nicht.

Nachrichten: Eines der traurigsten Kapitel der GDCh-Vorläuferorganisationen ist ihr Verhalten bei der Arisierung, also bei der Entrechtung und schließlich den Zwangsausschlüssen der jüdischen Mitglieder. Bei diesem Kapitel meinte ich auch bei Ihnen eine gewisse Fassungslosigkeit zu spüren, dass kein einziger der Funktionäre dagegen protestierte, immerhin waren ja enge Kollegen betroffen.

Maier: Ja, das stimmt. Aber ein latenter Antisemitismus war in der deutschen Wissenschaft auch vor 1933 an der Tagesordnung. Als Historiker hat mich aber dennoch gewundert, mit welcher Beharrlichkeit die GDCh-Vorläufer noch im Jahr 1944 daran festhielten, die Arisierung der Mitgliedschaft zu Ende zu bringen.

Nachrichten: Ihre Studie zeigt auch, dass die damaligen DChG- und VDCh-Funktionäre durchaus Handlungsspielräume hatten und diese auch einsetzten, wenn es darum ging, ihre Verbände möglichst unabhängig zu halten.

Maier: Ja, diese Nachkriegslegende, dass Befehlsnotstand herrschte, dass jeder mitmachen musste, sonst wäre er ins KZ gekommen oder an die Wand gestellt worden, ist mittlerweile mehrfach widerlegt. Auch die vorliegende Studie zeigt, dass alle in diesem Zusammenhang rebellischen Funktionäre keinerlei Konsequenzen zu erleiden hatten. Es ist aber in gewisser Weise unfair, das Verhalten aus unserer heutigen Sicht zu beurteilen, wo Zivilcourage als Wert gilt. Damals gehörte Obrigkeitshörigkeit zur Mentalität der Menschen.

Chemiker: Die beste Chance, den Krieg zu überleben

Nachrichten: Sie präsentieren eine verblüffende Statistik. Nach ihrer Abschätzung kamen 16,8 Prozent der männlichen Gesamtbevölkerung ums Leben, bei den Chemikern waren es etwa 3 Prozent. Chemiker zu sein, war also für einen jungen Mann die beste Möglichkeit, zu überleben?

Maier: Darin drückt sich natürlich die Wertschätzung der Chemiker durch das Regime aus. Und hier ist auch eine der Ursachen für eine der häufig geäußerten Nachkriegslegenden der Schülergeneration zu suchen. Nach dem Krieg hieß es: Mein Doktorvater hat dafür gesorgt, dass ich freigestellt wurde. Kein Wunder, dass die Doktoranden dankbar waren. Aber man muss das relativieren, die Chemiker-Freistellung war ein normales verwaltungstechnisches Verfahren, und die Professoren hatten nicht nur ein altruistisches Interesse, dass ihnen möglichst viele Mitarbeiter blieben. Selbst im Jahr 1944, als die Wehrmacht jeden Mann brauchte, kamen noch globale Freistellungserlasse für die 5000 wehrfähigen Chemiker in der Industrieforschung.

Nachrichten: Für die zum Beispiel Carl Krauch gesorgt hatte.

Maier: Genau. Und Krauch gehört natürlich genau zu diesen schwer mit dem NS-Regime verstrickten Persönlichkeiten, für den Zwangsarbeitereinsatz in Auschwitz-Monowitz wurde er als Kriegsverbrecher verurteilt. Aber in den 1950er/60er Jahren riefen die deutschen Chemiker: “Er hat doch die Wissenschaft gerettet, er hat uns freigestellt; so einen Mann kann man doch nicht moralisch verurteilen.”

Nachrichten: Was kann, was soll, was muss die GDCh aus der Geschichte lernen?

Maier: Gesellschaften, Vereine und Verbände existieren nicht im luftleeren unpolitischen Raum. Deshalb sollte man sich darüber klar sein, dass man an einer Schnittstelle steht, an der knallharte Interessenpolitik auftreten kann. Vorstände, Funktionäre und Mitgliedsgruppierungen sind auch jeweils Repräsentanten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Bereiche, in der Chemie also zum Beispiel Industrie, Hochschule oder andere Verbände. Wir alle sind nicht frei davon, Interessenpolitik zu machen. Wir müssen aber wachsam sein, wenn in unseren Verbänden Grenzen überschritten werden.

ZUR PERSON

Helmut Maier, Jahrgang 1957, ist seit dem Jahr 2007 Professor für Technik- und Umweltgeschichte an der Universität Bochum. Er studierte Elektrotechnik (Dipl.-Ing. 1985), anschließend Naturwissenschafts- und Neuere Geschichte und promovierte darin im Jahr 1990. Bis 1998 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte der Universität Bochum. Von 1999 bis 2004 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprogramms “Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus” der Max-Planck-Gesellschaft. Im Jahr 2005 habilitierte er sich an der BTU Cottbus.

Im Auftrag der GDCh untersuchte Maier seit dem Jahr 2007 das Verhalten der beiden GDCh-Vorläuferorganisationen Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG) und Verein Deutscher Chemiker (VDCh). Im März 2015 ist die Studie Chemiker im “Dritten Reich” bei Wiley-VCH erschienen.

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