Gesellschaft Deutscher Chemiker

Interview

"Erfolgreich ist etwas anderes als nützlich"

Nachrichten aus der Chemie, September 2022, S. 8-11, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Seit November 2021 ist die Molekularbiologin Maria Leptin Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, der bis zum Jahr 2027 über ein Budget von 16 Milliarden Euro aus dem EU- Programm Horizon Europe verfügt. Mit den Nachrichten aus der Chemie sprach sie über den Nutzen von Grundlagenforschung, menschliche Neugier und die Reibungen mit der Politik.

Frau Leptin, die Position als Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, ERC, ist eine ausgesprochen politische. Bisher waren Sie vor allem Wissenschaftlerin. Wie groß war für Sie die Umstellung?

Politische Arbeit ist nicht neu für mich. Ich war zuvor zwölf Jahre Direktorin der European Molecular Biology Organization, EMBO, das war eine ähnliche Position, allerdings mit viel kleinerem Finanzrahmen, nur mit Lebenswissenschaften. Der ERC ist viel politischer, wir sind von der EU abhängig, nicht von den einzelnen Mitgliedsstaaten. Insofern sind die Leute anders, mit denen ich rede. Aber das ist positiv, ich lerne viel: Es ist schön, nicht nur den Fokus auf Lebenswissenschaften oder Naturwissenschaften zu haben, sondern das ganze Spektrum der Forschung zu sehen.

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Erfahren in politischer Arbeit: Maria Leptin, die Präsidentin des Europäischen Forschungsrats. Foto: Michael Wodak, Medizin Foto Köln

Sehen Sie es als eine Ihrer Aufgaben, die Forschungsförderung der EU auf eine finanziell sichere Basis zu stellen?

Ja. Aber es gibt auch die nationale Forschungsförderung. Ich selber kann nur für den ERC kämpfen – und für das Prinzip der freien Grundlagenforschung. Das ist sehr wichtig.

INFO: Der Europäische Forschungsrat

Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) ist die Institution der Europäischen Union, die Grundlagenforschung fördert. Der ERC wurde im Jahr 2006 gegründet, um die EU für Wissenschaftler:innen attraktiver zu machen. Seit dem Jahr 2007 gibt der ERC Gelder für Forschungsprojekte, zunächst stand pro Jahr eine Milliarde Euro zur Verfügung, heute sind es mehr als drei Milliarden. Projektmittel erhalten nicht nur Forscher:innen in EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch in assoziierten Ländern. Dazu zählen Island, Israel, Norwegen, die Türkei und bis einschließlich 2021 die Schweiz.

erc.europa.eu

Was macht Grundlagenforschung aus Ihrer Sicht erfolgreich?

Nicht jedes Projekt in der Grundlagenforschung ist erfolgreich. Projekte von guten Leuten haben eine größere Chance, erfolgreich zu sein als andere. Die spannendere Frage ist: Was macht Grundlagenforschung wichtig? Ein Standpunkt dazu ist: Es gilt Probleme zu lösen, und dafür müssen wir Geld zur Verfügung stellen. Was aber auch wichtig ist: Wir wissen gar nicht, welche Probleme wir nächstes Jahr, in fünf, zehn oder fünfzig Jahren lösen müssen. Dazu müssen wir erkennen, wie die Welt funktioniert, und dafür brauchen wir Grundlagenforschung. Nur dann können wir die Welt, wenn es sein muss, manipulieren, ohne dabei Schaden anzurichten. Das haben wir schon mehrfach gesehen. Die Gefahr durch den Klimawandel haben Grundlagenforscher entdeckt. Grundlagenforscher waren also schon da, bevor wir überhaupt wussten, welche Probleme es zu lösen gilt.

Also geht es bei erfolgreicher Grundlagenforschung um den Nutzen.

Erfolgreich ist etwas anderes als nützlich. Es gibt erfolgreiche Forschung, die nur die menschliche Neugier befriedigt. Wir finden es toll, wenn Kinder neugierig sind. Forscher sind auch neugierig, nur kostet es mehr Geld. Alle sind begeistert, wenn ein schwarzes Loch entdeckt wird oder wenn das James-Webb-Teleskop Bilder aus dem All sendet. Alle wollen wissen, wie ein Stern entsteht. Dieses Wissen ist streng genommen unnütz. All das ist reine Neugier, die – unter anderem – der ERC finanziert.

Wie beurteilt der ERC, ob ein Forschungsprojekt erfolgreich war?

Es dauert Jahre, bis Forschung sichtbare Erfolge bringt. Zur Evaluierung greifen wir 250 Anträge heraus, die eine unabhängige Kommission begutachtet. Einige Mitglieder hatten schon mit dem ERC zu tun, saßen zum Beispiel in den Auswahlgremien. Zudem ziehen wir bewusst Experten hinzu, die noch nie etwas mit dem ERC zu tun hatten, das ist wichtig für die Objektivität. Diese Kommission beurteilt qualitativ, ob ein Projekt einen Durchbruch gebracht hat, einen großen Fortschritt, einen weniger wichtigen Fortschritt oder ob es gar keinen Erfolg gab. Völlig erfolglos sind wenige Prozent. Der größte Teil sind tatsächlich Durchbrüche oder signifikante Fortschritte.

Ist das nicht ein Zeichen, dass der ERC zu konventionell und nicht mutig genug fördert? Bei Hochrisikoforschung, wie sie der ERC finanziert, wäre doch zu erwarten, dass mehr als die Hälfte scheitert?

Nun ja, „nichts herauskommen“ kann Unterschiedliches bedeuten: Man macht ein Experiment, und das geht schief, man kann eine Hypothese weder bestätigen noch widerlegen. Dann hat man das Experiment falsch gemacht, oder es funktionierte nicht. Dann probiert man weiter. Dass an vielen Tagen in diesem Sinne „nichts herauskommt“, ist normal. Es ist aber etwas ganz anderes, nach fünf Jahren nichts publiziert zu haben. Das passiert selten. Manchmal findet man etwas anderes als erwartet, oder es ist kein großer Durchbruch, sondern nur ein inkrementeller Fortschritt. Das betrifft etwa 40 Prozent der Projekte. Dennoch ist das Geld dafür nicht verschwendet – im Gegenteil, ich halte diese Forschung für sehr wichtig. Dabei wurden Studierende in hervorragenden Laboren ausgebildet, Postdocs haben publiziert und sich einen Namen gemacht, Doktoranden haben ihre Promotion abgeschlossen – und es wurde Wissen erweitert.

Politiker stehen unter Druck, mit dem Steuergeld kurzfristig Erfolge zu produzieren. Wie schwer ist es, der Politik klarzumachen, dass auch Forschung, die nicht das Gewünschte liefert, finanziert werden muss?

Wenn wir wüssten, was bei Forschung herauskommt – das sage ich Politikern immer wieder –, dann sind die Ergebnisse keine Entdeckungen mehr. Entdecken heißt, man kennt die Entdeckung vorher nicht. Neuland betreten heißt, dass man im Sumpf untergehen kann.

Das Geld der Steuerzahler geht auch nicht an Leute mit irgendeiner verrückten Idee, sondern an Leute, die nachgewiesen haben, dass sie ordentliche Forschung machen können. Die nachgewiesen haben, dass sie gut ausbilden und ein Labor leiten können. Also ist das Geld auf alle Fälle gut angelegt.

Das Geld erhalten also diejenigen, von denen die Auswahlkommission denkt, dass sie auch künftig etwas Ordentliches leisten werden. Reproduziert der ERC damit nicht bloß die Forschergenerationen, die sich schon bewährt haben? Müssen Geldgeber nicht für mehr Vielfalt in der Forschercommunity sorgen, also neue Forscherschichten erschließen und denen mehr geben als den etablierten?

Der ERC gibt den jungen Forschern sehr viel mehr Geld als den etablierten. Vom Fördergesamtvolumen gehen ungefähr zehn Prozent in die Synergy Grants und die Proof-of-Concept-Förderlinien. Der Rest teilt sich auf in die Starting Grants, Consolidator Grants und Advanced Grants. Starting und Consolidator Grants fördern zusammen die zwölf Jahre nach der Promotion. Durchschnittliche Forscherkarrieren nach dem PhD dauern 35 Jahre. Das heißt, zwei Drittel des Geldes geht an den Nachwuchs.

Dass die Mittel bevorzugt an die Etablierten geht, stimmt also nicht. Aber geht es vielleicht vor allem an die, die damit angeben können, was sie schon alles gemacht haben?

Nein, auch das nicht. Der ERC vergibt die Mittel nicht danach, wer die meisten Paper publiziert hat. Der Antragsteller wird danach beurteilt, wie überzeugend er oder sie ist. Wenn jemand noch nie etwas Ordentliches publiziert hat oder nicht überzeugend darstellt, dass die beschriebenen Techniken im Labor funktionieren, dann ist das schlecht.

Ich habe in Panels gesessen, in denen wir Anträge von Nobelpreisträgern beurteilt haben, von führenden Forschern auf ihrem Gebiet. Dabei hieß es, wenn eine solche Person keinen ordentlichen Antrag schreibt, dann können wir den erst recht nicht bewilligen. Einem Anfänger, jemandem von einem finanzschwachen Institut oder aus einem schlechter aufgestellten Land wird eher nachgesehen, wenn der Antrag nicht perfekt formuliert ist.

Ist es auch eine Aufgabe des ERC, solche Länder – in der EU und assoziierte – zu fördern, die finanz- und forschungsschwach sind?

Nein. Es ist Aufgabe der Länder selbst, sich forschungsstark zu machen. Aber bei den einzelnen Forschern wird anerkannt, dass es in manchen Umgebungen schwieriger ist als in anderen, einen guten Antrag zu schreiben. Wir haben Instrumente, um diesen Forschern und Forscherinnen zu helfen: Mentoring Programme, eine Working Group on Widening Participation. Wir empfehlen, sich über die nationalen Kontaktstellen Rat zu holen, wir helfen bei der Antragstellung. Aber das Kriterium ist und bleibt alleine: Exzellenz.

Auf die Bevölkerung umgerechnet gingen die meisten Starting Grants und Consolidator Grants in die Schweiz und nach Israel. Wie sehr schmerzt es Sie, dass die Verhandlungen mit der Schweiz über eine Fortsetzung der Forschungszusammenarbeit gescheitert sind?

Extrem. Die Forscher in der Schweiz wollen die Zusammenarbeit. Viele Politiker in der Schweiz möchten die Verhandlungen wieder aufnehmen. Es ist ein Problem auf höchster politischer Ebene, das nicht nur die Forschung betrifft. Aber es gibt Hoffnung auf eine Lösung.

Wie sieht es mit dem Vereinigten Königreich aus?

Ähnlich, aber da hängt nach dem Brexit im Moment alles in der Luft, nicht nur in der Forschung. Im Moment können wir nur abwarten.

Welche Haltung hat der ERC zur Forschungszusammenarbeit mit autoritären Staaten?

Das ist schwierig. Den einzelnen Forschern in diesen Ländern möchten wir helfen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, gegen Repressionen zu kämpfen. Politisch kann der ERC nichts machen. Wir unterstehen der EU-Kommission, und es ist auch für Politiker in Europa und in den einzelnen Ländern nicht einfach zu entscheiden, wie sie mit diesen Situationen umgehen. Man möchte den Kontakt halten. Länder, die autoritär regiert werden, von Forschungszusammenarbeit auszuschließen, hat möglicherweise schlimmere Konsequenzen als zu versuchen, sie zu beeinflussen. Wenn Grant Agreements eingehalten sind, wenn die Rechte des Forschers respektiert werden, dann fördern wir.

Aber steht die Wissenschaft damit nicht vor dem gleichen Dilemma, das gerade die internationalen Handelsbeziehungen bestimmt? Die These vom Wandel durch Handel ist gescheitert. Ist es nicht zu einfach, von Wissenschaftsseite auf Entscheidungen aus der Politik zum Umgang mit Diktaturen zu warten? Muss nicht die Wissenschaft selbst Lösungen finden?

Das sehe ich auch so. Ich hatte Fälle in meiner eigenen Arbeitsgruppe, dass Chinesen kein Stipendium von zuhause wollten, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Das habe ich respektiert und gesagt, dann finden wir eine andere Geldquelle. Jeder einzelne kann hier eine Rolle spielen.

Der ERC ist eine politische Institution und direkt von den Regierungen finanziert: Dennoch können wir in solchen Fragen unabhängig agieren. Was die Grants betrifft, bestehen wir zum Beispiel darauf, dass ethische Regeln eingehalten werden. Forscher dürfen keine Experimente in Ländern machen, die laschere Regeln haben als Europa, zum Beispiel in Embryonen- oder Stammzellenforschung. Wir als ERC können und wollen nicht sagen, wir finanzieren keine Projekte mehr, bei denen Chinesen oder Russen mitarbeiten. Aber mit Institutionen in Russland zum Beispiel hat die Kommission eine Zusammenarbeit ausgeschlossen. Das finde ich richtig.

Beim ERC werden Projekte in Life Sciences, in Physical Sciences and Engineering sowie in Social Sciences and Humanities eingeordnet. Die meisten Projekte in der Chemie laufen unter Physical and Engineering Sciences. Wird die Chemie dadurch zur Hilfswissenschaft degradiert?

Es gibt innerhalb der drei großen Bereiche jeweils sieben bis zehn Panels in spezifischen Bereichen. Der Bereich, der am homogensten ist, sind die Life Sciences. Was meinen Sie, was die Statistiker, Computer Scientists und die Mathematiker sagen? Ehrlich gesagt, Vertreter eines jeden Fachs klagen, ihr Fach käme am schlechtesten weg und werde zur Hilfswissenschaft degradiert. Jeder kämpft für seinen Bereich, das ist völlig normal.

Mit Maria Leptin sprachen Nachrichten-Redakteurin Frauke Zbikowski und Chefredakteur Christian Remenyi.

Bildung + GesellschaftSchlaglichtthema: Chemie in Europa

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