Bildung + Gesellschaft

Für eine digitale Transformation der chemischen Industrie sind Fachkräfte mit umfassenden Kompetenzen unabdingbar. Die Grundlagen fachbezogener digitaler Bildung werden bereits in der Schule gelegt. Die Lehrkräftebildung ist hierfür neu auszurichten.Digitalisierung ist ein Schlüsselthema für die chemische Industrie.1) Diese digitalisiert Produktionsprozesse, dezentralisiert Forschung und Entwicklung und flexibilisiert Kooperationen. Daher benötigt die chemische Industrie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über entsprechende Kompetenzen verfügen. Dies betrifft nicht nur die Befähigung, digitale Techniken zu nutzen, sondern auch weitergehende Kompetenzen wie Digital Literacy oder Data Literacy.Solche digitalisierungsbezogenen Kompetenzen sind keine Zusatzqualifikationen, sondern Basiskompetenzen, die bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorhanden sein müssen. Damit jeder diese Basiskompetenzen bis zum Eintritt in den Beruf oder die Berufsausbildung erwerben kann, muss Förderung so früh wie möglich ansetzen. Somit ist der Aufbau allgemeiner digitalisierungsbezogener Kompetenzen ein Bildungs- und Erziehungsziel der Schulen. Entsprechend legt die Kultusministerkonferenz in ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt” Kompetenzen fest, die alle Schülerinnen und Schüler bis zum Ende des mittleren Schulabschlusses erwerben müssen.2)<h2 type="main">Die Rolle der Chemielehrkräfte</h2>Um Lernende dabei zu unterstützen, digitale Kompetenzen aufzubauen, müssen Lehrkräfte über entsprechende Fähigkeiten und darüberhinausgehendes Wissen verfügen.3) Außerdem haben Chemielehrkräfte eine Stellvertreterfunktion für die Chemie als Fachwissenschaft und sollen fachtypische Arbeitsweisen der chemischen Forschung und Industrie widerspiegeln können – dazu gehören digitale Techniken und damit verbundene Methoden.4)Angehende Lehrkräfte mit naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern schätzen die Rolle digitaler Medien in der fachwissenschaftlichen Forschung teilweise als nicht besonders hoch ein. Im Vergleich zwischen den Naturwissenschaften sehen sie diese Rolle in der Chemie als am geringsten an; nur in der Mathematik haben digitale Medien in der Vorstellung der Studierenden eine noch geringere Bedeutung (<link href="#nadc20224124093-fig-0001">Diagramm).<figure xml:id="nadc20224124093-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/OBCTFKJRsfNOJqirVmoA"><figcaption><label>Abb.1: </label>So beurteilen angehende Lehrkräfte die Rolle digitaler Medien in den Fachwissenschaften. Studierendenbefragung an der Pädagogischen Hochschule Thurgau im Dezember 2021 (n = 189).</figcaption></figure></figure>Diese Fehleinschätzung der fachwissenschaftlichen Berufspraxis unterstreicht den Handlungsbedarf, die Lehrkräftebildung an die Erfordernisse der chemiebezogenen Berufsfelder anzupassen. Chemielehrkräfte müssen über Kompetenzen verfügen, die über die fachunspezifischen digitalen Kompetenzen hinausgehen; sie brauchen solche Kompetenzen speziell für das Unterrichten von Chemie.<h2 type="main">Orientierung für die Digitalisierung im Chemieunterricht</h2>Für die Naturwissenschaften und damit auch für die Chemie gibt es den Orientierungsrahmen Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften, Dikolan. Dieser beschreibt digitalisierungsbezogene Kompetenzen, die alle Lehramtsstudierenden mit naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern bis zum Ende des Studiums erwerben sollten (<link href="#nadc20224124093-fig-0002">Abbildung).5)<figure xml:id="nadc20224124093-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/BRTWOOCRdqVia5Y2YrrI"><figcaption><label>Abb.2: </label>Der Orientierungsrahmen Dikolan – Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften (<a href="https://dikolan.de" target="_blank">dikolan.de</a>).</figcaption></figure></figure>Dikolan unterscheidet sieben zentrale Kompetenzbereiche für das digital gestützte Unterrichten von Chemie, Biologie und Physik. Für jeden Kompetenzbereich sind Erwartungen beschrieben, die verdeutlichen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten angehende Lehrkräfte verfügen sollten. Die vier allgemeineren Bereiche „Dokumentation”, „Präsentation”, „Kommunikation/Kollaboration” sowie „Recherche und Bewertung” werden zwar für alle Unterrichtsfächer benötigt, sind in Dikolan aber für die Naturwissenschaften spezifiziert.Es gibt Präsentationsformate wie Moleküldarstellungen, die fachspezifisch für die Chemie sind und mit denen Lehrkräfte vertraut sein müssen.<h2 type="main">Moleküle und Messwerte</h2>Kompetenzen in „Messwert- und Datenerfassung“, „Datenverarbeitung“ sowie „Simulation und Modellierung“ sind essenziell für den naturwissenschaftlichen Unterricht, sodass Dikolan sie als eigene Kompetenzbereiche explizit herausstellt.Für jeden Kompetenzbereich sind die Erwartungen nach Tätigkeitsbezügen strukturiert: „Unterrichten“, „Methodik/Digitalität“, „Fachwissenschaftlicher Kontext“ und „Spezielle Technik“. So sind für jeden Kompetenzbereich auch die Bezüge zum Berufsfeld und zur Fachwissenschaft hergestellt. Außerdem werden die Erwartungen nach Anforderungen gestuft: „Nennen“, „Beschreiben“, „Anwenden“. Hieraus ergibt sich eine Tabelle, die als Kompetenzraster Dikolan-Grid Studierende über die von ihnen zu erwerbenden Kompetenzen informiert und ihnen gleichzeitig zur Selbstreflexion dient.6)<h2 type="main">Digitalisierung mit Bezug zur Fachwissenschaft</h2>Aus dem Dikolan-Grid lernen die Studierenden unter anderem, dass (angehende) Chemielehrkräfte fachwissenschaftliche Bezüge herstellen können müssen. Sie selbst müssen beispielsweise beschreiben können, wie Spektraldaten digital dokumentiert werden. Sie sollen fachspezifische Präsentationshard- und -software nennen, zum Beispiel Wärmebildkameras, Programme zum Zeichnen von Strukturformeln und Reaktionsmechanismen, sowie Präsentationen mit digitalen Präsentationsmedien erstellen und vorführen können, zum Beispiel dreidimensionale Darstellungen von Molekülschwingungen. Die Kenntnis in der Chemie verbreiteter Formen der Zusammenarbeit wie das Erstellen gemeinsamer Laborbücher ist ebenso wichtig wie die Kenntnis fachspezifischer Datenbanken und Informationsquellen sowie der damit verbundenen fachtypischen Recherchestrategien und Qualitätskriterien.Angehende Lehrkräfte müssen in der Chemie etablierte digitale Methoden der Messwerterfassung nennen, entsprechende fachwissenschaftliche Szenarien beschreiben und die Methoden anwenden können, also zum Beispiel mit pH-Meter und digitalen Waagen umgehen können und Werte aus Photometer, Massenspektrometer, GC/MS oder AES digital erfassen können. Außerdem müssen sie in der Lage sein, fachwissenschaftliche Szenarien digitaler Datenverarbeitung zu nennen und zu beschreiben, zum Beispiel in der Kolorimetrie, bei der Berechnung von Stoffmengen und Konzentrationen oder Big-Data-Analysen.Lehramtsstudierende müssen die Ziele von Simulationen und Modellierungen in der Fachwissenschaft kennen (prognostisch, analytisch, konfirmatorisch, zur Veranschaulichung). Sie müssen wissen, wie sie Simulation und Modellierung zum Erkenntnisgewinn nutzen können und welche Vor- und Nachteile sowie erkenntnistheoretischen Grenzen die Methoden in verschiedenen Forschungsszenarien haben.<h2 type="main">Lehrstoff an den Universitäten, Umsetzung an Schulen</h2>Mehrere Universitäten haben Dikolan bereits in die Lehrkräftebildung eingebunden, vor allem in der Physik- und Biologiedidaktik. Die Universität Konstanz ist bei der Chemie Vorreiter und bietet im Masterstudium ein Seminar an, das sich mit den beschriebenen Kompetenzen befasst.7) Wie die Ergebnisse eines Online-Self-Assessments zeigen, ist eine gezielte Förderung der in Dikolan beschriebenen Kompetenzen in der universitären Lehre umsetzbar.8)Für Chemielehrerinnen und -lehrer im Beruf kann Dikolan-Grid ein Hilfsmittel sein, um Unterrichtsplanungen mit digitalen Elementen anzureichern. Ein Beispiel dafür ist die Photometrie mit dem Smartphone (<link href="#nadc20224124093-fig-0003">Screenshot).9)<figure xml:id="nadc20224124093-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/M8FZ027YTaCpBoakv3f7"><figcaption><label>Abb.3: </label>Screenshot der iOS-App, die Schülerinnen und Schüler für photometrische Untersuchungen mit dem Smartphone nutzen.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Lehrerbildung für die Zukunft</h2>Die Prozesse der Digitalisierung setzen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf allen Seiten voraus. Digitalisierungsbezogene Anpassungen im Beruf unterliegen dem technologischen Wandel, was mit einer ständig anzupassenden Ausbildung einhergehen sollte. Insofern formuliert Dikolan Basiskompetenzen, die sowohl inhaltlich erweitert als auch bei Bedarf durch zusätzliche Kompetenzbereiche ergänzt werden können. Dies kann künftig immer relevanter werdende Themen betreffen wie Augmented Reality, künstliche Intelligenz – insbesondere Machine Learning, Big Data sowie für Feedback und den Lernfortschritt einzelner Schüler:innen und des ganzen Klassenverbands. Mit Anpassungen lässt sich der Orientierungsrahmen in andere Länder transferieren, wie für die Schweiz bereits geschehen.10)<h2 type="main">Der Autor</h2>Diesen Beitrag haben verfasst: Lars-Jochen Thoms (Foto), Postdoc am Lehrstuhl für Fachdidaktik der Naturwissenschaften an der Uni Konstanz und der PH Thurgau, Sebastian Becker, Uni Köln, Till Bruckermann, Uni Hannover, Alexander Finger, Uni Leipzig, Johannes Huwer, Erik Kremser, Uni Konstanz und PH Thurgau, Monique Meier, Uni Hannover, Christoph Thyssen, TU Kaiserslautern, und Lena von Kotzebue, Uni Salzburg.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/dYX1GHN3T5SdDlS3rV7f"><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Digitalisierungsbezogene Kompetenzen sind keine Zusatzqualifikationen, sondern Grundlagen, auch für Chemiker:innen.Angehende Chemielehrkräfte unterschätzen den Anteil der digitalen Techniken, die Chemiker:innen in Forschung und Industrie einsetzen.Chemiefachbereichen hilft der Orientierungsrahmen „Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften – Dikolan“, einen Überblick über die benötigten Fähigkeiten zu erhalten.<ul class="references" xml:id="nadc20224124093-bibl-0001" cited="no" style="numbered"><li xml:id="nadc20224124093-bib-0001">1 W. Falter , A. Kerller, J.-P. Nickel et al. Chemie 4.0: Wachstum durch Innovation in einer Welt im Umbruch, München 2017</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0002">2 Kultusministerkonferenz, Strategie „Bildung in der digitalen Welt”, Berlin 2016</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0003">3 C. Redecker European Framework for the Digital Competence of Educators: DigCompEdu, Luxemburg 2017</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0004">4 C. Thyssen, L.-J. Thoms, E. Kremser et al. „Digitale Basiskompetenzen in der Lehrerbildung unter besonderer Berücksichtigung der Naturwissenschaften“, in: M. Beißwenger, B. Bulizek, I. Gryl, F. Schacht (Hrsg.), Digitale Innovationen und Kompetenzen in der Lehramtsausbildung, Duisburg 2020, 77–98</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0005">5 S. Becker, T. Bruckermann, A. Finger et al. „Orientierungsrahmen Digitale Kompetenzen Lehramtsstudierender der Naturwissenschaften – DiKoLAN“, in: S. Becker, J. Meßinger-Koppelt, C. Thyssen (Hrsg.), Digitale Basiskompetenzen, Hamburg 2020, 14–43</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0006">6 L. von Kotzebue, M. Meier, A. Finger et al., Grid. Educ. Sci. 2021, 11, 775</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0007">7 L. Müller, L.-J. Thoms, P. Möhrke et al., CHEMKON 2022, 29, 349</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0008">8 A. Henne, P. Möhrke, L.-J. Thoms et al., Educ. Sci. 2022, 12(5), 356</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0009">9 M. Meier, L.-J. Thoms, S. Becker et al. „Digitale Transformation von Unterrichtseinheiten – DiKoLAN als Orientierungs- und Strukturierungshilfe am Beispiel Low-Cost-Photometrie mit dem Smartphone“, in: N. Graulich et al. (Hrsg.), Digitalisation in Chemistry Education. Digitales Lehren und Lernen an Hochschule und Schule im Fach Chemie. Münster 2021, 13–27</li><li xml:id="nadc20224124093-bib-0010">10 L.-J. Thoms C. Colberg, P. Heiniger et al., Front. Educ. 2022, 7, 802170</li></ul>

Digitale Bildung

Kein Zusatz, sondern Basis

Für eine digitale Transformation der chemischen Industrie sind Fachkräfte mit umfassenden Kompetenzen unabdingbar. Die Grundlagen fachbezogener digitaler Bildung werden bereits in der Schule gelegt. Die Lehrkräftebildung ist hierfür neu auszurichten.Digitalisierung ist ein Schlüsselthema für die...

Prof.Dr.

Aufgabe der Hochschulforschung ist der Erkenntnisgewinn. Daraus können auch patentierbare Erfindungen entstehen. Eine Innovation bedarf darüber hinaus eines Mehrwerts am Markt. Inkrementelle und Sprunginnovationen sind nach ihrer Entstehung und ihren Konsequenzen klar zu unterscheiden. Mehr und mehr wird Innovation auch aus der Hochschule angestrebt, etwa über Start-ups.In öffentlichen Diskussionen bringen Chemiker zu Recht vor, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit nicht ohne die Chemie zu meistern seien – gleichermaßen als Bildungsauftrag und Technologiegrundlage. Dennoch steht die Frage im Raum, ob die Chemie eine reife Wissenschaft ist, die ihre besten Zeiten hinter sich hat, und allenfalls als Zulieferin für die Nachbardisziplinen dient, von denen die entscheidenden Durchbrüche kommen müssen. Diese Frage stellt sich ebenso für die Industrie: Will sie nur Zulieferer sein oder auch Innovationsmotor? Eine Antwort lässt sich nur mit einem gemeinsamen Blick auf Hochschule und Industrie <link href="#nadc20224128918-fig-0001">finden.<figure xml:id="nadc20224128918-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/Tm48JUaQ0eCqvVT4jyHY"><figcaption><label>Abb.1: </label>Der Weg zur Innovation ist weit. Ist er auch planbar? Illustration: Christoph Burgstedt / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Wir bilden einen kleinen Freundeskreis, der sich aus ehemaligen Industrieleuten und einem Chemiker der Grundlagenforschung zusammensetzt. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Tatsache, dass die enge Verflechtung zwischen Hochschule und Industrie über viele Jahre ein wichtiger Standortvorteil und, ja, auch Innovationstreiber war. Diese Bindung hat jedoch, was noch zu erklären sein wird, deutlich abgenommen. Unsere eigene Arbeit hat demgegenüber menschlich und fachlich von dieser Wechselwirkung enorm profitiert.Es klingt trivial, muss aber jeder Bestandsaufnahme der Chemie vorausgeschickt werden: Industrie und Hochschule haben grundlegend unterschiedliche Ziele. Was in puncto Lehre selbstverständlich klingt, nämlich den Studierenden die bestmöglichen Lebens- und Zukunftschancen mitzugeben, stößt bei der konkreten Ausgestaltung rasch auf einen Chor unterschiedlicher Meinungen. Zusätzlich erwächst für die Chemie die Frage, ob sie denn noch die besten Talente zu gewinnen vermag. Dem Wettbewerb um Köpfe steht ihr Imageproblem entgegen, ebenso aber die wachsende Attraktivität anderer Fächer. Die Forschung an der Hochschule sollte sich auf den Erkenntnisgewinn und gegebenenfalls die daraus abgeleiteten patentierbaren Erfindungen konzentrieren und nie und nimmer die Aufgaben der Industrie übernehmen. Denn dazu muss eine lange Kette weiterer Entwicklungsschritte folgen, was die Hochschule weder leisten kann noch will, und zudem erfordert eine echte Innovation über den Neuigkeitswert hinaus einen kommerziellen Mehrwert.Über die Spannung zwischen Grundlagenforschung und Anwendung ist viel geschrieben worden. Im Grunde ist die Sache einfach: Anwendung macht Grundlagenforschung nicht besser, aber Anwendung ist auch nicht der Sündenfall der Grundlagenforschung. Denn eine dem Menschen nützende Erkenntnis nicht auch „anzuwenden“ würde der Verantwortung des Forschers nicht gerecht. Früher ging es primär um die Synthese komplexer Moleküle, heute geht es zunehmend um die Herstellung komplexer Systeme, deren Wertschöpfung in ihrer maßgeschneiderten Funktionalität liegt.Unerlässlich für die Industrie, nicht zuletzt zur Erhaltung der Marktpositionen, sind inkrementelle Verbesserungen, die jedoch des Zutuns der Hochschule wenig bedürfen. Dem stehen wirklich radikale Innovationen entgegen. Man wird aber Mühe haben, in den letzten Jahrzehnten wirkliche Durchbruchinnovationen seitens der großen Chemiefirmen ausfindig zu machen. Auf der anderen Seite haben es die aus der Hochschule stammenden disruptiven Erfindungen zunehmend schwerer, der industriellen Chemie eine neue Richtung zu geben. Nun fallen solche Durchbrüche nicht vom Himmel und sind nur bedingt planbar, aber der Frage, was in der chemischen Forschung gut läuft und was nicht, können wir nicht ausweichen. Es ist auch diese kontinuierliche Verbesserung des bestehenden Produkt- und Technologieportfolios durch inkrementelle Innovationen, welche die Bereitschaft der Industrie für Hochschulkooperationen hat schwinden lassen.Aber wie hätte die Industrie die Grundlagenforschung an der Hochschule denn gerne? Die Meinungen, wie chemische Forschung künftig betrieben werden soll, gehen weit auseinander. Die Freiheit der akademischen Forschung steht über allem, und dazu gehört auch die Rolle des Spezialisten, der über ein Thema ganz viel weiß. Aber die Frage bleibt, ob sich die Universität trotz der vielen kollaborativen und reich geförderten Projekte nicht zu sehr in ihr Spezialistentum eingegraben hat, und ob es nicht Themen der klassischen Chemie gibt, die man am ehesten als „reif“ bezeichnen würde. Mehr Kooperation anzustreben, Verschiebung der eigenen Kompetenzgrenzen zu erlauben, kurz gesagt, mehr Interdisziplinarität zu wagen, würde sicher neue Innovationspfade erschließen. Dazu müsste die Community die Grenzgänger, die den Mut haben, neue Gebiete mit dem frischen Mut verrückter Ideen anzugehen, stärker belohnen und dabei anerkennen, dass viele drängende Probleme unserer Zeit zu komplex sind, um allein von Spezialisten angegangen zu werden. So verstanden macht Interdisziplinarität die Hochschule innovativer und auch attraktiver für Wechselwirkungen mit der Industrie.Andererseits sollte die Chemie ihre Nachbardisziplinen, aber auch die politischen Entscheidungsträger immer wieder daran erinnern, dass die laufend angefragten gesellschaftlichen Problemlösungen etwa bei Gesundheit und Energie nicht ohne Stoffe zu lösen sind. Chemie hat nun einmal die Kompetenz, diese herzustellen. Eine solche Kompetenz wiederum beruht auf dem Wissen, dass die Kontrolle von Eigenschaften der Kontrolle von molekulare und supramolekulare Strukturen sowie über ihre Herstellung bedarf. Wohlgemerkt: Hier ist von der Kompetenz der Chemie die Rede. Aber braucht es dafür eine chemische Industrie? Nehmen wir das Beispiel der Elektromobilität. Mit Ausnahme des südkoreanischen Unternehmens LG-Chem werden die besten Batterien nicht von der chemischen Industrie gemacht. Diese zieht es vor, Materialien statt komplette Systeme herzustellen.Chemie macht Stoffe, und es gibt Aufgaben bei deren Herstellung, ebenso wie bei deren Beseitigung, die nur die Chemie erfüllen kann. Dazu gehört alles, was mit der Selektivität von Reaktionen zusammenhängt, aber auch zum Beispiel der Energieumsatz oder wie sich Lösungsmittel vermeiden lassen. Die chemische Industrie muss sich hier neu erfinden, denn Energie- und Klimaaspekte, die mit der petrochemischen Basis der Industrie verbundenen Probleme sowie die Forderungen nach einer Kreislaufwirtschaft werden nicht nur für ihre gesellschaftliche Stellung, sondern auch für die Akzeptanz beim Kunden zukunftsentscheidend sein. Das ist ohne die Hochschule, denkt man etwa an die Katalyse, nicht zu leisten.Die chemische Industrie hat sich in den letzten Jahrzehnten stark auf ihre Kernkompetenzen fokussiert und dabei die Fähigkeit verloren, Sprunginnovationen, man könnte auch von radikalen oder disruptiven Innovationen reden, jenseits ihres Kerngeschäfts zu generieren. Nehmen wir dennoch einmal an, dass die chemische Industrie neben der kontinuierlichen Fortentwicklung, die aber durch stärker werdende Konkurrenz zunehmend bedroht ist, auch den Willen zu solchen Innovationen hat – ebenso wie die Fähigkeit, die damit einhergehenden Risiken zu meistern.Wie müssten dafür Forschung und Entwicklung organisiert werden? Während es bei inkrementellen Innovationen zur Verbesserung bestehender Produkte wichtig ist, auf den Kunden zu hören, ist dies bei radikalen Innovationen nicht unbedingt sinnvoll; Kundenaussagen können sogar irreführend sein. Um aber zu verhindern, dass die wenigen radikalen Innovationsprojekte frühzeitig durch das „Immunsystem“ der Firmen, also von firmeninternen Hindernissen erstickt werden, braucht es eine Art Inkubationseinheit für Sprunginnovationen, die von der Organisation des Kerngeschäfts streng getrennt sein muss und sichtbar vom Top-Management unterstützt wird. Eine solche Trennung war bereits ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Gelingen des Haber-Bosch-Prozesses.Die besten Strukturen bewegen allerdings nichts ohne die richtigen Personen. Der Erfolg hängt auch in großen Firmen maßgeblich von den Projektverantwortlichen ab, die für ihre radikalen Innovationsideen brennen. Sie müssen Unternehmer im Sinne von Josef Schumpeter und Peter F. Drucker (der „creative destructors“ forderte) sein. Große Unternehmen sind in der Lage, mit radikalen Innovationen erfolgreich umzugehen, sie brauchen aber den Willen und die Kraft, die hierfür notwendigen strukturellen und kulturellen Reformen entschlossen anzugehen.Im Gegensatz zu etablierten Firmen haben Start-ups viele dieser Probleme nicht. Haben Start-ups deshalb größere Erfolgschancen für Sprunginnovationen? Dafür sprechen mehrere Gründe:<list><listitem>Unternehmer finden in Start-ups die nötige Flexibilität für Eigeninitiative.</listitem><listitem>Innovationsfreudige Talente sehen zunehmend Start-ups als attraktivere Arbeitgeber im Vergleich zu Großunternehmen.</listitem><listitem>Etablierte Firmen und ihre Mitarbeiter haben durch Technologiesprünge viel zu verlieren, etwa den Wert ihrer Produktionsanlagen und ihr spezifisches Know-how. Ganz anders die Start-ups, die deshalb häufig Treiber von Technologiesprüngen sein können.</listitem></list>Gehen wir 40 Jahre zurück, als Pharma noch integraler Bestandteil der chemischen Industrie war. Zu jener Zeit entstanden an Universitäten und Forschungsinstituten die Molekularbiologie und Gentechnik. Deren disruptives Potenzial erkannten die großen Pharmafirmen am Anfang nicht, sondern nur Start-ups wie Genentech, Biogen oder Amgen. Es gab aber in den Firmen durchaus Visionäre, die das Potenzial sahen und durch Kooperationen – die BASF etwa mit Biogen – oder durch Akquisitionen – Roche bei Genentech – gehoben haben. Das umsatzstärkste Arzneimittel aller Zeiten, Humira, wurde in den Labors der BASF in Ludwigshafen auf Basis von Gentechnik und Biochemie entwickelt. Das jüngste Erfolgsbeispiel ist die Kooperation zwischen Biontech und Pfizer.Wir sind uns bewusst, dass das Verhältnis zwischen Start-ups und Großfirmen vielschichtig ist und nicht zuletzt müssen wir einräumen, dass in den klassischen Gebieten der Chemie auch Start-ups noch keine wirklichen Durchbrüche hervorgebracht haben. Es soll deswegen keinesfalls der Eindruck entstehen, dass wir solche künftig ausschließlich bei Start-ups beheimatet sehen.Das Thema verstärkte Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist auch in der öffentlichen Diskussion angekommen. Für die Chemie in Deutschland ist das ein alter Hut, denn sie blickt zurück auf über ein Jahrhundert fruchtbarer Kooperationen. Zudem haben sich viele Formen der Zusammenarbeit innerhalb der Pole Verband der chemischen Industrie (VCI)/Fonds der Chemischen Industrie, GDCh und Dechema herausgebildet, um die uns Chemiker anderer Länder beneiden. Wenn diese Bindungen schwächer geworden sind, werden gegenseitiges Verständnis, Vertrauen und Fairness als Basis für erfolgreiche Kooperationen umso wichtiger. Diese können weder Ministerien noch Agenturen erzeugen, sie erwachsen vielmehr aus persönlichen Begegnungen. In Sonntagsreden betonen Industrievertreter gerne die Bedeutung der Hochschulen für die Industrie, in Tat und Wahrheit aber beschäftigt sich die Industrie immer weniger mit den Hochschulen. In dieses Bild passt auch, dass es fast ausschließlich Human-Resource-Abteilungen überlassen wird, Wissenschaftler zu gewinnen. Doch denen fehlt die persönliche Beziehung zu den Hochschulen, über welche die in der Forschung tätigen Chemiker verfügen. Die intensiven Bemühungen der Industrie um Internationalisierung ihres Nachwuchses und Identifizierung attraktiver Forschungsthemen könnten durch engere Wechselwirkung mit global vernetzten Hochschullehrern nur profitieren.Aber auch die Hochschullandschaft hat sich verändert. Zwar ist den meisten Hochschulforschern bewusst, dass der wirtschaftliche Erfolg der Industrie eine wichtige Voraussetzung für ihre eigene Arbeit als Forscher und Lehrer ist, aber der Wille, sich tiefer mit den Rahmenbedingungen industrieller Forschung auseinanderzusetzen, ist manchmal nicht sehr ausgeprägt.Die Bedeutung interdisziplinären Forschens in der Hochschule wird weiter wachsen, in der Chemie, in ihrer Beziehung zu Nachbardisziplinen, aber auch, indem die Industrie die Entwicklungen in der Hochschule wieder vermehrt zur Kenntnis nimmt.Dafür werden auch die gewaltigen Herausforderungen sorgen, vor denen die Industrie steht, besonders der Verzicht auf fossile Rohstoffe und der Aufbau einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Auch die Methoden und Denkweisen des Forschens wandeln sich. Das Experimentieren wird etwa durch Robotik oder Hochdurchsatzverfahren immer schneller, und gleichzeitig wird die künstliche Intelligenz die Methoden des Lernens und der Informationsverarbeitung verändern. Lücken im Wissen lassen sich dadurch künftig viel schneller schließen als nur durch Experimente.Es war von den Kernkompetenzen der Chemie die Rede, gleichzeitig verstärken aber Entwicklungen wie personalisierte Medizin oder Quantentechnologie den Druck auf die Chemie, auch an ihre Rand- und Grenzgebiete zu gehen. Somit ergibt sich nicht eine einzelne, sondern ein ganzes Bündel von Antworten auf die Titelfrage. Wenn es dabei heißt, „die Chemie“, ist aber keineswegs klar, ob das weiterhin eine „chemische Industrie“ einschließt, denn Chips, Batterien oder Vakzine machen schon andere.Aus der Wissenschaft geborene, wirklich bahnbrechende Innovationen sind selten planbar und beruhen häufig auf Zufällen. Innovation ist eben kein linearer Prozess, sehr zum Leidwesen von Forschungsplanern in den Unternehmen. Dafür spielen zu viele Faktoren eine Rolle, zu denen nicht nur Personen und Strukturen, sondern unter anderem auch staatliches Handeln und Märkte gehören. Selbst wenn unser Aufsatz keine Patentrezepte für den Forschungserfolg anbieten kann, so wollten wir doch eine Reihe von Rahmenbedingungen benennen, die Forschung innovativer und erfolgreicher machen könnten. Wenn wir zur Diskussion angeregt haben, freuen wir uns.<h2 type="main">Die Autoren</h2>Den Beitrag verfassten Karl Hahn, Dieter Jahn und Klaus Müllen. Karl Hahn ist Physiker und arbeitete 31 Jahre für BASF, zuletzt leitete er die Abteilung Organic Electronics Research und war Mitinitiator des Joint Innovation Labs und des Center of Advanced Materials der Universität Heidelberg. Dieter Jahn arbeitete 34 Jahre für BASF, zuletzt leitete er die Abteilung Science Relations and Innovation Management. Von 2006 bis 2007 war er GDCh-Präsident. Heute engagiert er sich für Start-ups und Technologietransfer. Klaus Müllen war Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. Von 2008 bis 2009 war er GDCh-Präsident. Besonders engagiert hat er sich für die internationale Zusammenarbeit und für Industriekooperationen in der Forschung. Von 2012 bis 2016 leitete er das Carbon Materials Innovation Center der BASF und der Max-Planck-Gesellschaft.

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