Industrie + Technik

Die 1960er Jahre mit ihren anarchistischen Kunststoffobjekten sind vorbei. Kreative setzen Polymerwerkstoffe mittlerweile gezielt ein, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Auf der Kunstmesse Art Cologne ist alles Chemie und Physik, darunter Schaum, Autolack, Kunstfell und Epoxidharz.<p>Die <link href="#nadc20244140839-fig-0001">Art Cologne gilt als eine der wichtigsten Kunstmessen der Welt: Nicht weniger als 170 Galerien aus 29 Ländern trugen dieses Jahr die besten Arbeiten ihrer kreativen Schützlinge in die Kölner Messehallen. Nun gelten Künstler generell als sensible Menschen, die gesellschaftliche Entwicklungen erspüren und womöglich auch in der Wahl ihrer Materialien für sich verarbeiten. Da manche Firmen bereits damit werben, keine Chemie in ihren Produkten zu haben, stellt sich die Frage: Wie viel Chemie findet sich auf der Kunstmesse?</p><figure xml:id="nadc20244140839-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/8h7n5skBQWexeTVfkmRP"><figcaption><label>Abb.1: </label>Der Autor auf der Kunstmesse in Köln. Fotos: Stefan Albus</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Alles ist Chemie</h2><p>Eigentlich ist in den Hallen des Deutzer Messegeländes ja alles Chemie – und Physik, natürlich. Zum Beispiel in den Firnissen und Farbpigmenten auf den zahllosen bemalten Leinwänden, die auch im Jahr 2023 immer noch den Löwenanteil der ausgestellten Arbeiten ausmachen. Chemie und Physik finden sich erst recht in den 4K-Flachbildschirmen, also solchen mit einer Auflösung von 4096 x 2160 Pixeln. Auf denen visualisiert zum Beispiel der Madrider Künstler Daniel Canogar seine Algorithmen (Galerie Anita Beckers Contemporary Arts &amp; Projects, Frankfurt). Die Frage muss also lauten: Wo wird Chemie bewusst, gezielt eingesetzt?</p><p>Da denke ich sofort an Kunststoffe. In den 1960er und 1970er Jahren waren Kunststoffe eine regelrechte Spielwiese für Kreative, die endlich etwas anderes machen wollten als ihre Lehrer. Und die sich daher regelrecht auf die neuen Polymerwerkstoffe stürzten und ihre Experimente damit trieben (übrigens gibt es die Art Cologne – oder ihre Vorläufer – seit dem Jahr 1967). Was ist von diesem Enthusiasmus heute übrig geblieben?</p><h2 type="main">Großer Flusskiesel aus Kunststoff</h2><p>Kunststoffe sind auf der Kunstmesse seltener geworden. Aber man findet sie. Zum Beispiel bei der Galerie Martinetz, Köln: in Gestalt eines Gamer-Stuhls, den die Künstlerin Emma Adler mit Polyurethan(PU)-Schaum und Autolack überzogen hat. Das Objekt sieht sehr organisch und schnittig aus, aber auch etwas <link href="#nadc20244140839-fig-0002">gespenstisch (Foto unten rechts). „Wäre das auch mit Marmor gegangen?“, fragte ich. „Vielleicht, aber das ist letztlich ja auch eine Kostenfrage“, hieß es am Stand. Gleich daneben: 3-D-gedruckte Kreaturen wie aus einem Videospiel – tatsächlich ist ihre Schöpferin auch Gamerin. „Die bestehen zu 99 Prozent aus Sand“, hieß es – aber dann eben auch aus einem Prozent Binder. Voilà: Chemie.</p><figure xml:id="nadc20244140839-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/cTuKUF72QzCNvBCSMB4Q"><figcaption><label>Abb.2: </label>Gamer-Stuhl mit Polyurethan der Künstlerin Emma Adler.</figcaption></figure></figure><p>Ein paar Stände weiter (Galerie Schönewald, Düsseldorf) entdecken wir einen Gegenstand, der an einen überdimensionierten roten Flusskiesel erinnert: einen „Trashstone“ des Bildhauers Wilhelm Mundt (Foto oben Mitte). Hierin hat der Künstler nicht näher definierte „Produktionsrückstände“ aus seinem Atelier verpackt und das Ensemble in faserverstärkten Kunststoff gehüllt. Mehr als 40 000 Euro möchte die Galerie dafür haben.</p><p>Am selben Stand sind Werke der in Essen geborenen Künstlerin Katharina Fritsch ausgestellt. Sie hat unter anderem eine Serie sechzehn herrlich glänzender, ferrariroter Muschelskulpturen aus Kunststoff geschaffen (Foto oben rechts). Aus welchem? Das bleibt laut Galerist leider ein Betriebsgeheimnis. Aber: Skulpturen in Serie – das kann Kunststoff nun mal gut. Der Hochglanzlack soll übrigens eigens nach den Vorgaben der Künstlerin entwickelt worden sein.</p><h2 type="main">Farbenfrohe Polyurethane</h2><p>Um das Wechselspiel zwischen den Begriffen „sichtbar“ und „verborgen“ geht es der in New York ansässigen Künstlerin Rey Akdogan (Galerie Anke Schmidt, Köln). Sie nutzt in einigen ihrer Arbeiten dünne Scheiben aus – laut Standpersonal – „Fiberglas“. Vermutlich ist das eher Polymethylmethacrylat (PMMA) oder Polycarbonat (PC), aber es geht den Menschen hier um die Kunst, nicht um Werkstoffe. Die Scheiben ergänzt Akdogan rückwärtig um eine dünne Schicht aus Epoxidharz. Dazwischen legt sie Fotos oder Seiten aus Zeitungen oder Magazinen. Durch das Auftragen des Harzes werde das Kunststoff-Sandwich laut Galerie eine Zeit lang formbar wie Stoff. Dann lege die Künstlerin Falten in ihr Material, sodass die eingelegten Informationen unsichtbar oder indifferent werden. Tatsächlich wirken die aus Chemikersicht vielleicht etwas umständlich gefertigten Arbeiten nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch seltsam mysteriös – wenn auch hier und da etwas düster (<link href="#nadc20244140839-fig-0003">Foto rechts Mitte).</p><figure xml:id="nadc20244140839-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/mwOd2JpaT9KVprBiLWKw"><figcaption><label>Abb.3: </label>Links: Trashstone des Bildhauers Wilhelm Mundt mit Produktionsrückständen aus seinem Atelier. Rechts: Ein Exemplar der Serie sechzehn glänzender, ferrariroter Muschelskulpturen aus Kunststoff von Katharina Fritsch. Unten: Objekt der New Yorker Künstlerin Rey Akdogan.</figcaption></figure></figure><p>Auf fröhliche Farben setzt dagegen der Berliner Künstler Daniel Knorr, der immer wieder gerne mit pigmentierten Gusspolyurethanen <link href="#nadc20244140839-fig-0004">arbeitet. Dann formt der Documenta-Teilnehmer banale Oberflächen ab – zum Beispiel ein Stück Parkplatz – und füllt die Negativ-Formen mit PU aus. Besonders schönes (und schweres) Beispiel am Stand der Galerie Nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder ist der Abguss einer Palme (Foto S. 36 oben): mit Alginat abgenommen (der Baum lebt also noch) und dann mit Silikon in eine Form überführt. Diese werde dann ausgegossen mit eingefärbtem und transparentem PU. Die Rückseite des Objekts wurde mit einer Metallfolie (angeblich Weißgold) versehen, sodass die ausgesprochen farbenprächtige Arbeit geradezu strahlt.</p><figure xml:id="nadc20244140839-fig-0004"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/8IV5ZT4MS92MlEX7dUeV"><figcaption><label>Abb.4: </label>Oben: Pigmentierte Gusspolyurethane im Objekt von Daniel Knorr. Unten: Auslaufende Flüssigkeiten von Markus Hofer.</figcaption></figure></figure><p>So etwas geht tatsächlich nur mit Kunststoff. Es ginge dem Künstler darum, betont die Galerie-Mitarbeiterin, die Malerei weiterzuentwickeln, auch in Sachen Materialität. Polyurethane wären hier „nur“ ein Hilfsmittel, zu etwas Neuem zu kommen. Knorrs Arbeiten laufen bei diesem Kunsthändler als „Canvas Sculptures“.</p><h2 type="main">Auslaufende Weinflaschen</h2><p>Noch ein gutes Stück gegenständlicher kommen die Arbeiten von Markus Hofer (Galerie Panarte, Wien) daher: Der Mann fertigt Skulpturen aus Flaschen, Milchkännchen und anderen Objekten, aus denen scheinbar hochviskose Flüssigkeiten herauslaufen – gestaltet mit lackiertem Kunstharz (Foto links unten). Endlich mal Kunst, über die man auch lachen darf. Angeblich sei Hofers Atelier voll von Dingen, die er von Besuchern geschenkt bekommt, damit er sie auf seine Art verarbeitet.</p><p>Und sonst? Noch einiges. Etwa die Tafelobjekte von Willi Siber (Galerie Benden &amp; Ackermann). Großformatige Objekte aus „Modellierkunststoff“ und Interferenzlack, die ein wenig aussehen wie glänzende Raumschiffwände nach einem Alien-Angriff. Sie gehören eindeutig auf die Liste „Sollte man gesehen haben“. Siber, mittlerweile 74 Jahre alt, ist mit diesen Arbeiten weltweit erfolgreich. Wer mehr über den verwendeten Werkstoff erfahren möchte, beißt beim Galeristen allerdings auf Granit. Klaus Benden sagt: „Die Technik interessiert mich gar nicht. Ich sehe mir das fertige Werk an und überlege, ob das gute Kunst ist. Die Frage ist, was das bei mir auslöst.“</p><h2 type="main">Kunstfell und Epoxidharz</h2><p>Gut vorzeigbar sind zudem die Objekte aus Kunstfell von Sylvie Fleury (Galerie Mehdi Chouakri, Berlin). Die Künstlerin war mal im Modebusiness tätig und arbeite mit den Materialien, die sie da kennengelernt hat. Oder Berenice Olmedo: Die Mexikanerin formt Prothesen ab und gestaltet daraus nachdenklich stimmende PMMA-Skulpturen. Oder Dale Frank (Roslyn Oxley9 Gallery, Paddington, Australien) mit seinen wandfüllenden, spiegelnden „Epoxyglass“-Flächen, die er dynamisch mit Lacken bearbeitet.</p><p>Und natürlich Dirk Salz, dessen Arbeiten (unter anderem) aus etlichen, teilweise pigmentierten Epoxidharzschichten bestehen, die er auf schwarze Multiplexplatten aufträgt (Galerie Löhrl, Mönchengladbach). Da das Harz transparent ist, kann der Betrachter mehrere Millimeter tief in das Bild blicken, obwohl er sich zugleich in der hochglänzenden Oberfläche der Objekte spiegelt (Foto S. 34). So erhalten die Flächen eine mysteriöse Tiefe und beziehen den Betrachter zugleich in den Bildraum ein. Sehr schön – und nach der Messe nahezu ausverkauft.</p><h2 type="main">Fazit</h2><p>Reicht das schon für ein Fazit? Ja. Die wilden 1960er Jahre sind eindeutig vorbei. Gleichwohl sind Polymerwerkstoffe nach wie vor kunsttauglich. Mit dem Unterschied, dass die Kreativen mittlerweile wissen, was sie an dieser Werkstofffamilie haben: Sie setzen sie da ein, wo sie sie brauchen, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen.</p><p>Negative Stimmen gibt es zum Beispiel von Klaus Benden, jenem Galeristen-Urgestein, der sogar Pop-Art-Künstler wie Roy Lichtenstein unter seinen Fittichen hatte. Er kenne Künstler, sagt er, die viel zu früh gestorben seien – vermutlich wegen der Arbeit mit Kunstharzen. „Die waren für die früher ein Segen, dann wurden sie krank.“</p><p>Inzwischen gibt es zum Glück weniger krank machende Systeme. Sicher scheint jedenfalls: Kunststoffe sind in der Kunst angekommen – und sie werden wohl bleiben, denn sie füllen nach wie vor Lücken, die andere Werkstoffe offen lassen.</p><h2 type="main">Der Autor</h2><p>Der promovierte Chemiker Stefan Albus arbeitet seit dem Jahr 1997 als Wissenschafts- und Fachjournalist für große und kleine Unternehmen der Kunststoffbranche sowie etliche Fachmedien. Für die Nachrichten aus der Chemie besuchte er die Messe Art Cologne. Seinen Bericht von dort bearbeitete Maren Bulmahn.</p>

Chemie und Kunst

K(l)Experimente

Die 1960er Jahre mit ihren anarchistischen Kunststoffobjekten sind vorbei. Kreative setzen Polymerwerkstoffe mittlerweile gezielt ein, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Auf der Kunstmesse Art Cologne ist alles Chemie und Physik, darunter Schaum, Autolack, Kunstfell und Epoxidharz.Die Art Co...

Roboterstrukturen aus Elastomeren sind anpassungsfähig und sprechen auf Bewegungen und äußere Stimuli an. Mit solchen intelligenten Kunststoffen zieht die Polymerchemie in Soft Robotics für biomedizinische Anwendungen ein.<p>Das Forschungsfeld der Soft Robotics hat sich aus der klassischen Robotik entwickelt.<sup>1)</sup> Es verwendet flexible und weiche Materialien, die von ihrem Verhalten her mit dem menschlichen Körper inklusive der Haut kompatibel sind. Bei der Zusammenarbeit von Roboter und Mensch kann weiche Robotik verhindern, dass der Roboter den Menschen verletzt, und Aktoren lassen sich personalisiert und situationsabhängig an den Menschen anpassen.</p><h2 type="main">Elastomere</h2><p>Ein Beispiel ist ein weiches Exoskelett, das bei motorischen Störungen etwa nach einem Schlaganfall hilft; ein anderes sind Pflaster, die Arzneimittel personalisiert und bedarfsgerecht abgeben. Solche Anwendungen profitieren von Materialien, die sich selbstständig an die Bewegungen der Patient:innen und an wechselnde Umgebungsbedingungen wie Temperatur, pH-Wert, Licht oder Feuchte anpassen.</p><p>Standardmaterialien für Soft Robotics sind zurzeit Elastomere auf Basis von Poly(dimethylsiloxan) (PDMS) oder die silikonhaltigen Elastomere der Marken Ecoflex und Dragonskin. Diese haben niedrige Elastizitätsmodule, typischerweise zwischen 0,1 und 10 MPa,<sup>1)</sup> und lassen sich reversibel elastisch dehnen, auch bei nichtlinearen Deformationen.</p><p>Künstliche Aktoren auf Basis pneumatischer Prinzipien, dielektrischer Elastomere und von Hasel (hydraulically amplified self-healing electrostatic) zeigen vielversprechende Anwendungsmöglichkeiten in der Reha-Robotik.<sup>2–4)</sup></p><p>Elektronische Bauteile, die am Körper getragen werden, gibt es als Schmuck, medizinisches Gerät und Kleidung (wearable electronics). Gesteuert werden sie am oder im Körper (on- beziehungsweise in-body).<sup>5)</sup></p><h2 type="main">Aktor und Sensor</h2><p>Zudem bieten stimuliresponsive Polymere die Möglichkeit, bestimmtes Materialverhalten direkt im Polymermaterial zu integrieren. Ein solches Polymer kann als Aktor und als Sensor fungieren. Zu den Stimuli dafür gehören passive Trigger wie Luftfeuchte und Temperatur sowie aktive Trigger wie elektrische Felder. Sie werden intelligent genannt, weil sich die Materialeigenschaften autonom ihren Umgebungsbedingungen anpassen und auf externe Trigger wie einen elektrischen Impuls reagieren. Dies ermöglicht, dass Benutzer das Gerät selbst kontrollieren und dass sich der Aktor in einen Regelkreislauf integrieren lässt.</p><p>Als Antwort auf einen Stimulus können Polymermaterialien mit makroskopischen Quellen reagieren. Auf molekularer Ebene beruht die Änderung des makroskopischen Verhaltens auf lokalen Konformationsänderungen der Polymerkette. Das reicht von knäuel- zu stäbchenartigen Polymerkonformationen. Makroskopisches reversibles Quellen und damit Deformieren des Materials beeinflusst dann das mechanische Verhalten der Materialien.</p><p>Die Kopplung von stimuliresponsivem und adaptivem mechanischen Verhalten zeigten zwei Publikationen der Arbeitsgruppe von Sabine Ludwigs mit der Gruppe um Holger Steeb, Institut für Mechanik an der Universität Stuttgart.<sup>6,7)</sup></p><h2 type="main">Hydrogelpflaster</h2><p>In der Publikation „Autonomous adaption of intelligent humidity-programmed hydrogel patches“ stellen die Autor:innen Hydrogelmaterialien vor, die abhängig von Luftfeuchte und Temperatur (makroskopische) Steifigkeitsänderungen über mehr als vier Größenordnungen <link href="#nadc20244140435-fig-0001">zeigen: von 0,6 bis zu 400 MPa. Sogar bei großen Deformationen lassen sich diese Patches (hyper-)elastisch verformen. Die mechanischen Eigenschaften oder präziser die viskoelastischen Eigenschaften sind damit durch die Stimuli „Luftfeuchte“ und „Temperatur“ einstellbar. Das Material ermöglicht schnelle und langsame Bewegungen und kann damit Bewegungsmuster des menschlichen Körpers nachahmen. Daher eignet es sich sowohl für Soft Robotics als auch für pharmazeutische Anwendungen, darunter ein Armband, das sich den Bewegungen des Handgelenks anpasst (Grafik S. 37).</p><figure xml:id="nadc20244140435-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/kgD18SIRqinXxKNoH0yg"><figcaption><label>Abb.1: </label>Hydrogel-Armband, das sich an Bewegungen des Handgelenks anpasst. Das Hydrogelmaterial quillt, wenn Wasserdampf anwesend ist. Grafik: Universität Stuttgart, FSM-Labor, F. Sterl</figcaption></figure></figure><p>Chemisch gesehen handelt es sich um ein vernetztes Copolymer aus N-Isopropylacrylamid, Poly(ethylenglykol)diacrylat (PEG-DA) und Triethylenglycolmonomethylethermethacrylat. Es wird über eine photoinduzierte radikalische Polymerisation hergestellt (<link href="#nadc20244140435-fig-0002">Abbildung oben, a). Das Material ist hydrophil und nimmt Wasser auf. Die Mitte der Abbildung zeigt die Wasseraufnahme als Funktion der relativen Luftfeuchte von vollständig trocken bis gesättigt. Die Wasseraufnahmefähigkeit korreliert direkt mit einer Änderung der Steifigkeit, in c) dargestellt mit dem Speicheranteil des Elastizitätsmoduls. Dieses beeinflusst zudem die effektive Glasübergangstemperatur T<sub>g</sub> signifikant: T<sub>g</sub> sinkt von 60 °C im trockenen Zustand auf 36 °C bei 25 Prozent relativer Luftfeuchte (relative humidity, r. h.), auf 21 °C bei 50 Prozent r. h. und unter 0 °C bei r. h. über 75 Prozent.</p><figure xml:id="nadc20244140435-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/JzPJXGiTUyyvudCqA9Ow"><figcaption><label>Abb.2: </label>Hydrogele: a) Polymerstruktur (Poly(dimethylsiloxan), PDMS); b) Wasseraufnahme als Funktion der relativen Luftfeuchte bei 25 °C; c) Speicheranteil des Elastizitätsmodul E’ als Funktion von Temperatur und relativer Luftfeuchte. Abbildung: S. Pflumm et al.<sup>6)</sup></figcaption></figure></figure><p>Die Anpassung an Feuchte und die vollständig reversible Wasseraufnahme- und Wasserabgabefähigkeit ermöglichen zudem den Einsatz als Pflaster für die kontrollierte Arzneimittelaufnahme und -freigabe durch die Haut. In einer universitätsübergreifenden Zusammenarbeit mit der Pharmazeutin Dominique Lunter von der Universität Tübingen wurde das Hydrogel eingesetzt, um das Schmerzmittel Diclofenac (ein in Wasser lösbares Salz) in einem Hautmodell freizugeben. Eine Besonderheit ist, dass das Pflaster die Wirkstofffreisetzung als Reaktion auf die sich verändernde Feuchte der Wunde (Wundexsudat) autonom steuert.</p><h2 type="main">Krümmungsverhalten</h2><p>In der weiterführenden Arbeit „From understanding mechanical behavior to curvature prediction of humidity-triggered bilayer actuators“ wird das Quellen einer hydrophilen Phase genutzt, um makroskopische Aktoren herzustellen und deren Krümmungsverhalten zu verstehen.</p><p>Das Materialsystem Poly(ethylendioxythiophen):Poly(styrolsulfonat) (Pedot:PSS) gilt als gemischter Leiter. Es kombiniert das hochoxidierte konjugierte Polymer Pedot, das elektrisch leitfähig ist, mit dem negativ geladenen Polyelektrolyt PSS (<link href="#nadc20244140435-fig-0003">Abbildung oben, a). Pedot:PSS dient in der organischen Elektronik etwa als flexible Elektrode für organische Solarzellen oder organische Leuchtdioden.<sup>8)</sup> Elektrochemie wird zum Einstellen und Schalten beispielsweise des Oxidations- und Dotiergrads für Displayanwendungen genutzt, darunter Nanoantennen für holografische Displays.<sup>9,10)</sup></p><figure xml:id="nadc20244140435-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/yPExCTCCR5qY5rvq2AIy"><figcaption><label>Abb.3: </label>Doppelschichten: a) Struktur aus Poly(ethylendioxythiophen):Poly(styrolsulfonat) (Pedot:PSS) und Poly(dimethylsiloxan) (PDMS) als aktive beziehungsweise passive Schicht; b) Krümmung einer Doppelschicht. c) Speichermodul und Krümmung als Funktion der relativen Luftfeuchte. d) Foto des Doppelschichtaktors. Abbildung: C. Dingler et al.<sup>7)</sup></figcaption></figure></figure><p>Ähnlich wie das Hydrogel nimmt Pedot:PSS reversibel Wasser auf, und zwar als Funktion der relativen Umgebungsluftfeuchte. Morphologisch betrachtet handelt es sich um ein ungeordnetes, aber interpenetrierendes Materialsystem, das sowohl elektronische als auch ionische Phasen aufweist. Durch integriertes PSS ist das Gesamtsystem fähig, auf Luftfeuchte zu reagieren. Wie diese die gemischte Leitfähigkeit beeinflusst, wurde etwa mit einer Quarzkristallmikrowaage und Leitfähigkeitsmessungen geklärt.<sup>11)</sup></p><p>Die starke Wasseraufnahme erhöht das Volumen und erweicht das Material, was sich im geringeren Speicheranteil des Elastizitätsmoduls zeigt (Abbildung oben, b). Aus Pedot:PSS lassen sich kombiniert mit einem Elastomer als passivem Material in einer Zweischichtanordnung einfache Bilayer-Aktoren bauen, die auf Luftfeuchte reversibel mit Krümmung reagieren (Abbildung c und d).</p><p>Mit kombinierten analytischen und numerischen Kompositmodellen sowie einer Charakterisierung der rheologischen Eigenschaften im Frequenz- und Feuchtigkeitsraum lässt sich die Aktor-Bewegung vorhersagen. Dies ist wichtig für komplexe Bewegungsmuster, wie sie in weichen Exoskeletten in der Soft Robotics nötig sind.</p><h2 type="main">Die Autorin</h2><p>Sabine Ludwigs ist Professorin am Institut für Polymerchemie – Funktionspolymere &amp; Lab for Functional Soft Materials (FSM) der Universität Stuttgart. Sie promovierte in Chemie an der Universität Bayreuth und habilitierte sich in makromolekularer Chemie an der Universität Freibung. <a href="https://uni-stuttgart.de/ipoc/fp" target="_blank">uni-stuttgart.de/ipoc/fp</a> Foto: GRK2948, T. Schwerdt<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/WIJNrtaYS5KhQ3EDfxhw"></p><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2><p>Mit flexiblen weichen Materialien lassen sich Bauteile personalisiert an Menschen anpassen.</p><p>Damit entstehen etwa Exoskelette, die bei motorischen Störungen helfen, oder Pflaster geben Arzneimittel bedarfsgerecht ab.</p><p>Zu Standardmaterialien dafür gehören zurzeit silikonhaltige Elastomere.</p><p>Materialien heißen intelligent, wenn sich ihre Eigenschaften den Umgebungsbedingungen anpassen und sie auf externe Reize reagieren.</p><ul class="references" xml:id="nadc20244140435-bibl-0001" cited="no" style="numbered"><li xml:id="nadc20244140435-bib-0001"><sup>1 </sup> Nature 2015, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1038/nature14543">10.1038/nature14543</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0002"><sup>2 </sup> Angew. Chem. 2011, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1002/ange.201006464">10.1002/ange.201006464</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0003"><sup>3 </sup> Science 2000, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1126/science.287.5454.836">10.1126/science.287.5454.836</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0004"><sup>4 </sup> Adv. Mater. 2021, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1002/adma.202003375">10.1002/adma.202003375</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0005"><sup>5 </sup> Nature 2016, doi: 10.1038/nature21004</li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0006"><sup>6 </sup> Adv. Mater. Technol. 2023, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1002/admt.202300937">10.1002/admt.202300937</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0007"><sup>7 </sup> Adv. Mater. 2021, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1002/adma.202007982">10.1002/adma.202007982</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0008"><sup>8 </sup> Chem. Mater. 2006, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1021/cm061032+">10.1021/cm061032+</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0009"><sup>9 </sup> Macromolecules 2022, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1021/acs.macromol.1c02515">10.1021/acs.macromol.1c02515</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0010"><sup>10 </sup> Science 2021, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1126/science.abj3433">10.1126/science.abj3433</accessionid></li><li xml:id="nadc20244140435-bib-0011"><sup>11 </sup> ACS Appl. Mater. Interfaces 2020, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1021/acsami.9b21181">10.1021/acsami.9b21181</accessionid></li></ul>

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