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Elektridlösungen, also in einem Lösungsmittel solvatisierte Elektronen, sind seit mehr als 200 Jahren bekannt. Inzwischen lassen sie sich nicht nur gut isolieren und charakterisieren, sondern ihre Reaktivität lässt sich auch gezielt nutzen.
Beim Lösen eines Alkalimetalls in Ammoniak dissoziiert es – wie ein klassisches Salz – zu einem Kation und einem negativ geladenen Teilchen. Freie Elektronen nehmen hierbei die Rolle der Anionen ein, wobei sie gleichermaßen solvatisiert sind. Wie bei Hydrathüllen von Ionen wird das Lösungsmittel durch die Ladung des Elektrons lokal polarisiert, wodurch Hohlräume entstehen. Die Anlagerungen der Lösungsmittelmoleküle stabilisieren die nackten Elektronen in der Elektridlösung (Abbildung 1).1)<figure><img src="https://media.graphcms.com/bTqPyxvQ82NMziJ0yZrx"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Solvatisierung von Natriumchlorid in Wasser (oben) und eines Metalls in flüssigem Ammoniak (rechts).2)</figcaption></figure>
Charles Kraus prägte im Jahr 1908 das Konzept des solvatisierten Elektrons als neuartiges Anion. Schon ein Jahrhundert zuvor, 1808, hatte Sir Humphry Davy die Löslichkeit von Alkalimetallen in Ammoniak entdeckt. Charakteristisch und konzentrationsabhängig ist dabei die Farbe der Lösung: tiefblau bis metallisch glänzend (Abbildung 2).2,3)<figure><img src="https://media.graphcms.com/6rr37sSUqKEyFqz5SyMw"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Lösung von Natrium in flüssigem Ammoniak bei niedriger und hoher Metallkonzentration (blau, links, beziehungsweise bronzefarben, rechts).</figcaption></figure>
Bei hohen Metallkonzentrationen – die unter anderem von Lösungsmittel, Metall und Temperatur abhängen – haben die Gemische metallähnliche Eigenschaften. Das kennzeichnende Blau der Elektridlösung geht auf einen Ligand-zu-Ligand-Charge-Transfer-Prozess zurück, an dem Solvensmoleküle beteiligt sind.4)Herausforderung und Potenzial liegen in der hohen Reaktivität der freien Elektronen, weshalb nur wenige Medien diese Verbindungsklasse stabilisieren können. Vor allem bedarf es eines stark elektropositiven und reduktionsstabilen Kations. Jegliche Elektrophile – wie Luft und Wasser, aber auch manche Materialien im experimentellen Aufbau – nehmen unter den hochreduktiven Bedingungen Elektronen aus dem Reaktionsgemisch auf.Freie Elektronen können Anionen ebenfalls im Festkörper ersetzen. Defekte im ionogenen Kristallgitter, bei denen anstelle einzelner Anionen Elektronen vorliegen – die Farbzentren –, kommen häufig bei Salzen vor. Sind alle Anionen stöchiometrisch durch Elektronen ersetzt und lassen sich diese keinen Atomen direkt zuordnen, spricht man von Elektriden.5)<h2>Organische Elektride</h2>Historisch geprägt, besonders durch die extensiven Arbeiten von James L. Dye, sind vor allem die organischen Elektride. Das sind Verbindungen von Metalllösungen in flüssigem Ammoniak und primären Aminen, denen Komplexbildner zugesetzt wurden, etwa Kronenether oder Kryptanden. Im Jahr 1983 isolierten Ahmed Ellaboudy und Coautoren das erste kristalline Elektrid, [Cs([18]-Krone-6)2]+e−. Das Cäsiumkation darin wird von zwei Kronen0ethern koordiniert, und die losgelösten Elektronen befinden sich in Hohlräumen zwischen diesen Komplexen.6,7) Ähnlich erfolgte die Synthese von insgesamt acht organischen Elektriden aus jeweils einem Alkalimetall und unterschiedlichen Kronenethern oder Kryptanden (Abbildung 3).3)<figure><img src="https://media.graphcms.com/qjS7j1rpRwOqG6quUjfM"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Strukturen von [18]-Krone-6 und [2.2.2]-Kryptand als Beispiele für Komplexbildner (links) und Struktur von [Cs([18]-Krone-6)2]+e− (rechts).</figcaption></figure>
Elektride zu isolieren ist thermodynamisch höchst ungünstig, sodass spezielle Synthesebedingungen für eine kinetische Stabilisierung der freien Elektronen nötig sind. Die Komplexbildner führen zu einer kinetischen Hinderung der Rekombination von Metallkation und Elektron.Trotz der vielversprechenden reduktiven, elektrischen und magnetischen Eigenschaften dieser Verbindungsklasse ist die Anwendung dieser Materialien eingeschränkt, da sie tiefkalte Temperaturen (zirka –33 °C bis –90 °C) erfordern und zudem extrem empfindlich gegenüber Luft und Feuchtigkeit sind.<h2>Anorganische Elektride</h2>Die ersten Schritte in Richtung der thermisch stabileren anorganischen Elektride machte die Gruppe um Dye im Jahr 2001, indem sie Zeolithe mit Cäsium bedampfte. Das Metall dissoziiert im Kristallgitter des Minerals zu Cs+ und e−.8)Einen kennzeichnenden Fortschritt brachte zwei Jahre später die unter Normalbedingungen thermisch und chemisch stabile Verbindung [Ca24Al28O64]4+(4e−) von Satoru Matsuishi und Team. Die Synthese startete mit einem Einkristall des Minerals Mayenit (12 CaO · 7 Al2O3), bei dem die Oxidionen durch Oxidation eines weiteren Metalls extrahiert wurden und die Elektronen an den jeweiligen Plätzen zurückblieben.9)Allgemein beginnt die Herstellung anorganischer Elektride mit Festkörpern metallhaltiger Verbindungen, die physisch (Druck, Strahlung) oder chemisch (Oxidation) behandelt werden. Letztlich liegen kationische Spezies und freie Elektronen dadurch nahezu stöchiometrisch vor.10)Entscheidend für die Stabilität der Elektride ist die Wechselwirkung zwischen den kationischen Einheiten und den Elektronen.<h2>Dimensionen von Elektriden</h2>In der Literatur gibt es mehrere Ansätze, um die Verbindungen zu kategorisieren und von anderen Materialien abzugrenzen, etwa von Metallen oder intermetallischen Phasen. Durchgesetzt hat sich die Einteilung der Elektride anhand der Freiheitsgrade der Elektronen: Während die Elektronen bei 0-D-Elektriden an Kavitäten gebunden sind, bewegen sie sich bei 1-D-Elektriden durch Kanäle innerhalb der Struktur (Abbildung 4, S. 62, links und Mitte). Bei 2-D-Elektriden sind die Elektronen entlang von Ebenen delokalisiert (Abbildung 4, rechts). Die Gemeinsamkeit dieser räumlichen Strukturen ist ein Gerüst der kationischen Spezies, innerhalb dessen die Elektronen Freiräume besetzen. 3-D-Elektride entstehen schließlich aus dem elektronischen Austausch zwischen den Elektronen in den Kavitäten, Kanälen und Ebenen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/M5Xq618KQn6pF0hGi4Kr"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Dimensionale Einteilung von Elektriden.4)</figcaption></figure>
Vielversprechende Eigenschaften dieser Materialien, etwa ihre elektrische Leitfähigkeit, der Magnetismus und die niedrige Austrittsarbeit, werden davon beeinflusst, wie stark die Elektronen im Festkörper delokalisiert sind.4)<h2>Charakterisierung</h2>Da die Verbindungen so empfindlich sind, war es lange nicht nur schwierig, sie zu isolieren, sondern auch, sie zu charakterisieren. Da beispielsweise die Röntgendiffraktometrie als etablierte analytische Methode für chemische Festkörper auf der Bestimmung der Elektronendichte beruht, lassen sich einzelne Elektronen bei der gegenwärtigen Nachweisgrenze nur spärlich oder gar nicht detektieren.Die freien Elektronen müssen indirekt charakterisiert werden, entweder durch die Abwesenheit eines Anions oder durch die resultierenden Eigenschaften. NMR-Studien, EPR-Messungen zur Untersuchung des magnetischen Verhaltens sowie die Bestimmung von elektrischen Leitfähigkeiten sind typische Analysemethoden für diese Verbindungsklasse.11) Ergänzend eignen sich Messungen der optischen und Photolumineszenzbesonderheiten sowie quantenchemische Rechnungen mit Dichtefunktionaltheorie.12,13)<h2>Anwendungen</h2>Aufgrund ihrer Eigenschaften dienen Elektride verschiedenen Anwendungen (Abbildung 5):<figure><img src="https://media.graphcms.com/RHklIKY5S4GgGNZJ2KqI"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Einige Anwendungen von Elektriden in der chemischen Synthese.</figcaption></figure>
Als Basis vieler stickstoffhaltiger Endprodukte ist Ammoniak eine der wichtigsten Verbindungen der chemischen Industrie. Diese nutzt seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für den Schlüsselschritt des Haber-Bosch-Verfahrens, die Aktivierung elementaren Stickstoffs, hauptsächlich eisenhaltige Katalysatoren bei erhöhten Temperaturen und Drücken (150–350 bar, 400–500 °C). Die Kombination von Ruthenium-Nanopartikeln mit [Ca24Al28O64]4+(4e−) begünstigt bei milderen Bedingungen den Übergang von Elektronen in das antibindende π-Orbital des diatomaren Stickstoffs, was die Bindung spaltet.14)Ein weiteres Kerngebiet der Aktivierung kleiner, oft inerter Moleküle ist die Umsetzung von Kohlenstoffdioxid zu Kohlenstoffmonoxid und Sauerstoff. Diese Reaktion ermöglicht [Ca24Al28O64]4+(4e−) bereits bei Raumtemperatur.15)Schon bevor Elektride als Festkörper isoliert wurden, machte man sich die hohe Reduktionskraft solvatisierter Elektronen in organischen Synthesen zunutze. Beispielsweise werden im Rahmen der Birch-Reduktion seit 1944 Alkalimetalle in flüssigem Ammoniak gelöst, um aromatische Systeme zu protonieren.16) Inzwischen finden Elektride vielfach Anwendungen in der chemischen Synthese, wie bei der chemoselektiven Hydrogenierung von 1,2-Diketonen in der Pinakol-Kupplung.17) Die jeweilige Rolle des Elektrids hängt von den Substraten und Reaktionsbedingungen ab und kann zwischen Reaktand, Promotor und Katalysator variieren.Besonders 2-D-Elektride gelten in der Batterieforschung als vielversprechende Elektrodenmaterialien.18) In Analogie zu Graphen findet sich bereits die Nomenklatur des Elektrens als Monolage dieser Festkörper, deren besondere Merkmale für Applikationen der Spintronik untersucht werden, einem Forschungsgebiet in der Nanoelektronik.19) Zudem könnten Elektride angesichts ihrer geringen Austrittsarbeit als Elektronenemitter für organische Leuchtdioden infrage kommen. Neuere Arbeiten ergründen die besonderen Struktur-Eigenschafts-Beziehungen hinsichtlich beispielsweise eines Einsatzes als Supraleiter.18)Die Entwicklung von den organischen zu den stabileren anorganischen Elektriden hat das Interesse an diesen Materialien verstärkt. Die eingehende Charakterisierung und die Erweiterung der Anwendungen von Elektriden versprechen, das Forschungsgebiet in den kommenden Jahren noch bekannter zu machen. Ziel wird sein, praktische Einschränkungen zu überwinden und die hohe Reaktivität der Elektride verstärkt in Forschung und Industrie zu nutzen.<h2>Die Autoren</h2>Diesen Beitrag verfassten Clara Adele von Randow und Günther Thiele. Thiele betreut dieses Jahr den Blickpunkt Anorganik im Wechsel mit Schirin Hanf. Thiele ist seit Ende 2017 Liebig-Stipendiat an der Freien Universität Berlin und Fulbright-Cottrell-Preisträger 2020. Er war Postdoc an der University of California, Berkeley, und am Lawrence Berkeley National Laboratory. Thiele erforscht Salze mit elektronenreichen Metallatanionen sowie neue Elektridverbindungen. Von Randow promoviert derzeit an der Universität Oxford als Mitglied des EPSRC-Graduiertenkollegs Oxford Inorganic Chemistry for Future Manufacturing in der Arbeitsgruppe von Nicola Farrer.<div><img src="https://media.graphcms.com/kJq56cyhSUuKJK1qtz91">

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</div><h2>AUF EINEN BLICK</h2>Elektride sind Verbindungen, in denen nackte Elektronen Anionen ersetzen. Sie lassen sich keinem Atom oder Molekül direkt zuordnen.Sie dienen der Aktivierung kleiner, inerter Moleküle und als Reduktionsmittel.Elektride eignen sich möglicherweise für die Nanoeletronik, in organischen Leuchtdioden oder als Supraleiter.Blickpunkt Anorganik berichtet über neue präparative Techniken, Analysetechniken, Reinigungsverfahren, den richtigen Umgang mit gefährlichen Stoffen und mehr.
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1 Nanomaterials 2020, 10(8), 1582</li></ul>
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2 Nat. Chem. 2020, doi: <ext-link ext-link-type="doi">10.1038/s41557-020-0538-9</ext-link></li></ul>
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3 Environ. Sci. Water Res. Technol. 2020, doi: <ext-link ext-link-type="doi">10.1039/d0ew00693a</ext-link></li></ul>
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