Bildung + Gesellschaft

Nicht nur, aber besonders zu Pandemiezeiten leiden Studierende, Doktorand:innen und Lehrende psychisch – etwa unter Isolation, Leistungsdruck und Unsicherheit über die Zukunft. Möglicherweise hilft Betroffenen schon das Wissen, dass sie nicht alleine sind.
Einer Studie der Universität of California in Berkeley, USA, zufolge wiesen 47 Prozent der im Jahr 2014 befragten Doktoranden Kriterien auf, die mit denen einer Depression übereinstimmen.1) Und eine Veröffentlichung in Nature Biotechnology im Jahr 2018 bescheinigte Masterstudenten eine sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit als der Allgemeinbevölkerung, <xref rid="nadc20224125646-fig-0001" ref-type="fig">Angst</xref> und Depressionen zu erfahren.2)<figure><img src="https://media.graphassets.com/6OSGD8qaTxS3YqX18yJL"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Angst und Druck begleiten auch Chemiker häufig. Bild: ra2 studio / Adobe Stock</figcaption></figure>
Psychische Gesundheit in der Wissenschaft war bisher kein Thema, über das man redet. Eigentlich. Dass sich das geändert hat, liegt an Zoë Ayres.Die britische Chemikerin entschied sich im Jahr 2019, an der Twitter <a href="#RSCPoster">#RSCPoster</a> Conference teilzunehmen. Dieses Event findet jährlich ausschließlich auf Twitter statt und dauert 24 Stunden; Forscher:innen stellen dabei ihre Forschung vor, netzwerken und beteiligen sich an wissenschaftlichen Debatten. Ayres präsentierte aber kein Poster über ihre Forschungsergebnisse, sondern eines zu psychischer Gesundheit. Das Poster lässt sich inzwischen in fünf Sprachen von ihrer Website (<a href="https://www.zjayres.com/" target="_blank">www.zjayres.com/</a>) herunterladen.Zudem hat Ayres mit Umfragen erforscht: Woran haben (Master-)Studierende, (Post-)Doktorand:innen, technische Mitarbeiter:innen, Professor:innen abseits von fachlichen Problemen zu knabbern? Eins lässt sich direkt feststellen: Zu psychischen Beschwerden trägt vor allem bei, dass diese in der Akademia zwar totgeschwiegen werden, aber als unvermeidbarer Teil der Reise gelten.Ayres hat ihre Ergebnisse in Form von Flyern für jede Statusgruppe in Universitäten zusammengestellt und unterscheidet zwischen den psychischen Belastungen bei (Master-)Studierenden, Nachwuchswissenschaftler:innen und etablierten Forscher:innen.<h2>Probleme der Studierenden</h2>Geht das Studium los, leben viele erstmals nicht mehr bei ihren Eltern. Sein Leben selbstständig zu organisieren kann stressen – genauso wie das Zusammenwohnen mit Menschen, die nicht die eigenen Eltern sind.Eine weitere Belastung ist das Finanzielle – bei Studierenden, die kein wohlhabendes Elternhaus haben, ist Geld meistens knapp. Aus wenig Geld folgt oftmals soziale Abgrenzung. Isolation ergibt sich außerdem aus den zeitaufwendigen Aufgaben, die Studierende zum Großteil allein bewältigen: Versuchsprotokolle schreiben, Stoffchemie auswendig lernen, Vorlesungen nachbereiten.An einer großen Universität wie in Heidelberg kommt unter 500 Kommiliton:innen schon mal das Gefühl auf, nur einer von vielen (und damit nicht wichtig) zu sein.Dazu kommt echter oder vermeintlicher Leistungsdruck: Industrievertreter verkünden in ihren Vorträgen an Universitäten, dass sie nur die Besten einstellen; Professoren betonen bei jeder Gelegenheit die Exzellenz.Während der Coronapandemie waren digitale Medien zudem oft die einzige Möglichkeit, mit Kommiliton:innen und Dozierenden in Kontakt zu bleiben. Durch digitale Medien steigt bei vielen die Angst, etwas zu verpassen und nicht auf dem Laufenden zu sein. Dieses Gefühl tritt häufig bei besonders medienaffinen Kommilitonen auf, schreibt Ayres auf ihrem Flyer für Studenten.<h2>Masterstudenten</h2>Bei Masterstudenten gibt es ähnliche Probleme wie bei den Studierenden, was die Finanzierung des Studiums sowie die soziale Isolation angeht. Beides verschärft sich, wenn eine Studentin die Universität wechselt oder ein Student für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss. Dazu kommen Lerndruck, die Unsicherheit, was die Zukunft bringen wird, sowie fehlende Unterstützung und Anerkennung. Dass manche Doktoranden und Professoren Masterstudenten von oben herab behandeln, löst das Gefühl aus, nicht wertgeschätzt zu werden und vielleicht sogar, ein Hochstapler zu sein.Die Intensität der Arbeitsbelastung kann dazu führen, dass Studierende miteinander entweder nur noch über Fachliches sprechen oder sich gar nicht mehr austauschen. Dies erschwert es Ayres‘ Umfrage zufolge Masterstudierenden, Erfahrungen zu teilen, einzuschätzen und Unterstützung zu bekommen. Zudem sei immer weniger Zeit, gedanklich abzuschalten und sich zu erholen – was ebenso die Gefahr erhöht, psychisch zu erkranken.<h2>Doktoranden</h2>Auch bei Doktoranden ist Geld gelegentlich knapp: Die meisten haben nur eine halbe Stelle, müssen aber lange darauf warten, dass ihnen die Universität Konferenzkosten oder ähnliches erstattet.Eine stressende Erfahrung, die Chemiker:innen oft erstmals als Doktoranden machen, ist: Nicht alles, was auf dem Papier funktioniert, läuft auch im Labor. Und beim selbstorganisierten Promovendentum geht es nicht nur um gutes Zeitmanagement, sondern auch darum, sich nicht davon verrückt machen zu lassen, dass andere länger im Labor bleiben. Dahinter steht der Druck, in kurzer Zeit (zu) viel erreichen zu wollen oder zu müssen, denn meist ist Wettbewerb die Regel, nicht Kooperation. Schließlich wünscht sich die Betreuerin publizierfähige Ergebnisse.Die direkte Abhängigkeit vom Betreuenden und zu wenig Aufmerksamkeit oder das Gegenteil, permanente Überwachung, können das Verhältnis zum Betreuer schwierig machen.Ein Problem für die psychische Gesundheit kann das Hochstaplersyndrom werden, also wenn Frauen oder andere Angehörige einer Minderheit das Gefühl entwickeln, die Doktorandenstelle gar nicht verdient zu haben.Am Ende einer Promotion steht das Zusammenschreiben – ein weiterer Zeitraum, sich abzukapseln.<h2>Nach der Promotion</h2>Nachwuchsgruppenleitende und Habilitierende leiden unter dem Publikationsdruck und dem Zwang, sich profilieren zu müssen. Häufig müssen sie Familie und Karriere unter einen Hut kriegen, sollen lehren, gute und innovative Ideen haben, sich mit ihrer Forschung von der des Mentors abgrenzen und zeigen, wie mobil sie sind – Auslandserfahrung bevorzugt. Denn es sieht nicht gut aus, wenn ein:e Wissenschaftler:in zu lange auf einer Stelle verharrt. Wer nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeitet, zeigt nicht genug Engagement.Dazu kommen befristete Verträge, die ebenso zu einer unklaren Jobperspektive führen wie die an deutschen Universitäten wenig verfügbaren Stellen. Wer hier keinen Platz findet, sieht seinen Weg häufig als Fehlschlag und misslungen an.Und mit einer festen Stelle an der Hochschule fragt sich mancher Wissenschaftler: Ich wollte forschen – jetzt schreibe ich Anträge, Publikationen, organisiere und habe hauptsächlich Verwaltungsarbeit. War es wirklich das, was ich wollte?<h2>Auch betroffen: Technische und administrative Mitarbeiter</h2>Zoë Ayres hat untersucht, wie psychische Gefährdungen technische und administrative Mitarbeiter (TAs) betreffen: Diese sind systemisch von Frustration bedroht. Denn obwohl ohne TAs nichts geht, werden sie oft nicht wahrgenommen. Da sie unauffällig im Hintergrund agieren, werden sie häufig übersehen oder sogar vergessen und erfahren keine Wertschätzung.Obwohl essenzieller Bestandteil des Systems, gelten sie als nicht zugehörig, da sie meist keine Akademiker sind. Daher werden sie häufig von oben herab behandelt. Oft als reine Dienstleister angesehen, müssen sie die Anfragen einzelner Gruppenleiter:innen koordinieren und in eine Reihenfolge bringen, die niemanden verärgert – ein schwieriges Unterfangen.Für Fortbildungen oder ähnliches ist oft keine Zeit oder kein Geld da, sodass die Aufstiegsmöglichkeiten gering sind. Frustrieren kann auch die Bezahlung, die sich beispielsweise trotz gleicher Aufgaben und Eingruppierung von Uni zu Uni unterscheidet.Zudem werden die technischen Mitarbeiter oft als reine Problemlöser angesehen, deshalb erfahren sie kaum Gespräche mit positivem Hintergrund. Und ihre Fähigkeiten werden unterschätzt – auch das kann zu Unzufriedenheit führen.<h2>Was tun bei psychischen Problemen?</h2>Ein Zitat aus dem Jahr 1882 sagt: „Glücklicherweise haben Chemiker schon von Haus aus eine größere Widerstandsfähigkeit gegen krankmachende Einflüsse, denn dieser Stand recrutiert sich begreiflicherweise in der Regel aus den gesündesten Männern.“3) Diese Ansicht scheint noch verbreitet zu sein. Aber das Chemiestudium gilt als einer der härtesten Studiengänge – wer dabei Hilfe oder Unterstützung braucht, ist mit Sicherheit nicht alleine. Psychische Probleme und Erkrankungen haben nichts mit Schwäche zu tun.Wenn Sie feststellen, dass es Ihnen nicht gut geht: Sprechen Sie mit Ihren Kommilitonen – die kennen Ihre Situation und haben möglicherweise die gleichen Probleme. Auch ein:e Professor:in, dem oder der Sie vertrauen, kann helfen.Freunde oder Familie sind eine Anlaufstelle, ebenso wie die psychologische Beratungsstelle Ihrer Hochschule. Scheuen Sie sich nicht, mit Ihrem Hausarzt zu reden – er kennt Sie und weiß womöglich einen für Sie geeigneten Psychologen oder Psychiater.Sie sind nicht betroffen, möchten aber sich und andere für das Thema psychische Gesundheit sensibilisieren? Neben Zoë Ayres‘ Homepage (<a href="https://www.zjayres.com/" target="_blank">www.zjayres.com/</a>) gibt es eine Sammlung von Beiträgen zu Mental Health von der Zeitschrift Nature unter <a href="https://www.nature.com/collections/gnlwffjgtr" target="_blank">www.nature.com/collections/gnlwffjgtr</a>.Nachrichten-Redakteurin Eliza Leusmann freut sich, dass das Thema (psychische) Gesundheit in der Chemie mehr und mehr Aufmerksamkeit erfährt.
<ul class="references"><li>
1 <a href="http://ga.berkeley.edu/wp-content/uploads/2015/04/wellbeingreport_2014.pdf" target="_blank">http://ga.berkeley.edu/wp-content/uploads/2015/04/wellbeingreport_2014.pdf</a>, S. 7 (Stand 15. Februar 2022)</li><li>
2 T. M. Evans, L. Bira, J. B. Gastelum, L. T. Weiss, N. L. Vanderford, Nat. Biotech. 2018, 36(3), 282</li><li>
3 J. Bing, J. prakt. Chem. 1882, 26, 131ff (S. 132)</li></ul>

Psychische Gesundheit

Unsichtbare Wunden

Nicht nur, aber besonders zu Pandemiezeiten leiden Studierende, Doktorand:innen und Lehrende psychisch – etwa unter Isolation, Leistungsdruck und Unsicherheit über die Zukunft. Möglicherweise hilft Betroffenen schon das Wissen, dass sie nicht alleine sind. Einer Studie der Universität of Californ...

Jun.-Prof.

In den klassischen Modellen kubischer Kristalle verstellen Kugeln den Blick auf die Lücken und erschweren die Wahrnehmung. Komplementärmodelle, die eine Art Negativ des Strukturmodells darstellen, können dazu beitragen, dass Lernende die Strukturen besser durchschauen und ihre Eigenschaften erkennen.
Die Kristallstruktur von Kochsalz lässt sich idealisiert durch dicht gepackte Anionen beschreiben, wobei sich die Kationen in den jeweiligen Oktaederlücken befinden. Diese Beschreibung alleine ist abstrakt und erfordert ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Um das Verständnis über den Aufbau dieser Strukturen zu unterstützen, verwenden Lehrende in Grundvorlesungen an der Universität üblicherweise Kristallstrukturmodelle. Diese Modelle basieren auf den Elementarzellen, den Bravais-Gittern und den einfachen Kugelpackungen. Einige dieser Anschauungsmodelle finden sich als Modelle zum Anfassen an den chemischen Instituten oder als Abbildungen in der Fachliteratur.1)Bei der üblichen Darstellung der Elementarzelle beispielsweise von NaCl (Abbildung 1) sitzen die Anionen (Cl–) jeweils auf den Ecken und auf den Flächen eines Würfels (kubisch flächenzentrierte Elementarzelle) und bilden eine kubisch dichteste Kugelpackung. Dies ist in einer Darstellung von Kugeln mit realistischen Radienverhältnissen und einer dichten Anionenpackung deutlich besser erkennbar (<xref rid="nadc20224127265-fig-0001" ref-type="fig">Abbildung 1,</xref> rechts). Sechs Anionen bilden ein Oktaeder, in dessen Mitte sich ein Kation befindet. Diese Darstellung erleichtert somit die Zuordnung der vorherigen Beschreibung der Kristallstruktur von NaCl zu einer tatsächlichen Struktur.<figure><img src="https://media.graphassets.com/ROMRkcvMRnKXWJpzRa2D"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Kristallstruktur von NaCl, links: Elementarzelle; rechts: dichteste Kugelpackung.1)</figcaption></figure>
Solche Beschreibungen kombiniert mit den entsprechenden Darstellungen werden häufig zum Verständnis einfacher Kristallstrukturen wie des NaCl-Typs, aber auch komplexer Strukturen wie der Perowskit-Struktur verwendet. Eine Ionen- oder Atomsorte wird einer der elementaren Kugelpackungen zugeordnet, und eine oder mehrere andere Ionen oder Atome werden in die Lücken dieser Kugelpackung als Kugeln mit kleinerem Durchmesser platziert. Zudem werden so insbesondere häufig Lage und Dimension der Lücke an sich dargestellt.Diese Darstellung der Lücken mit Kugeln (konvex) steht jedoch im Widerspruch zur tatsächlichen geometrischen Form der Lücken, denn infolge der Kugelform der Atome oder Ionen müssen sie konkav sein. Die hier vorgestellten Komplementärmodelle sollen die konkave Form der Lücken in Kristallstrukturen illustrieren und daher komplementär zur üblichen Weise darstellen. Zudem zeigen die Komplementärmodelle die tatsächliche Form und Verbindungen einzelner Lücken.<h2>Komplementärmodelle</h2>Den Begriff „Komplementärmodelle“ haben wir in Analogie zur Mengenlehre der Mathematik gewählt, und er ist wie ein Negativ in der Fotografie zu verstehen.Um die Komplementärmodelle zu entwickeln, haben wir zunächst altbekannte kubische Kristallstrukturen betrachtet. Als Ausgangspunkte des Modellierungsprozesses dienten zum Beispiel die Modelle der Elementarzellen kubischer Bravais-Gitter (<xref rid="nadc20224127265-fig-0002" ref-type="fig">Abbildung 2</xref>, oben links). Die Betrachtung der Elementarzellen bietet die für die Bildung des Komplementärmodells notwendige definierte Umgebung. In diesem Fall wurden die Zwischenräume in den jeweiligen Elementarzellen ausgefüllt und so materialisiert – die Lücke ist nun fest. Die ursprüngliche Elementarzelle wurde anschließend aus dem Konstrukt entfernt (Abbildung 2, oben rechts).<figure><img src="https://media.graphassets.com/4XGq9g60QZGiMpOVNae3"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Entwicklungsprozess der Komplementärmodelle am Beispiel der kubisch innenzentrierten Kristallstruktur, von der kubischen Elementarzelle (links) zur Materialisierung der Lücken (Mitte) und Entfernung der Kugeln (rechts); unten sind die Kugelradien um etwa zehn Prozent vergrößert, um die Strukturen leichter durchschaubar zu machen.</figcaption></figure>
An der Reihung in Abbildung 2 oben ist zu erkennen, dass das Anschauungsmodell Schwachstellen hat: Bei der Annahme starrer Kugeln in der Elementarzelle ist der Berührungspunkt zwischen den Kugeln so klein, dass das Komplementärmodell die Lückenstruktur nur oberflächlich zeigt und es nicht möglich ist, die Modelle im Wortsinn zu durchschauen. Im Komplementärmodell der kubisch raumzentrierten Elementarzelle ist dadurch die innenliegende Kugel nicht zu erkennen, und die einzelnen Lücken sind nicht zufriedenstellend zu identifizieren.In den Komplementärmodellen der kubisch primitiven und kubisch flächenzentrierten Elementarzelle tritt dieses Problem erst bei der Darstellung mehrerer Elementarzellen auf, da bei einer isolierten Elementarzelle keine Kugeln innen liegen.Um dieser Schwachstelle entgegenzuwirken und ein übersichtlicheres Modell zu erzeugen, werden bei konstanter Kantenlänge der kubischen Elementarzelle die Kugelradien um etwa zehn Prozent vergrößert (Abbildung 2 unten), sodass die Kugeln überlappen. Hier liegen keine weiteren infinitesimal kleinen Berührungspunkte der Kugeln vor. Damit lässt sich in der kubisch raumzentrierten Kristallstruktur die Lückenstruktur durchschauen und leichter räumlich durchdringen (Abbildung 2 unten).Auch die Translation der Lücken in alle drei Raumrichtungen der drei kubischen Bravais-Gitter ist gut erkennbar (<xref rid="nadc20224127265-fig-0003" ref-type="fig">Abbildung 3</xref>, S. 16). Die Position jeder Kugel im jeweiligen Modell ermöglicht nun, Hexaeder-, Oktaeder- und Tetraederlücken zu erkennen.<figure><img src="https://media.graphassets.com/bl7xjjUST8iF6GpHD7Jx"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Komplementärmodelle der kubischen Bravais-Gitter.</figcaption></figure>
Die Darstellungen der Komplementärmodelle der einzelnen Elementarzellen (Abbildung 3) zeigen Eigenschaften der drei kubischen elementaren Kristallstrukturen, die an herkömmlichen Modellen nicht direkt oder schwierig zu erkennen sind:<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>Kubisch flächenzentriert: Die einzelnen Oktaederlücken sind jeweils über Tetraederlücken mit weiteren Oktaederlücken verbunden. Die Verbindung geht immer über die jeweils andere Lückensorte, sodass niemals zwei gleiche Lücken direkt miteinander verbunden sind. Zudem sind die Verbindungskanäle zwischen einzelnen Lücken klein, sodass zum Beispiel größere Ionen nur schwer durch sie diffundieren können.<list-item>Kubisch raumzentriert: Die Lücken direkt zu identifizieren und zwischen Oktaeder- und Tetraederlücken zu unterscheiden ist schwierig. Eine Oktaederlücke ist der Raum zwischen zwei benachbarten, sich nicht berührenden Atomen, wobei sich der Raum über vier weitere Atome (Quadrat im Oktaeder) aufspannt und dadurch die Tetraederlücken eingeschlossen sind. Die Oktaederlücken der kubisch innenzentrierten Packung unterscheiden sich von den Oktaederlücken in der kubisch dichtesten Packung dadurch, dass ihre maximale Ausdehnung in z-Richtung kleiner ist, die sechs benachbarten Atome oder Ionen bilden also kein gleichmäßiges Oktaeder, sondern ein gestauchtes. Diese Besonderheit ist für die Festkörperchemie wichtig, da die Oktaederlücke dadurch relativ zum Durchmesser klein ist, deutlich kleiner als bei der kubisch dichtesten Packung.</list-item><list-item>Kubisch primitiv: In dieser Struktur liegen nur Hexaederlücken vor, die über relativ große Kanäle mit sechs weiteren Hexaederlücken verbunden sind.</list-item><h2>Visualisierung und Einsatz in der Lehre</h2>Die Repräsentationen der Lücken (Abbildung 3) können Verständnisprobleme hervorrufen, wenn Lehrende nicht thematisieren, wie die Komplementärmodelle konstruiert wurden (Abbildung 2, s. 15). Dies ist auf die atypische Darstellung der Kristallstrukturen zurückzuführen. Darüber hinaus ist es fordernd, die Komplementärmodelle gedanklich mit den 2-D-Darstellungen in Lehrbüchern oder typischen realen Modellen zu verknüpfen. Daher haben wir Simulationen entwickelt, die den Konstruktionsprozess zeigen und in der Lehre einsetzbar sind.2)Anders als bei den haptischen Modellen der Bravais-Gitter oder Kugelpackungen gibt es für die Komplementärmodelle bisher keine Materialien wie Kugeln und Stäbe. Daher haben wir 3-D-Drucktechniken verwendet. <xref rid="nadc20224127265-fig-0004" ref-type="fig">Abbildung</xref> 4 zeigt die 3-D-Modelle für das flächenzentrierte und kubisch primitive Komplementärmodell.<figure><img src="https://media.graphassets.com/yovDldSTcuxOtqHmnLlF"><figcaption><label>Abb. 4: </label>3-D-Objekte der flächenzentrierten (A/B) und der kubisch primitiven Kristallstruktur (C/D) mit der jeweiligen Entnahme einer Komplementärzelle aus dem Modell (B/D).</figcaption></figure>
Basierend auf der jeweiligen Komplementärzelle der kubisch flächenzentrierten und kubisch primitiven Kristallstruktur lassen sich so mit 2×2×2-Komplementärzellen 3-D-Modelle zum Anfassen aufbauen. Die gedruckten 3-D-Modelle bieten den Lernenden verschiedene Ansätze, sie zu verändern, so können sie eine oder mehrere Komplementärzellen entnehmen und näher betrachten.2) Modell und Einheitszellen lassen sich mit Hilfe von Magneten zusammenbauen und auseinandernehmen (Abbildung 4).Diese Möglichkeit kann das Verständnis für die Oktaederlücken vor allem der kubisch raumzentrierten Kristallstruktur erweitern, da in der Elementarzelle ausschließlich Hälften und Viertel dieser Lücken liegen. Auch in diesem Fall ist die kognitive Anforderung hoch, wenn die ursprüngliche Elementarzelle in das entsprechende Komplementärmodell eingefügt werden soll. Dementsprechend sollten diese Komplementärmodelle als 3-D-Druck-Modelle oder mit digitalen Medien präsentiert werden. Daher haben wir unter anderem Animationen und interaktive Simulationen dazu erstellt.2) Die Animationen visualisieren insbesondere den Modellierungsverlauf, ausgehend von den Kugel-Stab-Modellen der jeweiligen Elementarzellen.Komplementärmodelle können zudem bei Verbindungen hilfreich sein, also wenn mehrere Atom- oder Ionensorten vorliegen. So lassen sich mit 3-D-Software-Tools (zum Beispiel Blender) Lücken und Atome kombiniert darstellen. Die gängige Kugelpackungs-Repräsentation <xref rid="nadc20224127265-fig-0005" ref-type="fig">(Abbildung 5, links)</xref> lässt sich durch das Auslassen der großen Ionen (Chloridion) sinnvoll ergänzen, etwa wenn alle Natriumionen sichtbar sein sollen (Abbildung 5, rechts).<figure><img src="https://media.graphassets.com/FONvwpNtRJakPxV0HNDp"><figcaption><label>Abb. 5: </label>NaCl-Elementarzelle mit raumerfüllenden Kugeln (links), ohne die Cl–-Ionen. Die Bilder wurden mit der Software Blender erstellt. Wie in Abbildung 2 wurde für die Cl–-Ionen ein leichter Überlapp erzeugt, um im Komplementärmodell die Kontaktpunkte sichtbar zu machen.</figcaption></figure>
<h2>Ausblick</h2>Die Komplementärmodelle in ihren unterschiedlichen Repräsentationsformaten eignen sich in der Lehre sowohl für Anfängervorlesungen als auch für Veranstaltungen zu Spezialthemen.In der Grundvorlesung illustrieren Komplementärmodelle, dass die Begriffe Tetraeder-, Oktaeder- und Hexaederlücke irreführend sein können. Diese Geometrien zeigen lediglich die Anordnung der benachbarten Atome in der übergeordneten Kugelpackung. Die tatsächliche Form unterscheidet sich davon, ist aber ein relevanter Strukturparameter, etwa die Oktaederlücke bei der kubisch raumzentrierten Packung. Zusätzlich sind Rückschlüsse auf die Lage der Lücken zueinander und die Verbindungen möglich.Diese Eigenschaften können in Veranstaltungen zur Festkörperchemie zum besseren Verständnis der Eigenschaften von kristallinen Verbindungen beitragen, zum Beispiel zur Ionendiffusion. Um die Lücken einfacher zu identifizieren, können sie unterschiedlich gefärbt werden. Zusätzlich ist es denkbar, dass die Komplementärmodelle Ähnlichkeiten mit nano- oder mesostrukturierten Verbindungen aus der Materialchemie aufweisen, zum Beispiel zu inversen Opalen. Die Struktur dieser hochporösen Materialien ähnelt dem Komplementärmodell der kubisch flächenzentrierten Kristallstruktur. Die Modelle können somit das Verständnis der Porenstruktur vereinfachen.Je nach Lehrformat eignen sich die Anschauungsmodelle unterschiedlich gut. Insbesondere bei den Abbildungen von Modellen und den haptisch-interaktiven Modellen sollte der Konstruktionsprozess durch Abbildungen, Animationen oder Simulationen veranschaulicht werden. Diese Erweiterung ist notwendig, um die Komplementärmodelle mit den bereits bekannten Kristallmodellen zu verknüpfen.Die Modelle, der Entstehungsprozess und die 3-D-Druck-Dateien können über den QR-Code abgerufen werden.2)<h2>Die Autor:innen</h2>Diesen Beitrag haben Alexander Weber (oben), Sebastian Werner (unten), Bernd Smarsly und Nicole Graulich verfasst. Weber hat in Gießen Chemie und Mathematik für das Lehramt an Gymnasien studiert. Werner promoviert seit dem Jahr 2017 in der physikalischen Chemie in der Arbeitsgruppe von Smarsly über CuO-basierte Nanostrukturen in der H2S-Detektion. Graulich ist Professorin für Didaktik der Chemie und leitet seit dem Jahr 2014 das Institut für Didaktik der Chemie an der Universität Gießen. Smarsly ist seit dem Jahr 2007 Professor für physikalische Chemie an der Universität Gießen.<div><img src="https://media.graphassets.com/sXphf89S9mcEiw6Yj0QQ">

</div><div><img src="https://media.graphassets.com/uBHWdFZpT8OkE0G9n6Wm">

</div><h2>AUF EINEN BLICK</h2>Bei der üblichen Darstellung der kubisch flächenzentrierten Elementarzelle sitzen die Anionen jeweils auf den Ecken sowie auf den Flächen eines Würfels und bilden eine Kugelpackung.Ein Komplementärmodell visualisiert die Lücken in einer Kristallstruktur und erweitert damit die Perspektive auf den Aufbau von Kristallstrukturen.Komplementärmodelle eignen sich sowohl für Lehrveranstaltungen für Anfänger:innen als auch für fortgeschrittene Studierende.
<ul class="references"><li>
1 W. Borchardt-Ott, H. Sowa, Kristallographie: eine Einführung für Naturwissenschaftler, Springer, Berlin 2013</li><li>
2 Open-access Materialien auf der OSF-Plattform: <a href="https://osf.io/y73r4/?view_only=" target="_blank">osf.io/y73r4/?view_only=</a> a8dd4cd9c572467490d5da49873c7e5a</li></ul>

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