Industrie + Technik

<p>Ausgründungen aus Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen werden wichtiger denn je. Denn die Klimakrise verlangt von der chemischen Industrie Innovationen in nie gekannter Geschwindigkeit. Mit dem Innovationsdruck steigen jedoch auch die Erfolgschancen für Start-ups.</p>
<p>Um die Transformation der chemischen Industrie hin zu Treibhausgasneutralität und Kreislaufwirtschaft zu bewältigen, bedarf es Technologien und Geschäftsmodelle, die noch zu entwickeln und einzuführen sind. Die nachhaltige Zukunft verantworten jedoch nicht allein Forschungszentren, einzelne Unternehmen oder Universitäten. Vielmehr braucht es dafür die kollektive Innovationskraft der Chemical Community mitsamt ihres Ideen- und <xref rid="nadc20224125375-fig-0001" ref-type="fig">Technologiereichtums</xref>.</p><figure><img src="https://media.graphassets.com/p00qzwsySQ5TjOloIJWZ"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Grafik: Dandymann / Adobe Stock</figcaption></figure>
<h2>Innovationskraft von Start-ups</h2><p>Das macht „genau jetzt“ zum idealen Zeitpunkt, sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zu fragen: „Kann meine Forschung zum Transformationsprozess beitragen? Und falls ja, wie?“</p><p>Start-ups sind Unternehmensgründungen mit neuen Geschäftsideen und hohem Wachstumspotenzial. Dort haben viele Innovationen der vergangenen zwanzig Jahre ihren Ursprung – etwa, wie wir Informationen suchen und finden, miteinander kommunizieren, einkaufen, bezahlen, uns fortbewegen oder Erkrankungen vorbeugen und therapieren.</p><p>Verglichen mit etablierten Unternehmen, deren Stärken in inkrementeller Innovation liegen, sind Start-ups innovationsfreudiger, disruptiver. In kleinen Teams mit hohem Autonomiegrad und flachen Hierarchien entwickeln sie schnell neue Produkte und Dienstleistungen und überführen so Forschungsergebnisse aus dem Labor in den Markt.</p><h2>Wie ein Start-up funktioniert</h2><p>Start-ups können sich auf das Lösen eines oder weniger spezifischer (Kunden-)Probleme fokussieren, ohne dabei Produktportfolios, Investitionsentscheidungen der Vergangenheit oder alte Denkmuster und langwierige Abstimmungsprozesse zu berücksichtigen. Zudem ist ihre Arbeit meist von einer Vision der Zukunft getrieben, die alle Beteiligten motiviert.</p><p>Unternehmensgründungen verschiedener Branchen unterscheiden sich hinsichtlich Kapitalbedarf und Time-to-Market, aber etwas eint sie: Jede Geschäftsidee – egal ob E-Commerce, Entertainment, Hardware, Software oder Chemie – basiert auf Hypothesen, die über den Erfolg mitentscheiden.</p><p>Es ist die Aufgabe des Gründungsteams und seiner Mitarbeiter:innen, sich dieser Hypothesen anzunehmen und sie in Experimenten zu validieren. Der Großteil dieser Tätigkeit findet außerhalb von Laboren statt. Das verdeutlicht der Blick auf Risiken für Start-ups (<xref rid="nadc20224125375-fig-0002" ref-type="fig">Abbildung</xref> S. 48). Lernwilligen Wissenschaftler:innen mit offener Grundhaltung und dem Wunsch, mit ihrer Forschung etwas zu bewirken, macht die Arbeit jedoch viel Spaß.</p><figure><img src="https://media.graphassets.com/CiazGXQMCrI2tUGocpAw"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Leitfragen. Ungetestete Hypothesen einer Geschäftsidee sind ein Risiko. Dagegen hilft Start-up-De-Risking. Fast alle Hypothesen lassen sich einem der Risiken oder deren Leitfragen zuordnen.</figcaption></figure>
<p>Erfolgreiche Gründer und Investorinnen halten nicht die Geschäftsidee für alleinentscheidend über Erfolg oder Misserfolg. Vielmehr kommt es auf die Fähigkeit des Gründungsteams an, auf Basis einer guten Idee und externer Rückmeldungen ein funktionierendes Geschäftsmodell zu entwickeln.</p><p>Erfahrene Gründerinnen tauschen sich deshalb so früh wie möglich aus mit Industrieexperten, potenziellen Kundinnen, Partnern und Kapitalgeberinnen. Deren Feedback arbeiten sie in ihr Konzept ein. Geschäftsmodellentwicklung lässt sich also als iterativer Prozess verstehen, bei dem die zentrale Frage nicht lautet: „Funktioniert meine Idee?“, sondern: „Wie kann meine Idee funktionieren?“.</p><h2>Aus Gründen</h2><p>Bislang erhalten wenige Chemikerinnen und Chemiker im Rahmen ihrer akademischen Laufbahn Gelegenheit, sich mit unternehmerischem Denken und Handeln auseinanderzusetzen. Jedoch kommen ihnen ihre analytischen Fähigkeiten zugute. Sie sind versiert darin, Daten zu erheben, auszuwerten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das wiederum prädestiniert sie, Geschäftsmodelle zu entwickeln und Start-ups zu gründen.</p><p>In den öffentlichen Forschungseinrichtungen Deutschlands arbeiten mehr als 12 000 Personen hauptberuflich in der Chemie. Jedes Jahr promovieren knapp 2000 Doktorand:innen. Viele von ihnen erforschen neue Techniken oder Prozesse – ein enormes Potenzial, dessen Verwertung stärker in den Fokus rücken sollte. Einerseits, um einen Beitrag zur Chemie von morgen zu leisten, andererseits als Chance für die persönliche und berufliche Entwicklung.</p><p>Mit 25 bis 35 Gründungen pro Jahr in Deutschland liegt die Zahl an Start-ups in der Chemie zurzeit deutlich hinter der anderer Branchen. Dass bislang eher wenige Chemiker:innen eine Unternehmensgründung in Erwägung ziehen, hat vielfältige Ursachen.</p><p>Die akademische Forschung ist nach wie vor publikationsgetrieben und agiert nicht selten entkoppelt von industriespezifischen Fragen. Erfindungen entstehen dabei aus wissenschaftlicher Neugier und nicht als Antwort auf (Kunden-)Probleme.</p><p>Innovationen in und aus der Chemie entscheiden derzeit jedoch nicht nur über Wettbewerbsvorteile, sondern auch über das Wohlergehen des Planeten mit. Die Forschungsaktivitäten um einen geschulten Blick auf eine mögliche industrielle Verwertung zu erweitern, wäre entsprechend wertvoll. Und es würde überraschen, wenn in den Laboren der deutschen Spitzenforschung nicht Technologien schlummerten, die sich für erfolgreiche Firmengründungen eigneten.</p><h2>Branchenspezifisch unterstützen</h2><p>Politik und Wirtschaft unterstützen niedrigschwellige Hilfsangebote für Wissenschaftler:innen. So sollen mehr und bessere Start-ups entstehen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) hat sich <a href="https://chemstars.nrw" target="_blank">chemstars.nrw</a> dieser Mission verschrieben – eine Initiative von Covestro, Currenta, Evonik, Henkel, des Verbands der Chemischen Industrie NRW und des NRW-Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie. Weitere Aktivitäten mit jeweils eigenem Schwerpunkt gibt es etwa in Berlin (Chemical Invention Factory), München (Chemspace), Bochum (Start4Chem), Frankfurt (Forum Startup Chemie) und Idstein (Panda, Hochschule Fresenius).</p><p>Das Chemstars-Angebot richtet sich an Chemiker:innen und setzt weit vor der Gründung an (<xref rid="nadc20224125375-fig-0003" ref-type="fig">Abbildung</xref> rechts). Wer sich erst einmal informieren möchte, was es bedeutet, ein Unternehmen zu gründen, kann bei den Venture Talks vorbeischauen, sich online zuschalten oder ein kostenfreies Start-up-Basisseminar für seinen Arbeitskreis oder den gesamten Fachbereich buchen.</p><figure><img src="https://media.graphassets.com/qY6qMFaQcmfogoax6oUi"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Die Initiative <a href="https://chemstars.nrw" target="_blank">chemstars.nrw</a> bietet vieles: etwas für Menschen, die sich für Start-ups interessieren, bis hin zu solchen, die bereits gegründet haben.</figcaption></figure>
<p>Forscher:innen, die eine Geschäftsidee im Kopf haben, sollten am Ideenwettbewerb „From Lab to Market Challenge“ teilnehmen. Dort können sie die Idee mit Industrieexpertinnen und -experten weiterentwickeln, Geldpreise und ein Feature in der Fachzeitung <i>Chemanager</i> gewinnen.</p><p>Der „Startup Support“ ist ein sechsmonatiges Programm, das Chemstars speziell für Gründungsteams und Start-ups der Chemieindustrie entwickelt hat, die ihr Unternehmen auf das nächste Level bringen wollen. In der Chemie sehen sich Gründer:innen mit Fragen konfrontiert, die keine Onlinesuchmaschine beantwortet. „Für wen schafft meine Technik einen Mehrwert?“, „Was muss ich aus regulatorischer Perspektive beachten?“, „Wie skaliere ich meinen Produktionsprozess?“ oder „Wie finde und überzeuge ich passende Kapitalgeber?“ sind Beispiele einer langen Liste.</p><p>Die Partner von Chemstars unterstützen Gründer:innen mit offenen, ehrlichen Antworten und hilfreichen Tipps. So werden die neuen Unternehmen professioneller, entwickeln sich schneller und verbessern dadurch ihre Chancen am Kapitalmarkt. Und das wiederum kommt der gesamten Industrie zugute. Denn je größer die Zahl professioneller Start-ups ist, desto mehr potenzielle Partner gibt es, mit denen etablierte Unternehmen beim Gestalten der chemischen Industrie zusammenarbeiten können.</p><h2>Der perfekte Zeitpunkt, in der Chemie zu gründen</h2><p>Das Interesse an Kooperationen mit Start-ups in der Chemie war nie größer. Wer ein Unternehmen gründet, steht also nicht zwangsläufig mit etablierten Unternehmen in Konkurrenz. Vielmehr ergänzen sich beide Welten: neue Techniken, Ideenreichtum und Agilität auf der einen Seite – Ressourcen, industriespezifisches Know-how und Marktzugang auf der anderen.</p><p>In der Pharmaindustrie entwickelte sich die Interaktion von etablierten Unternehmen mit Start-ups zum Erfolgsmodell, als der Innovationsdruck aufgrund auslaufender Patente stieg. Davon profitiert die Start-up-Szene bis heute. Viele Forscher:innen gründen Unternehmen und verkaufen sie später oder bringen sie an die Börse. Das wohl prominenteste Beispiel sind Ugur Sahin und Özlem Türeci. Sie hatten vor der Biontech-Gründung das Unternehmen Ganymed Pharmaceuticals gegründet und im Jahr 2016 für mehr als 400 Mio. Euro verkauft. Ob solche Exits in der Grund- und Spezialchemie realistisch sind, wird sich zeigen. Klar ist: Die Industrie braucht Innovationssprünge, um den von Konsumenten und Regulationsbehörden getriebenen Transformationsprozess zu bewältigen. Die Erfolgsaussichten für Gründungsteams in der Chemie waren also nie besser.</p><h2>Die Autoren</h2><p>Den Beitrag haben Martin Bellof und Stefan Weber verfasst. Der Biologe Bellof ist Mentor sowie Gründer und leitet Ventures &amp; Partnering bei <a href="https://chemstars.nrw" target="_blank">chemstars.nrw</a>. Der Wirtschaftswissenschaftler Weber leitet dort Ecosystem &amp; Partnering. Die Initiative unterstützt Unternehmensgründungen mit Berührungspunkten zur chemischen Industrie. Kernelement ist der Austausch zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen. <a href="https://chemstars.nrw" target="_blank">chemstars.nrw</a></p><div><img src="https://media.graphassets.com/e9jlP4wSLicHjPD6N5xQ">

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Ausgründungen aus Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen werden wichtiger denn je. Denn die Klimakrise verlangt von der chemischen Industrie Innovationen in nie gekannter Geschwindigkeit. Mit dem Innovationsdruck steigen jedoch auch die Erfolgschancen für Start-ups. Um die Tra...

<p><b>Nachhaltiges Kerosin</b> | Ein „Act-for-Sky“-Konsortium soll die Herstellung nachhaltiger Flugkraftstoffe (sustainable aviation fuels, SAFs) vorantreiben. Gegründet haben es die japanischen Fluggesellschaften All Nippon Airways und Japan Airlines sowie das Bauunternehmen JGC Holdings aus Yokohama, der Biodieselhersteller Revo International aus Kyoto und 16 weitere Unternehmen. Im Jahr 2030 sollten SAFs zehn Prozent des japanischen Kerosinbedarfs ersetzen, derzeit ist es aber erst ein Prozent. Deshalb sollen nun stärker Speiseöle, Biomasse, Siedlungsabfälle und Mikroalgen verwertet werden.</p><p><b>Aktive Städte</b> | Seit dem Jahr 2016 fördert das chinesische Ministerium für Wissenschaft und Technologie „innovative Städte“ mit Investitionen in Wissenschaft, Technologie, Humanressourcen und Kultur. Beispiele sind Nanjing, Chengdu und Wuhan, wo Wissenschaftsparks entstanden sind. Die Zahl dieser innovativen Städte beträgt nun 103. Zudem gehören Schanghai, Peking und Shenzhen nach den Kriterien innovative Unternehmen, Patentaktivitäten und Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu den weltweit aktivsten Großstädten.</p><p><a href="https://elsevier.com/research-intelligence/resource-library/global-cities-research-report" target="_blank">elsevier.com/research-intelligence/resource-library/global-cities-research-report</a></p><p><b>Insel als Labor</b> | Chinas Tropeninsel Hainan mit neun Millionen Einwohnern und einer Freihandelszone dient China immer wieder als Labor für neue Regierungsmaßnahmen. Hainan wird nun in der zweiten Jahreshälfte ein International Carbon Emissions Trading Centre einrichten, kohlenstoffarme Wirtschaftsmodelle fördern und marktbasierte ökologische Ausgleichsmechanismen bei der Umstellung der lokalen Wirtschaft und Gesellschaft auf eine Kohlenstofffinanzierung testen.</p><p><i>Rolf Schmid, <a href="https://www.bio4business.eu" target="_blank">www.bio4business.eu</a></i></p>

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