In einem Perspektiv-Artikel kritisieren Anthony K. Cheetham und Ram Seshadri, Universität Santa Barbara, die Veröffentlichung einer Gruppe von Forschenden der Firma Google in der Zeitschrift Nature. Merchant et al. hatten künstliche Intelligenz un...
Trendbericht
Technische Chemie 2024
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Die Zirkularität von Stoffströmen, die Nachhaltigkeit, vor allem die Nutzung biogener Rohstoffe, sowie die Ressourcen- und Energiesicherheit sind seit Jahren wichtige Ziele. Ob in der Reaktions- oder der Trenntechnik, alle Bereiche der technischen Chemie profitieren von grundlegenden Stützpfeilern. Mit den darin enthaltenen methodischen Ansätzen lassen sich maßgeschneiderte Lösungen auf allen Größenskalen erstellen, Szenarien für die Energiewende entwerfen oder mit virtuellen Visualisierungen Vorstellungen von der Zukunft bekommen.
Axiome der Technischen Chemie
Dieser Trendbericht startet mit einem kurzen Rückblick, um die Kontinuität der Themen aus den vergangenen zehn Jahren zu verdeutlichen.1) Der Roadmap Chemical Reaction Engineering 2023 der Dechema zufolge haben sich die Zirkularität von Stoffströmen, die Nachhaltigkeit sowie die Ressourcen- und Energiesicherheit als wesentliche Ziele für die künftige Entwicklung herausgebildet.2) Der Kohlenstoffkreislauf ist ein beispielhafter Aspekt für Zirkularität: Polymere enthalten neben Kohlenstoff Sauerstoff und Wasserstoff sowie Stickstoff, Schwefel, Chlor und Fluor.
Da sich eine vollständige Zirkularität erst erreichen lässt, wenn alle Stoffströme in passende Prozessketten integriert sind, ist die Nachhaltigkeit das zweite Ziel. Dieses stellt sicher, dass auch in Veränderungsphasen auf nachhaltige Lösungen geachtet wird und die stoffgewordenen Probleme nicht einfach verklappt werden. Das dritte Ziel, die Ressourcen- und Energiesicherheit, ist besonders aktuell: Die chemische Industrie ist und wird eine energieintensive Industrie sein.3) In Zeiten, in denen es Bestrebungen und Empfehlungen zur Deindustrialisierung gibt, bedeutet dieses Ziel: Bewusstsein schaffen, dass die chemische Industrie strategisch wichtig ist, um die wirtschaftliche Autonomie zu erhalten und damit demokratische Strukturen zu sichern. Besonders relevant ist dabei die energieintensive Grundstoffindustrie, die high value chemicals (HVCs) wie Ethylen, Propylen, Buten und Benzol sowie Wasserstoff und Ammoniak bereitstellt, die am Anfang vieler Wertschöpfungsketten stehen.
In der Roadmap Chemical Reaction Engineering werden zudem drei Axiome benannt, die man auch als Stützpfeiler bezeichnen kann, da mit diesen Aspekten vor allem eine Methoden- und Technologieentwicklung verbunden ist. Die Diversifizierung etwa auf neue Produkte und Märkte soll Bestehendes überdenken, ergänzen und abwandeln sowie Neues aus einer erkannten Lücke heraus entwickeln.
Die Mehrskaligkeit betrachtet Prozesse über die typischen Entwicklungsstufen vom Labor zum Produktionsmaßstab. Dabei geht es um das Zusammenspiel von molekularer und makroskopischer Skala sowie deren Einfluss auf Prozesse in dezentralen Anwendungen und in vollintegrierten Verbundstandorten. Zudem sind die Digitalisierung und die damit verbundenen Möglichkeiten noch immer Trend in der technischen Chemie.
Aus zehn Jahren Trendbericht
Die Themen der vergangenen Trendberichte zeigt Abbildung 1. Wie die chronologische Aufstellung der Überschriften aus den vergangenen Jahren zeigt, sind die Themen zur Nachhaltigkeit, insbesondere das Nutzen biogener Rohstoffe, bereits seit zehn Jahren wichtig. Zudem taucht das Thema Ressourcen sowohl zu Beginn als auch am Ende dieser Zeitspanne auf. Die drei Axiome sind klar definierten Themenbereichen zuzuordnen.
Die Hebelwirkung dieser Axiome im Chemieingenieurwesen ist enorm und deutet auf einen anhaltenden Transformationsprozess hin. Sogar in klassischen Fragen steckt nach wie vor Entwicklungspotenzial. Hierbei dürfen die technischen Chemiker:innen unter den Leser:innen sich gerne als Chemieingenieur:innen sehen. Im ersten Artikel der Zeitschrift Chemical Engineering Science aus dem Jahr 1951 schreibt Joseph Cathala, Professor für chemische Verfahrenstechnik an der Universität Toulouse (aus dem Englischen): „[Es] verhalten sich alle Personen, die tagtäglich zur technologischen Entwicklung der chemischen Industrie beitragen, tatsächlich wie Chemieingenieure.“4)
Transformation und Zukunftslärm
Die Transformation der chemischen Industrie ist eingebettet in die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (UN sustainable developement goals, SDGs). Es verändern sich zurzeit nicht nur die chemische Industrie, sondern auch andere Branchen. In einem solchen Gesamtumbruch realistische Zukunftsszenarien abzusehen, ist eine extreme Herausforderung. Erschwert wird dies durch die Meinungsbildung bei solchen gesellschaftlichen Veränderungen. Möchte die Gesellschaft etwa bestimmte Industriezweige abschaffen und setzt das politisch durch, durchkreuzt das auf Jahrzehnte angelegte Pläne der Industrie.
Der Kommunikationsspezialist und Volkswirt Bernhard Fischer-Appelt, Inhaber und Gründer der gleichnamigen Kommunikationsagentur, bezeichnet den Blick in die Zukunft als Zukunftslärm. Alles sei so ungeordnet wie ein Orchester vor dem Konzertbeginn: Es wird vorbereitet, gestimmt, nochmal durchgespielt, und dabei entsteht kein musikalisches Meisterwerk, sondern Lärm.5) Insbesondere die Gesellschaft nimmt den technisch-wissenschaftlichen Diskurs der Transformation zur Nachhaltigkeit als Lärm wahr, ganz abgesehen von einem schlechten Image, das die Chemieindustrie bei vielen hat.
Der Zukunftslärm um die Transformation der chemischen Industrie entsteht durch Erschließen neuer Bereiche im Diversifizierungsprozess, darunter elektrochemische oder photochemische Prozesse für technische Applikationen. Diese sind in den letzten Jahren weit fortgeschritten.6–8) Jedoch erzeugt die Erweiterung der Technologiepalette auch Lärm, da sich die neuen Techniken zwar mit großen Schritten weiterentwickeln, aber zurzeit noch in der Grundlagenforschung zu verorten sind.
Nur Fachleuten ist klar, dass die chemische Industrie schon immer diversifiziert war, wo chemische Produkte zeitgleich durch verschiedenartige Prozesse erzeugt wurden, je nach den Rahmenbedingungen für den jeweiligen Standort. Im Alltag offenbart sich die Problematik des Zukunftslärms etwa im Bereich der Energiespeichertechniken, die für viele Menschen undurchschaubar komplex sind. Zudem werden dort einzelne Lösungsansätze zur alleinigen Lösung stilisiert, ohne den Mehrwert einer individuellen und maßgeschneiderten Lösung für spezifische Anwendungsfälle gelten zu lassen.
Mehrskaligkeit und Digitalisierung
Die Transformation ist vielschichtig. Die Stoffströme unterscheiden sich in Richtung und Größenordnung und sammeln und verteilen sich an Punkten in der zirkulären Wirtschaft. Beispielsweise wird im Kunststoffrecycling der Sekundärrohstoff gesammelt, aufbereitet, wieder in Produkte überführt und erneut verteilt.
Auch die Szenarien einer Wasserstoffwirtschaft benötigen Überlegungen auf mehreren Skalen. Es braucht eine landesweite Infrastruktur wie Druckbehälter und H2-Leitungen, die Quellen und Senken verbindet, darunter eine Fern- und eine Nahversorgung. Gleichzeitig können Quellen und Senken bei der Erzeugung und im Verbrauch Größenordnungen auseinander liegen, was die Mehrskaligkeit erfordert. Bei diesen Fragen sind viele Menschen, die Politik und Industrie betroffen, fühlen sich zuständig oder weisen auf die Verantwortung anderer Akteure hin. Zuordnen der Verantwortlichkeiten und Ausarbeiten von Lösungen sind schwierig und erzeugen so Zukunftslärm.
Digitalisierung ist unerlässlich, um Zukunftsszenarien zu entwickeln. Mit digitalen Werkzeugen werden Szenarien für die Transformation auf verschiedenen Größenskalen untersucht. Simulationen und Programme führen zu globalen, europäischen oder nationalen Szenarien oder berücksichtigen vielleicht nur einen Chemiepark oder eine Anlage.
Rebound-Effekte
Mit den Szenarien lassen sich gekoppelt mit inter- und transdisziplinären Modellen von der Chemie über Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften bis zur Soziologie Rebound-Effekte abschätzen. Damit sind etwa Effekte gemeint, die trotz einer technisch postulierten Energieeinsparung zu einem höheren Verbrauch führen. Dieser Mehrverbrauch kann beispielsweise durch Kosteneinsparungen, psychologische Effekte oder regulatorische Defizite auftreten.
Grundsätzlich haben virtuelle Untersuchungen einen enormen Wert, um zukunftsfähige Lösungen zu finden. Diese lassen sich dann visualisieren. Vielleicht sind für die Akzeptanz von transformationsbedingten Änderungen virtuelle Visualisierungen der beste Weg, um eine Vorstellung von der Zukunft zu bekommen. Insbesondere für die gesellschaftliche Akzeptanz können solche Visualisierungen ausschlaggebend sein.
Der Übergang zur Wasserstoffwirtschaft ist ein Paradebeispiel für den Lärm, den eine technische Transformation auslösen kann. Hier lässt sich zeigen, dass für Zukunftsszenarien ein kühler Kopf notwendig ist und man nicht nur für das Thema brennen darf. Unter www.wasserstoff-kompass.de stehen Hintergrundinformationen, Umfrage- und Monitoring-Berichte. Ebenfalls gibt es dort im Umfragebericht 04/2022 ein umfassendes Bild zu erwarteten Szenarien: Die Interessensgruppen sahen zwar umfangreichen Forschungsbedarf, bewerteten aber gleichzeitig zehn Herstellungsverfahren für Wasserstoff in den Jahren 2030 und 2050, bei denen nur zwei Prozent der Befragten keine Angabe zu einem möglichen Szenario machte. Dies Ergebnis ist ein Indikator dafür, dass eine Transformation nicht an mangelnder Technikauswahl scheitert; es gibt zur Wasserstofferzeugung via Elektrolyse bereits drei verfügbare Technologien.9) Im Wesentlichen geht es um wirtschaftliches Erzeugen, Anpassen der Infrastruktur und eine Neugestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
Das alles sind Hemmnisse, die den Rebound-Effekten ähnlich sind – ohne dass ein wesentlicher Schritt dagegen unternommen wurde. Man könnte es eine virtuelle Hemmung nennen.
Wirtschaft, Politik und Technik
Um aus der Hemmung auszubrechen, müssen Wirtschaft und Politik bereit sein zu handeln. Die Wirtschaft muss unternehmerische Risiken eingehen. Die Politik muss regulatorische Defizite aufarbeiten, Subventionsaltlasten abbauen und Regularien ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand verabschieden.
Bremsen also nur unternehmerische und politische Faktoren die Transformation aus? Natürlich nicht. Die Schwierigkeit, im Zukunftslärm die passende Lösung zu finden, macht der Energietransport mit Energieträgern deutlich:
Fossile Energieträger benötigen weniger Masse und Volumen als viele nachhaltige Energieträger für die gleiche Energiemenge (Abbildung 2). Transportiert man einen bestimmten Energieinhalt mit einem chemischen Energiespeicher von A nach B, sind zwei Größen wichtig: wie viel Volumen und wie viel Masse dabei zu verfrachten sind. Bei Diesel muss man für eine bestimmte Energiemenge wenig Volumen und Masse bewegen. Darüber hinaus benötigt Diesel keine Kühlung. Flüssige organische Wasserstoffträger (liquid organic hydrogen carrier, LOHCs) brauchen ebenfalls keine Kühlung; die Energiedichte ist allerdings nur ein Sechstel so hoch, was zu massiven logistischen Problemen führen kann. Während bei LOHCs viel Volumen und eine große Masse bewegt werden muss, liegt bei verflüssigtem Wasserstoff (LH2) die Schwierigkeit bei den extrem tiefen Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt. Auch flüssiges Methan (liquefied natural gas, LNG) und flüssiger Ammoniak haben diesen Nachteil. Gleichzeitig sind alle vier Energieträger sinnvolle Substitutionskandidaten für fossile Energieträger. Die Verflüssigung von Gasen ist technisch etabliert, auch wenn es im Fall von Wasserstoff zurzeit nur Spezialanfertigungen und noch keine Massenproduktion für solche Anlagen gibt. Allein aus diesen Informationen lässt sich ein bunter Strauss an Anwendungsszenarien ableiten; es wird auch in naher Zukunft keinen einfachen Entscheidungsbaum geben, der Akteuren sagt, welche Technologie für welchen Fall die beste Lösung ist.
Beispiel Rektifikation
Wie sich neue Lösungen für etablierte Konzepte ergeben können, zeigt das Beispiel der Rektifikation. Die mehrstufige Destillation trennt Stoffgemische. Hierzu wird einer Destillationskolonne am unteren Ende in einem Verdampfer Wärme zugeführt und diese am oberen Ende in einem Kondensator wieder abgeführt. Zwischen Verdampfer und Kondensator sind die Dampf- und Flüssigphase in Kontakt und damit im Austausch, wodurch sich die Komponenten nach ihren Siedepunkten trennen. Der Prozess ist seit Jahrhunderten die wichtigste Trennoperation in der chemischen Industrie und für schätzungsweise 3 bis 9 Prozent des Energiebedarfs verantwortlich.10–13) Angesichts der zunehmenden Bestrebungen, den Energieverbrauch zu senken, ergibt sich hier ein signifikanter Hebel. Entsprechend wurde in den vergangenen Jahrzehnten untersucht, inwieweit sich Destillationsprozesse effizienter gestalten lassen.
Stoffgemische trennen sich nicht von selbst, daher lässt sich bei gleichbleibendem Chemikalienbedarf ein gewisser Energieeintrag nicht vermeiden. Dabei soll das Zuführen der Wärme möglichst nachhaltig und effizient werden, und die Stofftrennung selbst soll bei dem niedrigst möglichen Energieverbrauch, also optimal, laufen. Generell sollte dabei nicht nur der Betrieb der Anlagen berücksichtigt werden, sondern ihr gesamter Lebenszyklus. Dies schließt ein, welche Prozesse ausgewählt werden, wie groß die Apparaturen werden und wie viel Energie der Bau verbraucht. In den Axiomen Diversifizierung, Multiskalenansätze und Digitalisierung finden sich die Bestrebungen wieder, Betrieb und Auslegung von Anlagen effizient zu gestalten.
Destillation diversifizieren
Effizienzsteigerungen im Betrieb machen üblicherweise Abläufe komplexer und den Anwendungsbereich der Prozesse und Anlagen kleiner. Entsprechend ist je nach Trennaufgabe neu zu entscheiden, welche Technik am vielversprechendsten ist. Diversifizierung bezieht sich in diesem Kontext auf die Lösungsansätze selbst und auf das Know-how darüber, wann auf welche Technik zurückgegriffen werden sollte. Hierbei kommen vielschichtige digitale Methoden zum Einsatz, hier ein kurzer Überblick:
Die Wärme, die die Industrie unter anderem für Destillationen benötigt, stammt zu einem großen Teil aus fossilen Brennstoffen.14) Um zu decarbonisieren, muss diese Energiequelle ersetzt werden, etwa durch Strom, der sich vergleichsweise einfach regenerativ erzeugen lässt. Die elektrische Energie dient entweder direkt zum Heizen oder beispielsweise, um Wärmepumpen zu betreiben. Diese nutzen technische Arbeit (bereitgestellt über elektrische Energie) zum Transport von Wärme von einem niedrigeren zu einem höheren Temperaturniveau. Bei der Destillation ist es am oberen Kolonnenende kälter und am unteren Kolonnenende wärmer. Die Destillation mit Wärmepumpe lässt sich auf verschiedene Weise umsetzen, darunter die Brüdenkompression.15) Wärmeintegration sollte dabei nicht nur für einzelne Kolonnen, sondern im gesamten Prozess evaluiert werden, um Wärmequellen und -senken möglichst effizient zu verbinden.
Sollen aus einem Ausgangsstrom nicht nur zwei, sondern drei oder mehr Produktfraktionen gewonnen werden, müssen üblicherweise mehrere Destillationskolonnen nacheinander verwendet werden (Kolonnensequenz). Allerdings sind dabei Teile der Trennung mehrfach durchzuführen, was zu einem erhöhten Energiebedarf führt. Abhilfe schaffen können dabei Trennwandkolonnen. Von außen betrachtet sehen diese wie normale Destillationskolonnen mit zusätzlichen Produktabzügen aus. Im Inneren besitzen sie allerdings eine oder mehrere vertikale Wände, welche die Durchführung der Trennung bei minimalem Energiebedarf ermöglichen.
Es existieren Varianten mit einer oder mehreren Trennwänden, die entweder mittig, ganz oben oder ganz unten in der Kolonne platziert sind.16) Abbildung 3 zeigt zwei dieser Varianten verglichen mit einer Kolonnensequenz. Für beide Varianten ist eine Kostenreduktion zu erwarten: Durch geringere Investitionskosten – man baut nur eine statt mehrerer Kolonnen –, und vor allem sinkt der Energiebedarf im Betrieb. Die in der Industrie am weitesten verbreitete Variante, um drei Fraktionen mit mittiger Trennwand zu trennen, senkt die kombinierten Kosten aus Betriebs- und Investitionskosten um etwa 30 Prozent verglichen mit der herkömmlichen Sequenz zweier Kolonnen.17,18)
Mehrskaligkeit der Rektifikation
Um großtechnische Rektifikationsanlagen zu bauen, werden üblicherweise Vorversuche im kleineren (Labor-)Maßstab durchgeführt, im mittleren (Pilot-)Maßstab validiert und die Ergebnisse anschließend verwendet, um die großtechnische Anlage zu dimensionieren. Diese Vorversuchsserie verbraucht Energie, Kosten und Zeit.
Das kürzlich abgeschlossene und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt Reprovap untersuchte, inwieweit sich dieses Vorgehen effizienter gestalten lässt.21) Im Projekt wurden numerische Strömungssimulationen (computational fluid dynamics, CFD) durchgeführt, um auf digitalem Weg einen Einblick in gepackte Kolonnen zu erhalten. Die Simulationen helfen, von der Strömung auf einer kleinsten Wiederholeinheit der Packung auf die Trennleistung in einer kompletten Kolonne mit großem Durchmesser zu schließen.22) Dieser Mehrskalenansatz soll die Prozessentwicklung effizienter machen.
Digitale Trenntechnik
Digitale Werkzeuge stellen sicher, dass eine Rektifikation optimal ausgelegt ist und läuft.23) Grundlage ist oft eine Fließbildsimulation, die in kommerziellen Tools wie Aspen Plus in verschiedenen Modelltiefen durchführbar ist. Der wahrscheinlich häufigste Modellansatz für die Destillation ist der der theoretischen Trennstufen. Er nimmt an, dass aus einer Stufe austretende Ströme im Gleichgewicht stehen. Für jede Stufe werden dann Gleichungen gelöst. Diese Mesh-Gleichungen enthalten die Massenbilanz (M), das thermodynamische Gleichgewicht (equilibrium, E), die Aufsummierung der Molenbrüche zu 1 (summation, S) und die Energiebilanz (heat, H). Detailliertere Modelle (rate based models) nehmen kein Gleichgewicht an und berücksichtigen stattdessen den Stofftransport. Die oben genannten CFD-Simulationen führen aufwendige Rechnungen durch und eignen sich daher nicht, um komplette Kolonnen zu berechnen.
Basierend auf einem Kolonnenmodell lassen sich weitere digitale Werkzeuge einsetzen, etwa Optimierungen. Diese helfen dabei, einen einzelnen Apparat so auszulegen, dass er sich am energetischen Minimum betreiben lässt.23) Wie im vorherigen Abschnitt genannt, gibt es mehrere energieeffiziente Destillationsvarianten. Auch zur Auswahl der besten Konfiguration dafür lassen sich digitale Werkzeuge nutzen.19)
Bei der Digitalisierung von Trennprozessen darf künstliche Intelligenz nicht fehlen. Beispielsweise erzeugt sie seit kurzem Fließbilder.24) Das Konsortium aus Industrie und Forschung mit dem Namen Keen arbeitet zudem daran, künstliche Intelligenz auf die Prozessindustrie anzuwenden.25)
Beispiel: heterogen-katalytische Systeme
Heterogen-katalytische Systeme sind ein weiteres Kernarbeitsfeld der chemischen Industrie. Sie sind entscheidend, wenn es darum geht, Prozesse schneller zu machen, Energie zu sparen und geben vor, ob Produktionsanlagen wirtschaftlich sind. Leider ist der Katalysator auch die empfindlichste Komponente und soll sicheren Betrieb gewährleisten, möglichst lange haltbar sein und hohe Leistung bringen. Diese Ziele schließen sich oft gegenseitig aus und sind seit vielen Jahrzehnten von großem Interesse für die technische Chemie.26)
Die Trends und Entwicklungen der letzten zehn Jahre (Abbildung 1) haben Zirkularität, Nachhaltigkeit sowie Ressourcen- und Energiesicherheit in den Vordergrund gerückt. Diese Ziele führen zu Reaktor-, Pellet- und Materialdesigns, die zuvor nicht im Fokus der technischen Umsetzung standen.
Vor allem müssen diese Systeme schwankende Energie- und Rohstoffzufuhren, die erneuerbare Energien mit sich bringen, tolerieren.27–29) Zum Beispiel erfordern Power-to-X-Prozesse einen Übergang von einem kontinuierlichen zu einem dynamischen Reaktionsbetrieb. Obwohl vertiefte Studien zu heterogen-katalytischen Systemen unter solchen Bedingungen erst kürzlich begonnen haben, sind Fortschritte in vielen Anwendungsfällen erkennbar.
Mehrfach funktionalisieren
Heterogene Katalysatoren haben viele Funktionalitäten, die über das Aktivmaterial hinaus gehen. Zudem bestimmen Form, Größe und mechanische Eigenschaften den technischen Einsatz, um insbesondere Druckverlust, Ausnutzungsgrad, Durchmischung und Handhabung zu verbessern. Ganz besonders relevant ist das Mikroklima im Katalysator, um chemische Reaktionen zu optimieren. Dieses Mikroklima ist ein Sinnbild dafür, dass Reaktion, Stoff- und Energieflüsse innerhalb des festen Katalysatorkörpers gleichzeitig ablaufen und einander beeinflussen. Die gezielte Beeinflussung des Mikroklimas erfolgt über multifunktionale Poren- und Materialsysteme oder über die Beheizung im Katalysatorkörper (in Form einer ohmschen Heizung, Induktions- oder Mikrowellenheizung).
Vor allem bedingt durch die immer komplexeren Anforderungen hinsichtlich Lastflexibilität, Intensivierung, Elektrifizierung und Dezentralisierung steigt der Bedarf an Katalysatoren mit auf die jeweilige Reaktion zugeschnittenen Funktionalitäten. Einige Beispiele hierfür sind in den Abbildungen 4 bis 6 zu sehen. Reaktoren, die über fossile Brennstoffe von außen beheizt werden, lassen sich ohne viel Aufwand elektrisch und damit potenziell CO2-neutral temperieren. Vorteilhafter ist jedoch die Wärmezufuhr direkt am Katalysator, da sie sich so schneller, gleichmäßiger und ohne viel Verlust verteilen lässt.
Abbildung4 zeigt ein Beispiel, wie sich Katalysatorstrukturen gleichzeitig als thermischer Widerstand konzipieren und so über das Anlegen eines elektrischen Stroms beheizen lassen.30) Ein elektrisch leitender SiSiC-Schaum wird dafür mit einem Katalysator (Rh/Al2O3) beschichtet. Diese Reaktoren weisen einen geringeren Energiebedarf auf, allerdings muss das eingesetzte SiSiC-Schaummaterial thermisch stabiler und länger lagerbar werden.
Weitere Funktionalisierungen sind Kern-Schale-Katalysatoren. Diese sind besonders vorteilhaft bei stark exothermen Reaktionen, denn mit einer inerten Schale auf dem aktiven Katalysatorkern lässt sich der interne Stofftransport einstellen, sodass die Reaktion nicht durchgeht. In Abbildung 5 ist dies am Beispiel der CO2-Methanisierung zu sehen und wird mit dem Verhalten eines dazu passenden, unbeschichteten Katalysators verglichen. Damit sind Reaktoren auf einfache Weise mit größeren Betriebsbereichen und gesteigerter Lastflexibilität auszustatten.31,33) Das Konzept lässt sich im technischen Maßstab fertigen und einsetzen.34)
Bifunktionale Katalysatoren wie in Abbildung 6 werden zunehmend für die selektive Umwandlung von Synthesegas in Kohlenwasserstoffe wie Paraffine interessant: Sie verbinden aktive Zentren für die C-C-Spaltung mit Metallnanopartikeln zur CO-Aktivierung sowie C-C-Kupplung; sie sollen eine hohe Selektivität von Kohlenwasserstoffen aus mittleren Destillaten wie Benzin oder Diesel erreichen. Multifunktionale Katalysatoren mit Kern-Schale-Struktur zeigen beispielsweise großes Potenzial, CO2 mit hoher Selektivität in Isoparaffine und benzinhaltige Kohlenwasserstoffe umzuwandeln.32) Diese Systeme können die Produktselektivität optimieren und unerwünschte Nebenreaktionen unterdrücken.
Mikro-, Meso- und Makroskala
Die genannten Beispiele entstammen meist einer Multiskalenbetrachtung. Dabei werden Transport- und Reaktionsprozesse modelliert – auf den verschiedenen Systemebenen und auf unterschiedlichen Zeit- und Längenskalen (Mikro-, Meso-, Makroskala). Nicht alle Messbereiche sind gleich gut zugänglich. Vor allem auf der Mikroskala geben In-situ- und Operando-Elektronenmikroskopie-Studien Einblicke in die dynamischen Strukturen heterogener Katalysatoren während der Reaktion; sie helfen so beim rationalen Design und sorgen für ein besseres Verständnis der Funktionsweise von Katalysatoren.35,36)
Bei der Herstellung heterogener Katalysatoren wird die Textur auf Skalen von Nano- bis Millimetern kontrolliert, die Stabilität bei hohen Temperaturen bewahrt und ein ausreichender Zugang der Reaktanten zur Oberfläche gewährleistet. Die Kinetik- und Reaktormodellierung ermöglicht die Untersuchung der Katalysatorfunktionen auf der Nanoskala und offenbart deren Auswirkungen auf den gesamten Reaktor.
Vom Moleküldesign zum digitalen Zwilling
Für heterogen-katalytische Systeme gibt es viele digitale Werkzeuge, die sich stetig weiterentwickeln.37–41) Die Arbeit mit mathematischen Modellen ist seit Beginn der technischen Chemie ein wesentlicher Stützpfeiler – von der (theoretischen) Chemie bis zur Systemverfahrenstechnik. Andrew McCammon, ein Pionier der Computerchemie, berichtete im Jahr 1987 über Moleküldesign und die damit verbundenen Möglichkeiten der digitalen Werkzeuge in der Chemie.42)
Heute werden Moleküle für Reaktionen und Extraktionsprozesse computergestützt evaluiert und hinsichtlich wichtiger Eigenschaften digital ausgewählt. Beispielsweise lassen sich Polymere mit bestimmten Löslichkeitseigenschaften digital entwickeln.43) Die Lösungsmittelevaluation ist vollkommen digital möglich, auch für Lösungsmittel, für die keine experimentellen Daten vorliegen. Diese Techniken arbeiten mit quantenchemischen Korrelationen Struktur-Eigenschaftsbeziehungen heraus, bei der sich die Zielfunktion auf den jeweiligen Anwendungsfall anpassen lässt.44–47)
Voraussetzung für diese Techniken sind zugängliche Datensätze, im Beispiel etwa 8000 verschiedene chemische Verbindungen. Die Umfänge verschiedener Datenbanken können mehrere Größenordnungen auseinanderliegen. Um beispielsweise strategisch wichtige Moleküle in einer zirkulär ausgerichteten Chemieindustrie zu identifizieren, untersuchten Weber et al. 105 Millionen chemische Verbindungen in 42 Millionen chemischen Reaktionen, die über Datenbanken zugänglich sind.48)
Grundsätzlich sind diese Methoden bereits umfangreich einsetzbar, leiden aber noch unter Unzulänglichkeiten der verwendeten Daten, etwa beim Thema nachhaltige Chemie49) oder in der Elektrochemie beim speziellen Fall der Oxygen Evolution Reaction (OER).50) Am letztgenannten Beispiel wird zudem klar, dass es ein Bestreben gibt, im Sinn von Open Science Datensätze zu vernetzen und in kollaborativen Datenbanken zusammenzuarbeiten.
In der Reaktionstechnik gibt es Forschungsbedarf, wenn es um die Nutzung moderner digitaler Techniken geht.51,52) Modelle auf Basis neuronaler Netze erleben eine Renaissance,53,37) nachdem sie bereits in den 1990er Jahren zur Simulation eingesetzt wurden.54) Zurzeit wird in der Reaktionstechnik an der Nutzung neuronaler Netze gearbeitet, um kinetische Modelle zu beschreiben.55–58) Hierbei lassen sich einfache neuronale Netze verwenden, die speziell mathematisch angepasst sind. So passen sie besser zur Anwendung (etwa chemical reaction neural networks, crNNs) oder nutzen sogar physikalische Zusammenhänge direkt zur Anpassung (physics-informed neural networks, Pinns).59,60)
Bei datenbankrelevanten experimentellen Untersuchungen geht der Trend in Richtung eines vollvernetzten, digitalen Zwillings (digital twin), der es etwa ermöglicht, Versuchsroboter in Großbritannien und Singapur in Echtzeit beim Datengenerieren zu verknüpfen.61) Wenn diese digitalen Zwillinge die physikalischen Effekte korrekt erfassen, lässt sich ein ganzheitliches physikalisches Bild eines chemischen Prozesses erzeugen.62)
Bei allem Zukunftslärm, der aktuell in der technischen Chemie herrscht, wissen die meisten, die zur Entwicklung der chemischen Technologie beitragen, dass Daten und das dazugehörige Datenmanagement die beste Grundlage für die Entwicklung zukunftsfähiger Ideen sind (nach den Prinzipien auffindbar (findable), zugänglich (accessible), interoperabel (interoperable), wiederverwendbar (reusable), fair).
Drei Fragen an den Autor: Jens Friedland
Welcher Trend ist in den letzten zwölf Monaten aufgekommen, den Sie so nicht erwartet haben?
In der Katalyse eifern überraschend viele Alwin Mittasch nach. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, müsste in Kürze eine intensive Arbeit an Carbonyleisen einsetzen – wir werden sehen.
Welche Anregung hat Ihnen das Sichten der Trendbericht-Literatur für Ihre eigene Forschung geliefert?
Auch alte Veröffentlichungen enthalten Ideen, die hochaktuell sind. Unser Vorteil: Wir haben heute andere Mittel, diese visionären Impulse mit wissenschaftlichen Ergebnissen auszubauen.
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Mehrphasenreaktionen: dynamische Katalysatoroberflächen, Methanisierung – im Polymerreaktor auf dem Mars, Gas-Flüssig-Systeme mit Membranen.
Jens Friedland ist Sprecher des Nawuret, der Nachwuchsgruppe der Fachsektion Chemische Reaktionstechnik der Dechema. Im Jahr 2017 folgte er seinem Doktorvater Robert Güttel an das neu gegründete Institut für Chemieingenieurwesen der Universität Ulm. Zuvor studierte an der Technischen Universität Clausthal.
Drei Fragen an die Autorin: Lena-Marie Ränger
Was sind derzeit Ihre Hauptforschungsprojekte?
Experimentelle Untersuchungen an der weltweit ersten Trennwandkolonne mit zwei Trennwänden. Laut Theorie kann sie 50 % Energie im Vergleich zu einer Kolonnensequenz einsparen, wir arbeiten daran, das experimentell zu validieren.
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Effizientere Destillation geht mit Komplexitätserhöhung einher. Ich generiere tieferes Verständnis und senke somit die Hürde zur Umsetzung.
Welche Erkenntnis des vergangenen Jahrs war für Ihre Forschung besonders wichtig? Auch wenn der ursprüngliche Ansatz nicht funktioniert, gibt es immer einen anderen Weg, um doch zum Ziel zu kommen.
Lena-Marie Ränger ist Sprecherin der Young Fluid Seps, der Nachwuchsgruppe der Fachsektion Fluidverfahrenstechnik der Dechema. Im Juli 2024 wechselte sie von der Universität Ulm in die Industrie. Vor ihrem Postdoc-Aufenthalt an der NTNU Trondheim (Norwegen) studierte sie an der TU Hamburg und promovierte an der Universität Ulm bei Thomas Grützner.
Drei Fragen an den Autor: Jens Bremer
Welche Erkenntnis des vergangenen Jahres war für Ihre Forschung besonders wichtig?
In vielen Technologien, die wir schon seit Jahrzehnten als „ausgeforscht“ betrachten, steckt Entwicklungspotenzial. Dies liegt zum einen an den Fortschritten im Bereich der Materialien, Analytik und Digitalisierung, zum anderen an den sich immer schneller ändernden Anforderungen. Technologische Lösungen, die früher unwirtschaftlich waren, können heute zur Schlüsseltechnologie werden.
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Prozesse zur chemischen Speicherung für erneuerbare Energie: Ich forsche an Weiterentwicklung und Optimierung und fokussiere auf Reaktorkonzepte.
Was sind derzeit Ihre Hauptforschungsprojekte?
Ich forsche an neuen Technologien zur optimalen Nutzung erneuerbarer Energien durch Power-to-X-Verfahren, wie Elektrolyse zur Stromspeicherung und katalytische Umwandlung von grünem Wasserstoff.
Jens Bremer ist seit 2022 Tenure-Track-Professor für Chemische Energiespeicherung am Institut für Chemische und Elektrochemische Verfahrenstechnik der Technischen Universität Clausthal. Zuvor studierte er an der TU Berlin und promovierte am Max-Planck-Institut Magdeburg bei Kai Sundmacher.
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