Gesellschaft Deutscher Chemiker

Trendbericht

Chemiedidaktik 2021

Nachrichten aus der Chemie, Dezember 2021, S. 8-17, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Nachhaltigkeit und Photochemie liegen im Trend der experimentell-konzeptionellen Forschung in der Didaktik. Die Digitalisierung bleibt im Fokus – Forscher:innen haben digitale Methoden, Werkzeuge und Lehr-Lern-Konzepte für den Unterricht und die Hochschullehre vorgestellt und empirisch untersucht. Förderungsmöglichkeiten für beide Bereiche bieten Verbundprojekte oder der Mint-Aktionsplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Für den Transfer der Ergebnisse in die Praxis sind Fortbildungszentren zentral.

Erkenntnisse der Fachwissenschaft, Veränderungen der Lernvoraussetzungen sowie gesellschaftliche und politische Entwicklungen, darunter Klimawandel, Nachhaltigkeit, Mobilität und Digitalisierung, erfordern, dass sich die Lehre in der Chemie kontinuierlich erneuert und thematisch aktualisiert. Diesen Prozess unterstützt und begleitet die chemiedidaktische Forschung wissenschaftlich. Dafür ist der Austausch mit der Fachwissenschaft und mit Lehrenden und Lernenden entscheidend;1) dieser Trendbericht möchte einen Baustein dazu liefern.

Der Aufbau dieses Berichts orientiert sich an der chemiedidaktischen Forschung: Die experimentell-konzeptionelle Ausrichtung macht fachwissenschaftliche Entwicklungen für Lehrende und Lernende zugänglich und entwickelt Materialien, Methoden und Experimente für die Lehre. Dies wird ergänzt durch das zweite Standbein chemiedidaktischer Forschung, die empirische Untersuchung von Lern- und Lehrprozessen.

Schwerpunkt des Trendberichts ist die nationale Forschung, erweitert um internationale Trends.2) Der Bericht schaut auch auf die unterschiedlichen Orte der Realisierung und die verschiedenen Adressat:innen chemiedidaktischer Forschung: Schüler:innen, Lehrkräfte, Lehrende an Hochschulen, Lehramtsstudierende oder Aktive an außerschulischen Lernorten.

Experimentell-konzeptionelle Forschung

Für eine Übersicht über die Forschungsergebnisse in der experimentell-konzeptionellen Chemiedidaktik wurden Artikel der deutschsprachigen Fachzeitschriften Chemie Konkret (CHEMKON), Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, Chemie in unserer Zeit und Journal des Verbands zur Förderung des MINT-Unterrichts (MNU) betrachtet. Zudem wurden mit dem Journal of Chemical Education und dem World Journal of Chemical Education zwei englischsprachige Zeitschriften einbezogen, um internationale Forschungstrends zu erfassen und mit den nationalen in Beziehung zu setzen.

Erfasst wurden 199 Artikel, die von September 2020 bis einschließlich August 2021 erschienen. Ihre Inhalte wurden nach fachinhaltlichem und methodisch-didaktischem Fokus, Experimenten, Innovationscharakter sowie Schulstufe kategorisiert (Abbildung 1). Das System von Philipp Engelmann3) wurde weiter differenziert, und zwar um die Unterkategorien „Nanotechnologie“ und „Photochemie“.

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Schwerpunkte der didaktischen Literatur aus der experimentell-konzeptionellen Richtung. Statistische Auswertung der Inhaltsanalyse nach Mayring (Informationen zum Vorgehen können bei den Autoren angefragt oder unter nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-395173 nachgelesen werden).3) *Ausgewertet wurden Chemkon, Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, Journal des Verbands zur Förderung des Mint-Unterrichts (MNU), Journal of Chemical Education und dem World Journal of Chemical Education.

Von den Artikeln ließen sich 87 Prozent mindestens einem fachinhaltlichen Fokus zuordnen. Die häufigsten Schwerpunkte waren Nachhaltigkeit (18 %), Elektrochemie (9 %), Photochemie (9 %) sowie Nanotechnologie (7 %). 40 Artikel (20 %) waren fächerübergreifend.

Im betrachteten Zeitraum lag zudem die (Low-cost-)Messwerterfassung im Trend. Insgesamt enthalten etwa 74 Prozent aller untersuchten Artikel Experimente, mehr als die Hälfte sind Neuentwicklungen, häufig zu aktuellen Themen- und Forschungsfeldern. Diese curricularen Innovationen, also neue Inhalte für den Unterricht, waren jedoch im untersuchten Zeitraum insgesamt weniger vertreten als neue Methoden oder Unterrichtskonzepte (konzeptionelle Innovationen).

Auf methodisch-didaktischer Ebene bleibt die Digitalisierung ein Schwerpunkt (10 %), Modelle (10 %) und Nature of Science (9 %) sind ebenfalls Themen vieler Publikationen.

Die untersuchten Artikel aus internationalen Journalen haben im Vergleich zum letzten Jahr einige Schwerpunkte verschoben. So haben nun insgesamt mehr Artikel die Hochschule (48 %) im Blick und dort insbesondere Laborpraktika. Fachinhalte der organischen (25 %) und physikalischen Chemie (20 %) sind international ebenfalls stärker vertreten als in Deutschland, was durchaus zusammenhängen mag.

Messwerterfassung, Elektro-, Nano- und nachhaltige Chemie

Elektrochemie ist mit einer Vielfalt an experimentellen Forschungsrichtungen noch immer im Trend. So erschienen Beiträge über eine Microscale-Experimentereihe für Schulversuche4) (Abbildung 2), über spektroelektrochemische Messwerttechnik für die Hochschullehre5) oder über nachhaltige Energiekonzepte mit Redox-Flow-Batterien.6)

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Experimente auf der Mikroskala, Beispiele für ein Lab in a Drop von Matussek.4) Links: Zinkhalbzelle und Silberhalbzelle; rechts: mit Wasserstoff gesättigte Normalwasserstoffelektrode.

Insbesondere in englischsprachigen Fachzeitschriften ist häufig eine interdisziplinäre Verbindung zur Nanotechnologie zu finden.7–9) Beispielsweise befasst sich eine Arbeit mit Elektronik auf Basis einer Silber-Nanopaste für Modellautobahnspuren.9)

Auch im Schülerlabor haben nanotechnologische Inhalte und Experimente einen Platz11) und bereichern den naturwissenschaftlichen Unterricht.

Für die Messwerterfassung entwickeln mehrere Hochschulen preisgünstige analytische Möglichkeiten für Schulen und Schülerlabore. Beispiele sind ein Ansatz für die Kalorimetrie (Abbildung 3),12) ein Polarimeter13) sowie – im Licht der Pandemie – ein CO2-Sensor für eine Selbstbau-CO2-Ampel14).

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Beispiel für Messwerterfassung in Schule und Schülerlabor: Versuchsaufbau von Wagner zur Bestimmung der spezifischen Wärmekapazität von Wasser.12)

Im Vordergrund stand die Photometrie. Dafür wurden neue Low-cost-Geräte entwickelt,15) unterrichtspraktische Anwendungen mit Alltagsmaterialien wie Badeperlen16) oder Fruchtsaft17) beschrieben sowie Empfehlungen, wie die Messungen gelingen.18) Zudem wurden günstige Spektrometer vorgestellt (die Kosten liegen um die 200 Euro).19,20)

In den englischsprachigen Beiträgen des letzten Jahres begegnet die Chemie häufig der Biologie. So beschäftigt sich eine Forschungsgruppe mit einem Low-cost-Experiment, das UV-induzierte DNA-Schäden nachweist.21)

Die Forschung zu Green Chemistry oder nachhaltiger Chemie läuft mit Blick auf die Chemiedidaktik für den Schulunterricht auch im deutschsprachigen Raum immer stärker interdisziplinär. Für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) haben Wissenschaftler:innnen ein fächerübergreifendes Konzept zum Thema Palmöl vorgestellt.22) Weitere Beispiele für Themen mit BNE-Bezug sind Stickstoffproblematik23) oder Photochemie.24) Photochemie findet sich auch in internationalen Arbeiten zur Nutzung regenerativer Energiequellen, etwa zur photoinduzierten Synthese eines Fluorophors ohne Photoredoxkatalysator25) oder zur Herstellung und Nutzung organischer Solarzellen im Lernlabor26). Ein Themenheft der Naturwissenschaften im Unterricht – Chemie stellte Schülerprojekte zu Nachhaltigkeit vor.27)

Methodisch-Didaktisches: Experimente und Modelle

Fast die Hälfte der erfassten fachdidaktischen Beiträge enthalten einen experimentellen Teil oder stellen zumindest einen Bezug zu einem Experiment her. Die Sorge, dass Experimentalunterricht zugunsten der Digitalisierung zurückgedrängt wird, erscheint angesichts der Menge an Forschungsarbeiten zu Schulexperimenten unbegründet. In etwas über einem Drittel der Beiträge betrachten die Autor:innen das Experiment unmittelbar methodisch-didaktisch: Beispiele für die Bandbreite sind curriculare Innovationen für den Chemieunterricht zu Energie wie mikrobielle Brennstoffzellen,28) ein Schulversuch zum Temperaturverlauf und Unterscheidung von Aktivierungs- und Reaktionsenergie anhand von Streichholzköpfen,29) Beiträge mit Bezug zu Lebensmitteln wie Olivenöl30) und Obstsalat31) bis hin zu einem historischen Blick auf Klebstoffe.32)

Weitere Arbeiten über Experimente gibt es zur Umweltchemie, darunter qualitative und quantitative Bewertung von Biodiesel aus Mikroalgen,33) Dekontamination von Wasser mit Aktivkohle,34) chemisch modifiziertes Holz als Baumaterial,35) Altspeiseöl als Biokraftstoff36) oder Synthese eines Kraftstoffs aus Pflanzenabfällen37). Zu einer Low-Cost-Destillationsapparatur wurde eine optimierte Version publiziert.38)

Zu den Modellexperimenten, die im vergangenen Jahr erschienen sind, gehören Herstellung und Einsatz von Öl-Adsorptionsschwämmen aus Graphen, die modellieren, wie sich großflächige Ölverschmutzungen beseitigen lassen (Abbildungen 4).39) Experimente mit Alginatbällchen veranschaulichen beispielsweise chemische Prozesse eines Bakteriums im Magensaft40) oder das Prinzip von Antioxidantien.41) β-Eliminierung nach dem E2-Mechanismus an Halogenalkanen lässt sich über Modellversuche erlernen.42) Und auch wie die Aktivierungsenergie eines Demulgierungsprozesses bestimmt wird, beschreibt nun ein Laborexperiment.43)

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Modellversuch von Schedy und Oetken: Adsorption von Olivenöl mit einem Graphen-Melamin-Schwamm.40)

Digitalisierung und Inklusion

Digitalisierung ist mittlerweile ein selbstverständliches und dauerhaftes Forschungsfeld der Chemiedidaktik. Abgesehen von der digitalen Messwerterfassung sollen digitale Materialien als Hilfsmittel dienen, die alternative Lernwege und -settings für den Chemieunterricht öffnen und umsetzen. Auch in den letzten zwölf Monaten gab es dazu zahlreiche Beiträge, wenn auch nicht so viele wie im Jahr zuvor.

Beispielsweise wurde für Schüler:innen als Vorbereitung auf ein selbstbewussteres praktisches Arbeiten im Chemieraum eine umfangreiche und frei zugängliche interaktive Sicherheitsbelehrung entwickelt.44)

Eine andere Arbeit beschäftigt sich mit videogestützten experimentellen Hausaufgaben. Dabei ging es um Experimentieren im Chemie-Fernunterricht; beschrieben ist die kalorimetrische Untersuchung von Fruchtsaftschorlen.17)

Hinzu kommen Augmented Reality45) oder spielerische Virtual-Reality-Umgebungen, die Lernende unterstützen sollen, die molekulare Ebene von Phänomenen besser zu verstehen. Mit ihnen lassen sich auch aktuelle Themen wie das Coronavirus chemisch betrachten.46)

Eine weitere Möglichkeit, naturwissenschaftliche Inhalte im Unterricht über Spiele zu vermitteln (Gamification), sind Escape Rooms.47–50) Auch in der chemiedidaktischen Forschung scheinen sie angekommen zu sein, so gibt es ein Themenheft der Naturwissenschaften im Unterricht Chemie dazu.51)

Digitalisierte Lernumgebungen wurden auch dazu genutzt, inklusiven Chemieunterricht zu gestalten. Ein Beitrag stellt ein Konzept zum Thema Feuer und Flamme vor, das Realexperimente, ein interaktives Lehrbuch und ein papierbasiertes Forscherheft kombiniert.52) Ein Ziel ist, das selbstregulierte Lernen der Schüler:innen zu unterstützen Ein weiterer Artikel thematisiert Schulexperimente im inklusiven Chemieunterricht.53) Darüber hinaus erschien zur inklusiven Lehre eine Arbeit über ein 3-D-Prozessmodell, das den SN2-Mechanismus aus der organischen Chemie dynamisch darstellt.54)

Förderlinien und Kooperationen

In den letzten Jahren haben chemiedidaktische Forschungsgruppen verstärkt in strukturierten Forschungsverbünden mitgewirkt. Neben den laufenden Projekten in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung richten sich neu geförderte chemiedidaktische Teilprojekte in Sonderforschungsbereichen an Schulen, Schülerlabore und die Öffentlichkeit. Aktuelle Forschungsfelder sind hier etwa nachhaltige Energieversorgung,55) künstliche Photosynthese,56) Nanomedizin57) oder Kompositmaterialien für die biomagnetische Diagnose.58) Zudem erschließen Graduiertenkollegs photophysikalische Prozesse für Schule und Hochschule.59)

Über die strukturierten Programme hinaus fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) kaum Einzelprojekte in der experimentell-konzeptionellen Chemiedidaktik. Das liegt möglicherweise zum Teil daran, dass die DFG die Chemiedidaktik nicht direkt in ihrer Fachsystematik auflistet. Diese Lücke füllen Geldgeber wie der Fonds der Chemischen Industrie (FCI), die Robert-Bosch- oder die Telekom-Stiftung. Sie finanzieren Stipendien, fördern Projekte aus der konzeptionellen wie aus der empirischen Forschung, geben Mittel für Hochschullehre, Lehrerfortbildungen sowie Schulen.

Empirische Lehr-Lern-Forschung

Eines der zentralen Ziele chemiedidaktischer Forschung ist es, Lehr- und Lernprozesse evidenzbasiert zu untersuchen. Dafür eignen sich vor allem empirische Methoden. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, die Chemielehre in Schule, Hochschule und darüber hinaus zu verbessern und so zum Verständnis der Chemie, ihrer Arbeits- und Denkweisen beizutragen.

Methodik und Überblick

Um Trends in der empirischen Forschung zu identifizieren, wurden alle Artikel in der Zeitschrift Journal of Chemical Education mit dem Schlagwort Chemistry Education Research (CER) und alle Artikel in der Zeitschrift Chemistry Education Research and Practice von September 2020 bis August 2021 nach Zielgruppe, Fachgebiet und Forschungsschwerpunkt kategorisiert und ausgewertet. Zusätzlich wurden einige wenige Artikel aufgenommen, die nicht diesen Kriterien entsprechen, aber einen wichtigen Beitrag zur chemiedidaktischen Forschung leisten.

Die Rahmenbedingungen, also die individuellen und systematischen Voraussetzungen für das Lehren und Lernen von Chemie, sind nur bedingt zwischen anderen Ländern und Deutschland vergleichbar. Deshalb sind für die empirische Untersuchung des Bildungssektors nationale Forschungsergebnisse zentral.

Für einen Überblick über die deutschsprachige empirische Forschung in der Chemiedidaktik wurden Beiträge mit Chemiebezug aus dem Tagungsband der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik (GDCP) sowie aus der Zeitschrift für Didaktiken der Naturwissenschaften und der Unterrichtswissenschaft ebenfalls nach den genannten Kriterien analysiert (Abbildung 5).

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Fachgebiete und Forschungsschwerpunkte; oben: in begutachteten Artikeln (Peer review) internationaler Chemiedidaktik-Zeitschriften (Chemical-Education-Research-Artikel im J. Chem. Educ., Chem. Educ. Res. Pract.); unten: in Artikeln aus deutschen Journalen (Tagungsband der GDCP-Jahrestagung 2020, Zeitschrift für die Didaktik der Naturwissenschaften, Unterrichtswissenschaft). Sek.: Sekundarstufe, AC: anorganische Chemie, OC: organische Chemie, PC: physikalische Chemie. *Die Prozentangaben sind relativ zu den aufgenommenen Artikeln, Abweichungen von 100% durch Mehrfachzuweisungen.

Die hochschuldidaktische Forschung nimmt international einen größeren Stellenwert ein als in Deutschland. Einige klassische chemische Inhaltsbereiche wie die biologische oder die theoretische Chemie scheinen national wie international eine untergeordnete Rolle in der fachdidaktischen Forschung zu spielen; im deutschsprachigen Raum trifft dies auch auf die physikalische Chemie zu.

Der Einsatz digitaler Medien wurde im vergangenen Jahr vor allem in Deutschland intensiv untersucht. Außerschulische Lernorten sind weiterhin ein Schwerpunkt in Deutschland. Untersuchungen zu Unterrichtsmethoden oder zu den Vorstellungen Lernender sind dagegen verglichen mit der internationalen Forschung in der Stichprobe unterrepräsentiert.

Wie sich Lernende Chemie vorstellen

Wenn Wissen und Denkweisen der Lernenden bekannt sind, lassen sie sich als Ausgangspunkt für die Lehre in der Chemie nutzen. So wurden im letzten Jahr unter anderem Lernendenvorstellungen zu grundlegenden chemischen Konzepten wie der molaren Konzentration60) oder dem chemischen Gleichgewicht61) untersucht.

Wie sich am Beispiel von Säure-Base-Konzepten gezeigt hat, bleiben insbesondere solche Vorstellungen von der Grundschule bis ins Erwachsenenalter konstant, die Lernende bei der ersten Auseinandersetzung mit der Thematik erwerben. Diese Vorstellungen sind oft nur schwer veränderbar.62)

Auch bei sehr gängigen Modellen wie Reaktionskoordinatendiagrammen (RCD) zeigte eine Längsschnittstudie Fehlvorstellungen selbst bei fortgeschrittenen Chemiestudierenden.63) Besonders häufig können Studierende Intermediate und Übergangszustände nicht unterscheiden und interpretieren die Reaktionskoordinate fälschlicherweise als Zeitachse (Abbildung 6).64)

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Vorstellungen und Fehlvorstellungen bei Studierenden: Elemente eines Reaktionskoordinatendiagramms (RCD, innerer Kreis) und ihre Bedeutung (äußerer Kreis). Der mittlere, weiße Kreis zeigt, wie Studierende diese Elemente in ihrer Argumentation zu Reaktionsmechanismen verwenden.64) Copyright 2021 Royal Society of Chemistry

Eine wichtige Fähigkeit von Lehrenden ist, die Vorstellungen Lernender zu erkennen, da diese Lehre an Schule und Hochschule direkt beeinflussen sollten. Forschungsergebnisse deuten nun darauf hin, dass diese Diagnosefähigkeit bei angehenden Chemielehrkräften im Laufe des Studiums nur teilweise zunimmt.65) Voraussetzung dafür, dass Lehramtsstudierende diese Kompetenz erwerben, ist, dass sie die Vorstellungen der Lernenden nicht in erster Linie als Defizite wahrnehmen, sondern konstruktiv als Potenzial.

Lernerfolg

Lernende müssen Wissen aktiv mit Vorwissen verknüpfen – dies ist ein zentrales Ergebnis der Lernforschung der letzten Jahrzehnte.2) Dadurch ist der Aufbau von Kompetenzen und Wissen über Konzepte in den Mittelpunkt der Lernforschung gerückt.66) Chemielernen sollte demnach keine reines Faktenlernen sein. Stattdessen sollte es dazu führen, dass Schüler:innen die grundlegenden chemischen Konzepte verstehen.67) Auf der Grundlage dieser Ergebnisse formulierte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2004 zentrale inhaltliche Lernziele für den mittleren Bildungsabschluss als Basiskonzepte,68) die sich seitdem in den Lehrplänen etabliert haben.

Im Jahr 2020 wurden nun auch folgende Basiskonzepte für die Hochschulreife verabschiedet:

Aufbau und Eigenschaften der Stoffe und ihrer Teilchen,

chemische Reaktion und

Energie.69)

In einer Längsschnittstudie wurde nun für Schleswig-Holstein untersucht, inwiefern der Chemieunterricht tatsächlich zum Verständnis dieser Konzepte führt: Über die Schuljahre 9 bis 12 nimmt das Verständnis der Basiskonzepte kaum zu. Auffällig ist vor allem, dass die verschiedenen Konzepte für die Schüler:innen wenig vernetzt erscheinen. Insbesondere das Konzept Energie spielt demnach für die Lernenden eine untergeordnete Rolle.70) Gerade diese Ergebnisse zeigen, dass eine empirische, detaillierte und bundeslandübergreifende Untersuchung von Lernprozessen in der Schule dringend nötig ist.

Es gibt nur sehr wenige empirisch und methodisch stringente Untersuchungen des Lernerfolgs in der Schule. Eine mögliche Ursache sind beispielsweise organisatorische Hürden wie aufwendige Genehmigungsverfahren für empirische Forschungen mit Schüler:innen. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, die politischen Rahmenbedingungen für empirische Forschungsvorhaben in der Schule in einigen Bundesländern zu vereinfachen.

Lernerfolg in der Hochschule

In der Hochschuldidaktik finden sich Forschungsarbeiten zum Lernerfolg von Studierenden, zum Beispiel bei naturwissenschaftlichen Argumentationsweisen71) oder im mechanistischen Denken in der organischen Chemie72). Dafür wurde Eye-Tracking genutzt, also die Blickbewegung von Lernenden analysiert. Rodemer und Kolleg:innen untersuchten so das Problemlöseverhalten von Studierenden bei Vergleichsaufgaben vom Typ „Welche Reaktion läuft schneller ab?“ (Abbildung 7). In der Analyse der Eye-Tracking-Daten setzten sie dabei die Fixierungsdauer auf einzelne Objekte der Aufgabe ins Verhältnis zu den Fokuswechseln zwischen den Objekten. Wie sich dadurch ergab, zeigen fortgeschrittene Studierende ein eher vergleichendes Blickverhalten und lösten dadurch die Aufgaben schneller.73)

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Wie lange schauen Anfänger und Fortgeschrittene unter Studierenden auf die verschiedenen Elemente von Reaktionsmechanismen? Eye-Tracking-Daten einer Beispielaufgabe des Typs „Welche Reaktion läuft schneller ab?“. Relative Fixierungsdauern (in Prozent der Gesamtdauer) auf die umrahmten Bereiche (AOI: Areas of interest).73) Copyright 2020 American Chemical Society

Besonders zu Beginn von organisch-chemischen Vorlesungen lässt sich demnach der Lernprozess unterstützen, indem die Einflussfaktoren auf unterschiedliche chemische Reaktionen an Beispielen identifiziert und besprochen werden. Eine solche explizitere Diskussion von Strategien fördert zudem den Lernprozess, wie sich etwa bei Einführungsveranstaltungen in allgemeiner Chemie gezeigt hat.74)

Vor 100 Jahren erschien der erste Artikel, für den Wissenschaftler Faktoren des Lernerfolgs in Chemie empirisch untersucht hatten.75) Auch heute noch wird der Einfluss sowohl kognitiver76) als auch affektiver Faktoren wie Motivation77) untersucht. Aktuelle Forschungsprojekte haben untersucht, warum Studierende in Deutschland ihr Studium abbrechen. Das Risiko, das Studium abzubrechen, ist bei Bildungsaufsteigern größer als bei Akademikerkindern78) und hängt mit dem geringeren naturwissenschaftlichen Vorwissen von Kindern aus Nichtakademikerhaushalten zusammen.79) Brücken- und Vorkurse, wie sie einige Hochschulstandorte bereits anbieten, könnten die Lernvoraussetzungen der Studierenden annähern.

Lehr- und Unterrichtsmethoden

Wie in den letzten Jahren wurden Flipped-Classroom-Methoden intensiv erforscht.80) Studierende, die mit diesen Methoden unterrichtet wurden, zeigten in einem Teil der Studien bessere Leistungen während des Semesters. Die Leistungen in Semesterabschlussprüfungen wichen aber kaum von Studierenden aus traditionellen Kursen ab. Der Erfolg solcher Methoden scheint unter anderem davon abzuhängen, ob die Lernenden extrinsisch für die Vor- und Nachbereitung motiviert werden, etwa durch verpflichtende Quizze, und ob es auch im Präsenzteil kurze Vorträge mit Möglichkeiten zur Rückfrage gibt.

Daneben stehen problem- und schülerzentrierte Unterrichtsmethoden im Mittelpunkt empirischer Wirksamkeitsuntersuchungen. Aus Amerika fällt dabei die Häufung der Untersuchungen zu Process Oriented Guided Inquiry Learning (Pogil) auf.81) Dabei durchlaufen die Lernenden selbstständig einen Lernkreis, in dem sie zunächst Daten analysieren (exploration), darauf aufbauend ein Konzept ableiten (concept invention) und anschließend das Wissen auf andere Zusammenhänge anwenden (application).67)

Um beispielsweise die Energiebeteiligung in chemischen Bindungen einzuführen, wurde folgendes Pogil-Konzept angewendet: Mit einer interaktiven Animation konnten Studierende die Energie verschiedener Systeme abhängig von den Atomabständen nachvollziehen. Auf Basis dieser Beobachtungen sollten sie dann selbstständig das Konzept von chemischen Bindungen als Energieminima ableiten. Im Vergleich zu klassischen Lehrmethoden verstanden dadurch mehr als doppelt so viele Studierende, wie das Energiekonzept und chemische Bindungen zusammenhängen.82)

Lehrerprofessionsforschung

Neben dem Zusammenspiel von fachlichem und pädagogischem Wissen einer Lehrperson83) wird in letzter Zeit vermehrt der Einfluss des technischen Wissens untersucht – etwa die Fähigkeit, (digitale) Medien gezielt einzusetzen. Hierfür haben zwei Universitäten in Deutschland ein Seminar zu Lehrmethoden und -technologien in das fachdidaktische Lehramtsstudium eingeführt. Während das technologische Wissen von Chemie-Lehramtsstudierenden im Masterstudium dadurch zunahm, waren bei Studierenden im Bachelorstudium nur kleinere Effekte messbar.84) Seminare zu Technologien und Medien sind demnach besonders sinnvoll, wenn ein breites fachliches und pädagogisches Wissen vorhanden ist.

Digitale Medien

Wenig überraschend stehen digitale Medien weiterhin im Fokus empirischer Forschung; national sind es mehr als ein Drittel der Forschungsvorhaben. Ein Schwerpunkt waren dabei Untersuchungen der Umstellung auf Online-Lehre.85)

Eine Vergleichsstudie des Lernzuwachses zum Thema Stofftrennung in der Sekundarstufe 1 zeigte im Allgemeinen keine signifikanten Unterschiede zwischen digitalen und analogen Lernumgebungen. Für kognitiv schwächere Schüler:innen deutet sich allerdings ein positiver Einfluss der digitalen Lernumgebung an.86)

Wie das Beispiel einer Online-Videobibliothek für das OC-Praktikum zeigte, hängt das Nutzungsverhalten digitaler Medien stark von Eigenschaften der Studierenden wie Geschlecht, Studiengang und Fähigkeitsselbstkonzept ab.87) Digitale Medien scheinen dabei besonders dann zu wirken, wenn sie die kognitive Belastung der Studierenden senken. Dies deutet sich beispielsweise für Augmented-Reality-Elementen beim Erlernen der organischen Chemie an88) oder bei virtuellen Laboren89).

Außerschulische Lernorte

Eine deutsche Besonderheit sind Schülerlabore, für deren Wirksamkeit einige Faktoren untersucht wurden. Authentische Lernorte mit echten Laborgeräten fördern das Interesse und führen dazu, dass Schüler:innen den Laborbesuch als relevant wahrnehmen.90) Die Vor- und Nachbereitung von Schülerlaborbesuchen kann das Lernen im Schülerlabor unterstützen.91) Besonders gewinnbringend ist es, Schülerlabore mit der Lehrpersonenbildung zu verknüpfen und dort Lehramtsstudierende einzusetzen.92)

Ausblick

Aktuell zeichnen sich ernüchternde wie ermutigende Veränderungen beim Vermitteln von Chemiewissen in Deutschland ab. Grundsätzlich sollten Forschungsergebnisse der experimentell-konzeptionellen Chemiedidaktik genauso wie empirische Erkenntnisse zu Lehr-Lernprozessen so schnell wie möglich ihren Weg in Unterrichtspraxis und Lehre finden. Fortbildungen, unter anderem in Lehrerfortbildungszentren der GDCh, funktionieren hier als Brücken. Durch diese einzigartige Direktverbindung zwischen den Chemiedidaktiken an den Hochschulen und den Schulen können sich innovative experimentelle Unterrichtskonzepte schnell verbreiten.

So wurden gerade neue Impulse für den erfolgreichen Distanzunterricht entwickelt und verbreitet93,94) oder Corona-spezifische Angebote95) erstellt. In kurzer Zeit wurden zudem an mehreren Zentren digitale und hybride Formate entwickelt.96–98)

Rein digitale Angebote können jedoch auf Dauer nur eine unterstützende Funktion einnehmen und Fortbildungen in Präsenz mit Hands-on-Experimentalangeboten und persönlichem Austausch nicht ersetzen.

Ernüchternd ist in diesem Zusammenhang die deutliche Kürzung der Fördermittel für die GDCh-Lehrerfortbildungszentren.99) Die bereits angelaufene Wiederaufnahme des Fortbildungsangebots in Präsenz ist entscheidend für einen zeitgemäßen und experimentell ausgerichteten Chemieunterricht und unbedingt unterstützenswert.

Ermutigend ist der laufende Mint-Aktionsplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Dieser Plan soll Fördermaßnahmen und neue Initiativen zur Stärkung der Mint-Bildung bündeln, die auch der Chemie zugutekommen. So gingen bis Anfang des Jahres 2021 als zentrale Maßnahme des Aktionsplans 22 regionale Mint-Cluster deutschlandweit an den Start. Ab April 2022 erhalten weitere zirka 20 Mint-Cluster Mittel, damit beträgt die Cluster-Fördersumme bis zu 32 Millionen Euro.

Die Förderrichtlinie „Von M.I.N.T. zu Mint: Förderung der Mint-Forschung“ richtet sich an Projekte, die erforschen, unter welchen konzeptionellen und empirischen Bedingungen naturwissenschaftliche Bildung gelingt. Eine Mint-Kommunikationsoffensive vervollständigt hierbei die Initiative des BMBF.100)

Benjamin Pölloth und Stefan Schwarzer danken Theresa Ott, die sie bei der Sichtung der Literatur unterstützt hat.

Drei Fragen an die Autorin: Yasemin Gökkuş

Welcher Trend ist in den letzten zwölf Monaten aufgekommen, den Sie so nicht erwartet haben?

Es wurden weniger Beiträge zur Digitalisierung publiziert, dafür fällt ein neuer Trend auf: inklusiver Chemieunterricht. Weiterhin gibt es kaum Beiträge zu Lehrerbildung und -fortbildung.

Auf welchem Gebiet erwarten Sie in den nächsten zwölf Monaten die größten Entwicklungen und warum?

Sicher bei Digitalisierung und inklusivem Unterricht. Fachinhaltlich gesehen wird es vermutlich mehr Arbeiten zu interdisziplinären Themen geben, etwa zu erneuerbarer Energie und Green and Sustainable Chemistry. Hintergrund sind Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie der Klimawandel.

Eignet sich eines der neuen Konzepte für Ihren eigenen Unterricht?

Um aktives Lernen zu fördern, interessieren mich für meinen Unterricht aktuell die Lernendenprojekte zum Thema Nachhaltigkeit und Ideen zu Gamifizierung.

Den Teil über die experimentell-konzeptionelle Forschung in der Didaktik haben Yasemin Gökkuş und Timm Wilke verfasst. Gökkuş ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wuppertal und befasst sich mit der Förderung digitaler Kompetenzen in der Lehrerbildung. Zudem unterrichtet sie an einem Gymnasium in Bremen. Sie hat Chemie und Mathematik studiert und in Wuppertal über Photochemie im Chemieunterricht promoviert. Wilke, der den Trendbericht auch koordiniert hat, ist seit dem Jahr 2020 Professor für Didaktik der Chemie an der Universität Jena.

https://media.graphcms.com/CZJVXQPdQmWs9Ak7w8oZ

Drei Fragen an den Autor: Benjamin Pölloth

Welches Forschungsergebnis aus der Lehr-Lernforschung aus den letzten zwölf Monaten hat Sie am meisten überrascht?

Wie wenig das Verständnis der chemischen Basiskonzepte während der Schullaufbahn wächst. Aber auch, wie wenig das bisher untersucht ist.

Auf welchem Gebiet erwarten Sie in den nächsten zwölf Monaten die größten Entwicklungen?

Gerade das letzte Jahr hat gezeigt, wie wichtig naturwissenschaftliche Grundbildung für mündige Bürger:innen ist. Hier erwarte ich spannende Ergebnisse, wie (Schul-)Bildung diese Scientific Literacy noch breiter fördern kann.

Womit befasst sich Ihr nächstes Forschungsprojekt?

Ich möchte herausfinden, wie aktuelle Forschungsmethoden im Unterricht eingesetzt werden können, um Schüler:innen einen neuen, selbstgesteuerten Zugang zum Energiekonzept zu ermöglichen.

Den Teil über die empirischer Lehr-Lern-Forschung haben Benjamin Pölloth und Stefan Schwarzer verfasst. Pölloth hat in Regensburg Chemie, Mathematik und evangelische Religion für das Lehramt an Gymnasien studiert und nach dem 2. Staatsexamen an der Ludwig-Maximilians-Universität München in organischer Chemie promoviert. Seit 2020 ist er Postdoc an der Universität Tübingen in der Arbeitsgruppe von Stefan Schwarzer. Schwarzer ist seit dem Jahr 2020 in Tübingen Professor für Didaktik der Chemie. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die Lehr- und Lernforschung an außerschulischen Lernorten, zum Beispiel am Schülerlabor.

https://media.graphcms.com/qKAOVck1R1SQhciJu4Xx

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