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Kurioses, Erstaunliches, &Uuml;berraschendes &mdash; was vor 50 Jahren in den &bdquo;Nachrichten aus der Chemie&ldquo; stand, die damals noch &bdquo;Nachrichten aus Chemie und Technik&ldquo; hie&szlig;en.

Vor 50 Jahren

<h2 type="main">Vergangenheit aktuell: Visionär Döring</h2>Im ersten März-Heft der Blauen Blätter 1974 erschien ein Interview mit William von E. Doering. Der Theoretiker der organischen Chemie lehrte zu der Zeit in Harvard. Im Interview wies er darauf hin, dass die zivilisierte Welt zwar abhängig von Produkten der Chemie sei, sich mit Chemie aber auch Probleme lösen ließen: „Bei den Kunststoffen brauchen wir offensichtlich biologisch abbaubares Material“, sagte er, „es ist nicht gut, solche Tragtaschen zu benutzen“ (und zeigte auf die Plastiktüte, in der das Zubehör zum Tonbandgerät enthalten war). Seine Idee zur Plastiktüte:<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/03KBFkPQeeEueGdmOavh">außerdem solle das Gras mit dem Dünger, der zurückbleibt, an dieser Stelle ein wenig besser wachsen.Biologisch abbaubare Kunststoffe gibt es zwar inzwischen. Aber bisher zersetzen sie sich nur unter bestimmten Bedingungen, nicht in freier Natur.Noch mehr Erstaunliches aus den Blauen Blättern von anno dazumal lesen Sie in der GDCh-App: <url href="http://gdch.app/category/vor-50-jahren"><a href="https://gdch.app/category/vor-50-jahren" target="_blank">gdch.app/category/vor-50-jahren</a></url>

Vergangenheit aktuell

Visionär Döring

Vergangenheit aktuell: Visionär DöringIm ersten März-Heft der Blauen Blätter 1974 erschien ein Interview mit William von E. Doering. Der Theoretiker der organischen Chemie lehrte zu der Zeit in Harvard. Im Interview wies er darauf hin, dass die zivilisierte Welt zwar abhängig von Produkten der Ch...

Mit künstlicher Intelligenz lassen sich Freitextantworten automatisiert auswerten. Dies erleichtert, den Lernfortschritt jedes Lernenden zu verfolgen und Lernmaterialien in individualisierten Lernumgebungen anzupassen.In der organischen Chemie sind mechanistische Probleme zu lösen, Konzepte zu verstehen sowie Synthesen zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Bei diesen kognitiven Prozessen ist mechanistisches Denken zentral, das über das Nennen und Beschreiben von Reaktionsmechanismen hinausgeht.1) Mechanistisches Denken umfasst das Erklären molekularer Prozesse, die Analyse von Elektronenbewegungen sowie kinetische und thermodynamische Betrachtungen.2,3)Viele Studierende haben Schwierigkeiten, mechanistisch zu denken:4,5) Es fällt ihnen beispielsweise schwer, Ursache-Wirkungs-Beziehungen herzustellen, nicht explizit dargestellte Eigenschaften zu erkennen oder Strukturmerkmale mit energetischen Einschätzungen zu verknüpfen. Idealerweise werden Studierende daher kontinuierlich in diesen Denkprozessen gefördert.Dazu sind jedoch überwiegend offene Aufgabenformate wie Freitextantworten nötig. Sie auszuwerten, kann zeitintensiv und konzeptionell schwierig sein. Eine Lösung für dieses Problem bietet künstliche Intelligenz (KI): KI-Methoden können komplexe Denkprozesse in offenen Aufgabenformaten automatisiert auswerten.6) Daran anknüpfend ist es Dozierenden zum Beispiel in digitalen Lernumgebungen möglich, individualisiertes Feedback und Übungen bereitzustellen.<h2 type="main">Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen</h2>KI-gestützte algorithmische Entscheidungssysteme übernehmen bereits heute kognitive Aufgaben, die bislang als spezifisch menschlich galten. Daher wird in diesem Zusammenhang häufig die Automatisierung kognitiver Fähigkeiten diskutiert.7) KI lässt sich somit als Software verstehen, die es Computern ermöglicht, Aufgaben wie Problemlösung und Entscheidungsfindung menschenähnlich auszuführen.Das maschinelle Lernen (ML) beschäftigt sich mit sämtlichen selbstlernenden Algorithmen, die in den letzten Jahren zu Innovationen geführt haben. ML ist ein Teilbereich der KI, der Computersysteme befähigt, ohne explizite Programmierung aus Daten zu lernen, Muster zu identifizieren und Prognosen zu treffen.Während unsupervised ML aus nicht menschlich annotierten Daten Kategorien ableitet, kann supervised ML zur automatisierten Auswertung dieser Kategorien genutzt werden.Diese ML-Techniken erlauben der Hochschulfachdidaktik, was bislang nur schwer möglich war: Sie bekommt durch die automatisierte Auswertung offener Aufgabenformate datengetriebene Einblicke in die Kompetenzen von Studierenden.8)<h2 type="main">Schwierigkeiten der Studierenden</h2>Im Frühjahr 2021 nahmen 64 Studierende der Tufts University in Boston im Rahmen des Moduls zur Organischen Chemie II an einer empirischen Studie teil. Angelehnt an die Argumentstruktur Behauptung – Beleg – Begründung (Claim-Evidence-Reasoning Model) nach Toulmin9) wurden sie durch digitale Lernhilfen unterstützt, zu beurteilen, welche Reaktionsprodukte für eine intramolekulare Williamson-Ether-Synthese und eine Claisen-Kondensation plausibel sind (<link href="#nadc20244141003-fig-0001">Abbildung 1).10,11)<figure xml:id="nadc20244141003-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/PCfAT94tQuOpVY7IYHiJ"><figcaption><label>Abb.1: </label>Studierende beurteilen die Plausibilität vier potenzieller Reaktionsprodukte für vier Reaktionsmechanismen, hier eine intramolekulare Williamson-Ether-Synthese. Dazu stellen die Studierenden nacheinander eine Behauptung über die Plausibilität der gezeigten Reaktionsprodukte auf, wobei sie die Behauptung in einem offenen Aufgabenformat belegen und begründen müssen. Rot und grün: implausible beziehungsweise plausible Reaktionsprodukte.</figcaption></figure></figure>Wie die Analyse der von den Studierenden erstellten Argumente zeigt, fällt es ihnen schwer, kausale oder auf elektronischen Eigenschaften basierende Argumente zu bilden (<link href="#nadc20244141003-fig-0002">Tabelle).12) Die Komplexität der Argumente hing zudem nicht nur vom gegebenen Reaktionskontext ab, sondern auch vom individuellen Lernstand der Studierenden. Diese Argumentationsprozesse durch individuell angepasste Lernaufgaben zu fördern, führte zu Lernzuwächsen, war jedoch nicht auf Kohorten mit mehr als 100 Studierenden übertragbar.10,11)<figure xml:id="nadc20244141003-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/R2PmvspHTSi3ceSSCCoz"><figcaption><label>Abb.2: </label>Dimensionen des Modells maschinellen Lernens.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Mit maschinellem Lernen mechanistisches Denken analysieren</h2>Um die individuelle Förderung bei großen Kohorten zu realisieren, haben wir auf Basis der Computational Grounded Theory16) ein ML-Modell entwickelt, das frei formulierte Argumentationen automatisiert auswertet.12) Dazu wurden mit unsupervised ML zunächst generalisierbare Argumentationsmuster datengetrieben aus den Antworten der Lernenden extrahiert. Die so gewonnenen Argumentationsmuster wurden mit chemiedidaktischen Interpretationsrahmen analysiert und überarbeitet.13–15) Zuletzt wurden die insgesamt 1108 von Studierenden formulierten Argumente mit einem supervised ML-Modell automatisiert ausgewertet. Dieses Modell hat in englischer Sprache eine Genauigkeit von über 87 Prozent12) und in deutscher Sprache eine Genauigkeit von über 82 Prozent.17)Das entwickelte Modell greift auf das Bert-Sprachmodell zurück, welches den semantischen Kontext von Wörtern in einem Text analysiert. Bert steht für Bidirectional Encoder Representations from Transformers und macht die Vielschichtigkeit menschlicher Sprache für Computer zugänglich. Durch diese Sprachverarbeitung lassen sich die Argumente der Studierenden anhand ihrer Komplexität in eine von 20 Kategorien einordnen. Diese Kategorien gliedern sich in fokussierte Themen, Kausalität und Tiefe der Argumentation (Tabelle).<h2 type="main">Die Lernumgebung gestalten</h2>Mit dem ML-Modell lässt sich die Komplexität der Argumente hinsichtlich der drei Dimensionen automatisiert analysieren. Daraufhin erhalten die Studierenden in einer digitalen Lernumgebung von uns vorab entwickeltes adaptives Feedback sowie Übungen, welche diese drei Dimensionen abdecken. Adaptives Lernen passt die Unterstützung, also das Feedback und die Komplexität der Übungen, individuell an den Lernstand der Studierenden an und reduziert diese Unterstützung je nach Lernentwicklungen im Lauf der Zeit, um das selbstständige Problemlösen anzuregen.Das Feedback orientiert sich an den Grundsätzen des allgemein- und inhaltlich-strategischen Feedbacks. Dieses adressiert effektive Verfahrensstrategien im Problemlöseprozess und konzeptuelle Komponenten.18)Die Übungen gliedern sich ebenso in zwei Bereiche: Die Studierenden bekommen ein individualisiertes Argumentationstraining, das anleitet, wie Argumente in der organischen Chemie zu strukturieren sind und welche chemischen Konzepte eine solche Argumentation adressieren kann. Zudem fördern sie die Studierenden, chemische Konzepte anzuwenden, etwa bei Themen wie Elektrophilie und Nukleophilie. Insgesamt lassen sich durch diese Lernumgebung 7203 Lernwege abbilden.<h2 type="main">Die ML-basierte Lernumgebung in der Lehre einsetzen</h2>Derzeit setzt die Indiana University in Bloomington die ML-basierte Lernumgebung ein, um etwa 300 Studierende der Organischen Chemie II individuell zu fördern, alternative Reaktionsprodukte verschiedener Mechanismen zu beurteilen (<link href="#nadc20244141003-fig-0003">Abbildung 2). Nach Trainings zur Argumentation und zur Anwendung chemischen Konzeptwissens sehen die Studierenden nacheinander vier unterschiedliche Reaktionsprodukte. Zwei dieser Produkte sind nicht plausibel, die anderen entsprechen einer Zwischenstufe und dem tatsächlichen Reaktionsprodukt (Abbildung 1 links, S. 9). Die Studierenden müssen nun in einem offenen Aufgabenformat argumentieren, warum die gezeigten Reaktionsprodukte mehr oder weniger plausibel sind (Abbildung 1, rechts).19,20)<figure xml:id="nadc20244141003-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/ueesmZFDQiOxOQfA3d1B"><figcaption><label>Abb.3: </label>Implementierung maschinellen Lernens zur adaptiven Förderung von Studierenden der Organischen Chemie II der Indiana University in Bloomington über ein Semester hinweg.</figcaption></figure></figure>Das ML-Modell wertet die Freitextantworten dann automatisiert aus (Abbildung 2). So lassen sich für jeden Studierenden basierend auf dem aktuellen Lernstand adaptives Feedback sowie Übungen bereitstellen. Hieran anschließend beurteilen die Studierenden die gezeigten Reaktionsprodukte für einen weiteren Mechanismus, woraufhin sich die automatisierte Auswertung sowie die Feedback- und Übungsschleife wiederholt.<h2 type="main">Ausblick</h2>Eine ML-basierte Lernumgebung in die Lehre einzubinden, bietet Vorteile für Studierende und Dozierende. Durch die automatisierte Auswertung lassen sich künftig mehr schriftliche Ausführungen in offenen Aufgabenformaten einfordern und in lernbegleitenden Settings auswerten. Zudem können Studierende schon während des Semesters mehrfach individuelles Feedback erhalten und ihr Konzeptverständnis in anschließenden Übungsphasen erweitern. Verglichen mit dem traditionellen Übungsmodell in Vorlesungen mit großen Kohorten, bei dem alle Studierenden dieselben Übungen ohne individuelles Feedback erhalten, kann diese stärker individualisierte Lehre womöglich größere Lernzuwächse erreichen. Es bleibt zu untersuchen, welche Lernentwicklungen über ein Semester hinweg zu beobachten sind und inwiefern eine solche Lehre tatsächlich das Lernen beeinflusst.Dozierende wiederum haben die Möglichkeit, die Ergebnisse der KI-gestützten Analyse zu nutzen, um ihre Lehre sukzessive an die Lernbedürfnisse der aktuellen Kohorte anzupassen. Dies ermöglicht es, Lehrmethoden kontinuierlich zu optimieren. Es wird sich zeigen, wie stark Dozierende die Ergebnisse einer KI-Analyse nutzen, um in einer Lehrveranstaltung individuell auf die Fähig- und Schwierigkeiten ihrer Studierenden einzugehen. Zudem ist zu klären, inwiefern die grafische Aufbereitung der KI-Ergebnisse die Interpretierbarkeit der Informationen für Dozierende erleichtert und ihre Entscheidungsfindung beeinflusst.<h2 type="main">Die Autor:innen</h2>Dieser Beitrag stammt von Paul P. Martin und Nicole Graulich. Martin hat im Jahr 2022 sein Lehramtsstudium in Chemie und Mathematik an der Universität Gießen mit der Ersten Staatsprüfung abgeschlossen und promoviert seither im Arbeitskreis von Graulich zur Anwendung von KI in der Hochschulfachdidaktik der organischen Chemie. Graulich ist seit 2014 Professorin für Didaktik der Chemie an der Universität Gießen. Sie beschäftigt sich mit der Analyse und Förderung von Lehr-Lern-Prozessen in der organischen Chemie auf Hochschulniveau. <email><a href="mailto:nicole.graulich@dc.jlug.de">nicole.graulich@dc.jlug.de</a></email><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/bNrssg0RHG0xBu3wHkoU"><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/zEJv1SOT7CzU2yWWsQ4M"><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>In der organischen Chemie müssen Studierende komplexe Probleme lösen und mechanistische Schlüsse ziehen. Dabei haben manche Schwierigkeiten.Künstliche Intelligenz wertet Argumentationen etwa zur Plausibilität von Reaktionsprodukten automatisiert aus und stellt basierend darauf individualisiertes Feedback und Übungen bereit.Dies kann Dozierenden helfen, auf unterschiedliche Lernbedürfnisse einzugehen.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244141003-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244141003-bib-0001">1 P. Machamer, L. Darden, C. F. Craver, Philos. Sci. 2000, 67, 1–25</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0002">2 W. M. Goodwin, Ann. N. Y. Acad. Sci. 2003, 988, 141–153</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0003">3 W. M. Goodwin, Found. Chem. 2008, 10, 117–127</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0004">4 N. Graulich, Chem. Educ. Res. Pract. 2015, 16, 9–21</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0005">5 A. J. Dood, F. M. Watts, J. Chem. Educ. 2022, 100, 53–68</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0006">6 P. P. Martin, N. Graulich, Chem. Educ. Res. Pract. 2023, 24, 407–427</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0007">7 K. Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, Heyne, München 2019</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0008">8 M. Kubsch, C. Krist, J. M. Rosenberg, J. Res. Sci. Teach. 2023, 60, 423–447</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0009">9 S. E. Toulmin, The uses of argument (Rev. Ed.), Cambridge University Press, Cambridge 2003</li><li xml:id="nadc20244141003-bib-0010">10 L. S. Lieber, K. Ibraj, I. Caspari-Gnann et al., Chem. Educ. Res. 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