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Von elementarem Fluor und gewagten Experimenten

Ein Beitrag über das Element Fluor, seine chemischen Eigenschaften, seine einzigartige Reaktivität und sein Vorkommen als elementares F auf der Erde. Dazu: Sichere Experimente mit elementarem Fluor für die Lehre und einfache Betrachtungen zur Toxizität von Fluor und Fluoriden. Fluor ist das reakt...

Werden anorganische Verbindungen in neuen Modifikationen oder metastabilen Zuständen hergestellt, haben sie oft andere Eigenschaften als ihre bekannten Vertreter. Um andere Eigenschaften und Strukturen zu generieren, reicht es sogar schon, die Verbindungen als Filme wachsen zu lassen: Hier entscheidet die Schichtdicke.
Chemische Zusammensetzung, kristallographische Struktur und physikalische Eigenschaften hängen zusammen – das nutzen Materialforscher. Bleibt die chemische Zusammensetzung gleich, führt das Kristallisieren der Verbindung in unterschiedlichen Modifikationen zu verschiedenen Eigenschaften, etwa bekannt von Graphit, Diamant und Fulleren.Temperatur und Druck einer Synthese zu ändern, gehört zum Standardrepertoire. Auch die weiche Chemie (chimie douce) liefert Methoden, metastabile Modifikationen herzustellen, etwa über topochemische Reaktionen. Dieser Reaktionstyp wird in handelsüblichen Lithiumionenbatterien genutzt, in denen die geladene oder entladene Form des aktiven Elektrodenmaterials oft in einem metastabilen Zustand ist.1)Auch nichtisotrope Verzerrung an Grenzflächen (Strain Engineering) eignet sich, um neue Verbindungsmodifikationen herzustellen, die metastabil sind und über einfache Shake&amp;Bake-Methoden – also Synthesen, die auf Mörsern und Heizen beruhen – nicht erhalten werden können.<h2>Strain Engineering</h2>Beim Strain Engineering wird üblicherweise auf ein einkristallines Substrat mit glatter Oberfläche eine Verbindung epitaktisch als Film abgeschieden. Die Verbindung des Films unterscheidet sich chemisch von der des Substrats, ihre Strukturen ähneln sich aber zumindest teilweise (Abbildung 1 oben). Die Reaktionsbedingungen werden dabei so gewählt, dass Substrat und Film gar nicht oder nur wenig miteinander reagieren und Elemente aus beidem interdiffundieren. Triebkräfte für das epitaktische Aufwachsen sind dabei kovalente Bindungen oder günstige ionische Kontakte, die etwa stark repulsive Ionenkontakte an der Grenzfläche vermeiden. Durch verhältnismäßig niedrige Reaktionstemperaturen (bezogen auf die Synthesetemperaturen der Gleichgewichtsphase) werden kinetische Effekte beim Filmwachstum ausgenutzt, wodurch Nichtgleichgewichtsphasen entstehen. Damit verbunden wird die Struktur der Filmverbindung verzerrt: Wegen des epitaktischen Aufwachsen des Films wird sich dieser in der Ebene zusammenziehen oder dehnen, um sich so gut wie möglich an die Struktur des Substrats anzupassen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/uSqBne4GTUSwn0FOfaB9"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Oben: Epitaktisches Aufwachsen einer regulär hochsymmetrischen Produktverbindung auf ein einkristallines Substrat unter Symmetrieerniedrigung. Rechts: Energieschema zur Änderung der Lage von Valenz- und Leitungsband (VB beziehungsweise LB) durch Strain Engineering mit Symmetrieänderung verglichen mit hydrostatischer Expansion und Kontraktion.</figcaption></figure>
Würde die Deformation senkrecht zur Filmebene genauso ablaufen wie innerhalb der Filmebene, würde eine quasi hydrostatische Verzerrung resultieren, also eine reine Volumenzu- oder -abnahme, ähnlich wie bei Druckänderungen. In der Realität passiert dies nicht – die Verzerrung senkrecht zur Filmebene ist derjenigen innerhalb der Ebene zumeist entgegensetzt, die Dichte der Verbindung ähnelt also weiterhin der Dichte der unverzerrten Verbindung.Bei verzerrtem epitaktischem Aufwachsen kann sich die Symmetrie der Ausgangsverbindung ändern, insbesondere dann, wenn die Edukte hochsymmetrisch sind. Die Symmetrie kann sich aber auch erhöhen, wenn sich eine niedrige Symmetrie nicht ohne weiteres auf die höhere Symmetrie des Substrats projizieren lässt. Ein Beispiel: Auf die Ebene projiziert kann aus einem Rechteck mit geringfügig unterschiedlichen Seitenlängen ein Quadrat werden. In beiden Fällen entsteht durch die substratinduzierte Spannung eine neue Modifikation der Filmverbindung, also eine verzerrte Verbindung, die durch die andere Struktur andere Eigenschaften hat als die unverzerrte Verbindung. Die Veränderung der Struktur besteht etwa in einer anderen Raumgruppe, anderen Atomlagen oder anderen Gitterkonstanten.<h2>Anwendungen</h2>Strain Engineering dient in industriellem Maßstab dazu, Halbleiter- und Solartechnik herzustellen. Hier lassen sich – neben oder zusammen mit Dotierung – durch Verzerren von Silicium dessen p/n-halbleitende Eigenschaften beeinflussen. Dies beruht auf der Änderung der elektronischen Energieniveaus der Verbindungen, wodurch sich die Bandlücke und Mobilität der Ladungsträger verschiebt (Abbildung 1 rechts). Ein solches Einstellen der Bandlücken findet dabei in zwei Stufen statt. Zunächst wird der Gitterparameter des einkristallinen Siliciumsubstrats, etwa durch Dotieren mit Germanium zu Si1-xGex, eingestellt. Auf dieses Substrat lassen sich dann III-V-Halbleiter wie Ga1-yInyAs1-zPz aufwachsen. Damit werden Solarzellen und LED effizienter. Forscher des Fraunhofer Instituts für solare Energiesysteme (ISE) steigerten so im Jahr 2014 den Wirkungsgrad einer Mehrschichtzelle auf 46 Prozent,2) den derzeitigen Weltrekord.Allerdings können sich solche Verzerrungseffekte auch negativ auswirken, etwa indem sie Solarzellen destabilisieren, die auf CH3NH3PbI3 basieren.3) Die Effekte müssen also verbindungsspezifisch untersucht werden.<h2>Durch mehr Ordnung zu neuen magnetischen Materialien</h2>Magnetische Materialien wie Doppelperowskite (DP) der Zusammensetzung A2BB’O6 (A = Sr, Ba, La, …; B = Übergangsmetalle) lassen sich mit Strain Engineering herstellen. In der vollständig geordneten DP-Struktur sind BO6-Oktaeder nur mit B‘O6-Oktaedern über Ecken verknüpft. Bei paramagnetischen B/B‘-Kationen führt dies bei einer magnetischen Ausordnung meist zu ferrimagnetischen Eigenschaften, was sie für magnetooptische Anwendungen und als spintronische Materialien interessant macht.4) Da sich B und B‘ bezüglich ihrer Ionenradien oft stark ähneln, zeigen viele Verbindungen nur eine geringe Tendenz, die B- und B‘-Kationen auszuordnen, was zu geringeren magnetischen Momenten führt, bis hin zu näherungsweise antiferromagnetischem Verhalten in der höhersymmetrischen Perowskit-Struktur.Eine solche Ausordnung lässt sich bei bestimmten Systemen induzieren, indem epitaktisches Wachstum mit schichtweisem Aufwachsen kombiniert wird: Kleibeuker und Mitarbeiter4) koppelten Substratstrain und Rotation der BO6-Oktaeder. Dies führt zu einer Ausordnung von Co und Mn beim Aufwachsen von La2CoMnO6 auf (1 1 1)-orientiertem (La,Sr)(Al,Ta)O3 (LSAT) wie in Abbildung 2 – anders als bei Substraten mit geringerem Verzerrungszwang wie SrTiO3 (1 1 1) (STO). Auf den entsprechenden (0 0 1)-orientierten Substraten besteht kein Ordnungszwang mehr für die B-Kationen, zudem entstehen stark sauerstoffdefizitäre Verbindungen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Verzerrung das elektrochemische Oxidationspotenzial des La2CoMnO6-Films beeinflusst.<figure><img src="https://media.graphcms.com/qv77cw7lSrafs7lddWEx"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Wirkung kompressiver Verzerrung innerhalb der Substratebene auf die Verzerrung und Ausordnung der BO6-Oktaeder auf Substrate mit (0 0 1)- oder (1 1 1)-Orientierung (a) beziehungsweise b)); c) und d) Auswirkung zusätzlicher Antiphasenrotation der Oktaeder auf die Translationssymmetrie der BO6-Oktaeder.4)</figcaption></figure>
<h2>Mehr Verzerrung</h2>Bei anderen perowskitischen Verbindungen lässt sich statt einer Ausordnung von Ionen eine starke Verzerrung induzieren. Dies ist für Ferroelektrika oder Multiferroika wie BiFeO3 interessant, die derzeit daraufhin untersucht werden (siehe Lit.5,6)).Als Pulver dargestellt, kristallisiert BiFeO3 in der polaren Raumgruppe R3c, was die ferroelektrischen Eigenschaften ermöglicht. Die Bi- und Fe-Atome sind dabei in Relation zum Sauerstoffoktaeder entlang einer Flächennormalen verschoben (entlang der [1 1 1]-Richtung des kubischen Aristotyps), sodass sich entlang dieser Richtung das polare Moment bildet. Durch das Substrat, etwa SrTiO3 oder LaAlO3 (0 0 1), und die Filmdicke lässt sich dieses Moment nun in andere kristallographische Richtungen verschieben. Dadurch verzerrt sich bei Filmen, die auf LaAlO3 aufgewachsen sind, die Zelle so sehr, dass die Symmetrie auf ein tetragonales Kristallsystem sinkt – und zwar mit einem außergewöhnlich hohen c/a-Verhältnis von zirka 125 % (Abbildung 3a und c). Hierdurch steigt das remanente ferroelektrische Moment von 60 auf bis zu 105 µC · cm–². Mit zunehmender Filmdicke kommt es jedoch zu Relaxationseffekten, und der Anteil der pseudorhomboedrischen Phase, die geringfügig monoklin verzerrt, steigt (Abbildung 3a und d, S. 60).<figure><img src="https://media.graphcms.com/NU0neksrQz6fGfSzu840"><figcaption><label>Abb. 3: </label>a) Diffraktogramme von BiFeO3-Schichten, die auf verschiedenen Substraten aufgewachsen sind (mit * gekennzeichnete Reflexe). b) Phasenanteile von rhomboedrischer zu tetragonaler Phase an BiFeO3 in Abhängigkeit der Filmdicke. c) und d) STEM-Aufnahmen der tetragonalen und monoklinen (pseudorhomboedrischen) Phase von BiFeO3.5)</figcaption></figure>
<h2>Neue Verbindungen</h2>Verzerrungseffekte lassen sich mit der anschließenden Darstellung einzelner Schichten koppeln, um neue chemische Verbindungen herzustellen.7) Ein einfaches Beispiel ist eine Verbindung der Gesamtzusammensetzung AB, für die mehrere Anordnungen der Baueinheiten A und B denkbar sind (Abbildung 4 oben rechts, S. 61). Werden bei der Filmabscheidung aus atomaren Quellen kinetische Effekte genutzt – etwa um die Diffusion bei niedrigen Temperaturen zu vermeiden und die Folge der Abscheidung der Baueinheiten geschickt zu wählen –, lassen sich neue metastabile Verbindungen herstellen, in deren Strukturen die Baueinheiten anders angeordnet sind als im thermodynamisch stabilen Zustand. Dies zeigten Johnson und Mitarbeiter am Beispiel von [(BiSe)1+δ]m[TiSe2]m. Die Gruppe schied atomare Monolagen der einzelnen Elemente nach und nach über die Gasphase ab und heizte die Schichten auf bis zu 450 °C. Dadurch entstanden Schichten mit m ≤ 3 (Abbildung 4 links). Diese sind zwar nicht defektfrei (Abbildung 4 rechts), zeigen jedoch, wie vielfältig neue chemische Verbindungen und Modifikationen sein können, die über Filmwachstumsmethoden zugänglich sind.<figure><img src="https://media.graphcms.com/wh3nR09bRDaWqIa1wlfH"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Oben rechts: Möglichkeiten, verschiedene Modifikationen einer Verbindung der Zusammensetzung AB zu erhalten, die aus den Bausteinen A und B zusammengesetzt ist. Bei den drei rechten Teilabbildungen stehen die Indizes für die Dicke der jeweiligen einzelnen Teilschicht. Links: Filme der Zusammensetzung [(BiSe)1+δ]m[TiSe2]m und Relaxation in kinetisch stabilisierte Minima durch Gasphasenabscheidung und anschließende thermische Behandlung.8) Rechts: HAADF-STEM-Aufnahme des Querschnitts eines Films der Zusammensetzung [(BiSe)1+δ]2[TiSe2]2, Maßstabsbalken 5 nm.8)</figcaption></figure>
Blickpunkt Anorganik berichtet über neue präparative Techniken, den richtigen Umgang mit gefährlichen Stoffen, neue Analysetechniken, Reinigungsverfahren und mehr. Die Beiträge zur Serie verfassen dieses Jahr gemeinsam Nathalie Kunkel und Oliver Clemens.Oliver Clemens, Jahrgang 1983, leitet seit 2016 eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an der TU Darmstadt und ist dort seit 2017 Assistenzprofessor. Er studierte Chemie an der Universität des Saarlandes und promovierte dort im Jahr 2012 bei Horst Beck. Nach einem Postdoc in Birmingham, UK, wechselte er an die TU Darmstadt. Er beschäftigt sich unter anderem mit der topochemischen Modifizierung perowskitischer Materialien sowie den resultierenden Eigenschaften und Anwendungen, von Magnetismus bis hin zu Fluoridionenbatterien. <email><a href="mailto:oliver.clemens@md.tu-darmstadt.de">oliver.clemens@md.tu-darmstadt.de</a></email><div><img src="https://media.graphcms.com/Wqt15Vz9TeuTgKOX0xUb">

</div>Nathalie Kunkel, Jahrgang 1986, ist seit 2019 Juniorprofessorin mit Tenure Track für nachhaltige anorganische Chemie an der Universität Göttingen. Sie studierte in Saarbrücken Chemie und promovierte im Jahr 2014 an der Universität des Saarlandes bei Holger Kohlmann. Es folgte ein zweijähriges Postdoktorat bei Philippe Goldner in Paris. Von Oktober 2016 bis Dezember 2018 war sie Junior Fellow und Liebig-Nachwuchsgruppenleiterin in der anorganischen Chemie an der TU München. Unter anderem beschäftigt sich ihre Gruppe mit Seltenerdlumineszenz und Neutronenpulverdiffraktion. <email><a href="mailto:nathalie.kunkel@lrz.tu-muenchen.de">nathalie.kunkel@lrz.tu-muenchen.de</a></email><div><img src="https://media.graphcms.com/k0EloGAOQgCfyJZbyYWI">

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<ul><li>
1 B. C. Melot, J. M. Tarascon, Acc. Chem. Res. 2013, 46, 1226–1238</li><li>
2 T. N. D. Tibbits, P. Beutel, M. Grave et al. in 29th European Photovoltaic Solar Energy Conference, Amsterdam, Netherlands, 2014, 1975–1978</li><li>
3 J. Zhao, Y. Deng, H. Wei et al., Sci. Adv. 2017, 3, eaao5616</li><li>
4 J. E. Kleibeuker, E.-M. Choi, E. D. Jones et al., NPG Asia Materials 2017, 9, e406</li><li>
5 S. H. Baek, S. Choi, T. L. Kim, H. W. Jang, Current Appl. Phys. 2017, 17, 688–703</li><li>
6 D. G. Schlom, L.-Q. Chen, C. J. Fennie et al., MRS Bulletin 2014, 39, 118–130</li><li>
7 D. C. Johnson, Curr. Opin. Solid St. M. 1998, 3, 159–167</li><li>
8 A. C. Lygo, D. M. Hamann, D. B. Moore et al., J. Am. Chem. Soc. 2018, 140, 3385–3393</li>Die Autoren danken Horst Hahn, KIT, für Korrekturvorschläge und kritische Anmerkungen zum Artikel.</ul>

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