Wissenschaft + Forschung

Blaue Partikel im Zahnstein eines Skeletts erzählen die Geschichte einer Frau aus dem Mittelalter. Über diesen Fund hinaus erlauben Überreste im Zahnstein Erkenntnisse – von Ernährungsgewohnheiten bis hin zu Mikrobiom und Immunsystem.
Eine Frau, die im Mittelalter nahe des Klosters Dalheim begraben wurde, weist Zahnstein auf, der mit blauen Partikeln durchsetzt ist (Abbildung 1). Forscher hatten darin eigentlich nach Pflanzen- und DNA-Spuren gesucht. Nun haben sie sich aber dem ungewöhnlichen Fund gewidmet.<figure><img src="https://media.graphcms.com/WaLMl3oSrO1XYpy0iQPV"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Blaue Pigmente im Zahnstein einer vor etwa 900 Jahren verstorbenen Frau. Die Partikel sind über mehrere Schichten des Zahnsteins gestreut.1)</figcaption></figure>
<h2>Blaues Pigment</h2>Um das blaue Pigment zu identifizieren1), analysierten Wissenschaftler um die archäologische Genforscherin Christina Warinner zunächst dessen Elementzusammensetzung. Dazu nutzten sie Rasterelektronenmikroskopie mit energiedispersiver Röntgenspektroskopie (SEM-EDS). Die Analyse ergab, dass die mittelalterliche Probe keine Übergangsmetalle enthält. Die Forscher schlossen daher aus, dass es sich um blaue CoII-Verbindungen oder das bereits im Mittelalter bekannte Vivianit Fe3(PO4)2·8H2O handeln könnte. Allerdings ähnelt die Elementverteilung der von afghanischem Lasurit (Na,Ca)8[S2|(AlSiO4)6], einem Bestandteil von Lapislazuli. Seine blaue Farbe erhält Lasurit durch Polyschwefelanionen. Tatsächlich entdeckten die Forscher mit Ramanspektroskopie Streckschwingungen von S3–-Ionen. Das Ramanspektrum des Zahnsteinpigments stimmt zudem mit aktuellen Lasuritproben sowie Lapislazuli aus einem mittelalterlichen Gemälde überein.<figure><img src="https://media.graphcms.com/NfLZSgagTl6EtPYnH098"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Die Spektren des Zahnsteins zeigen Polyschwefelanionen, ein Nachweis für Lapislazuli.1)</figcaption></figure>
<h2>Buchillustratoren</h2>Lapislazuli war im Mittelalter ein Luxusgut, das Mönche und Nonnen zur Illustration von Büchern verwendeten. Als das älteste mit Lapislazuli illustrierte Werk einer Frau gilt Liber Scivias von Hildegard von Bingen um das Jahr 1200.Das Skelett der Frau, deren Zahnstein nun Untersuchungsgegenstand war, ist nicht von körperlicher Arbeit gezeichnet und wurde wenige Meter entfernt vom Kloster Dalheim in Nordrhein-Westfalen gefunden. Daher war die Frau vermutlich eine Nonne des Klosters, die mit Lapislazuli Bücher illustrierte. Da die Partikel über mehrere Schichten des Zahnsteins gestreut sind, muss die Frau regelmäßig mit dem Farbstoff in Kontakt gekommen sein. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie den Pinsel regelmäßig angeleckt hat, damit dieser spitz zuläuft.Den Tod der Frau datiert Radiocarbonanalyse auf Ende des 10. Jahrhunderts bis Mitte des 12. Jahrhunderts. Frauen waren also schon früher an der Buchproduktion mit Lapislazuli beteiligt als bisher bekannt.<h2>Versteinerter Biofilm</h2>Zahnstein ist ein mineralisierter Biofilm, den Mikroorganismen erzeugen. Er konserviert Nahrungsbestandteile und Stoffe aus der Luft, etwa Pollen, und auch Bakterien.Im Jahr 2014 gelang es Forschern erstmals, aus Zahnstein Genomdaten zu gewinnen.2) Mit Shotgun Sequencing zerteilten sie die DNA-Stränge in Segmente von etwa tausend Basenpaaren und lasen die Basenfolgen aus. Mit Computeralgorithmen überlappten sie die Sequenzen und verglichen die dadurch erhaltenen Genomdaten mit Datenbanken. So identifizierten sie vierzig Krankheitserreger und rekonstruierten das Genom von Parodontosebakterien. Sie fanden Immunoproteine und zum ersten Mal in menschlichen antiken Proben Antibiotika-Resistenzgene. Resistenzen gegen β-Lactame, Aminoglykoside, Bacitracin und weitere existierten demnach schon Jahrhunderte, bevor die Menschheit die ersten therapeutischen Antibiotika kannte.<h2>Fleisch oder Pflanzen</h2>Die Analyse von Zahnstein ist das Mittel der Wahl, um Informationen über Nahrungsmittel zu erhalten. In irakischen und belgischen Zahnsteinproben von Neandertalern fanden sich Stärkekörner und silikathaltige Pflanzenreste, Phytolithe genannt.3) Neandertaler ernährten sich also von Fleisch, Früchten und stärkehaltiger Nahrung. Die DNA-Sequenz von eukaryotischen Bakterienrückständen im Zahnstein offenbart zudem, dass sich Neandertaler an die kulinarischen Gegebenheiten anpassten:4) Ein Neandertaler aus der belgischen Spy-Höhle ernährte sich vor allem von Wollnashörnern und Wildschafen. Zahnstein von Neandertalern der El-Sidrón-Höhle in Spanien enthielt dagegen keine Gensequenzen der großen Pflanzenfresser. Stattdessen ernährten sie sich von Pilzen, Pinienkernen und Moos. Isotopenanalysen aus Knochenkollagen hatten zuvor nahegelegt, dass Neandertaler sich hauptsächlich von Fleisch ernährten.5)Luca Blicker ist freier Mitarbeiter der Nachrichten aus der Chemie.TED-Talk (2012) von C. Warinner zur Analy se von Zahnstein: <a href="https://t1p.de/l6ph" target="_blank">https://t1p.de/l6ph</a>
<ul><li>
1 A. Radini, M. Tromp, A. Beach et al., Sci. Adv. 2019, doi: 10.1126/sciadv.aau7126</li><li>
2 C. Warinner, J.F. Rodrigues, R. Vyas et al., Nat. Genet. 2014, 46, 336</li><li>
3 E. Callaway, Nature 2017, 544, 357</li><li>
4 M. P. Richard, Erik Trinkaus, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2009, 106, 16034</li><li>
5 A. G. Henry, A. S. Brooks, D. R. Piperno, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2011, 108, 486</li></ul>

Artikel

Zeitkapsel Zahnstein

Blaue Partikel im Zahnstein eines Skeletts erzählen die Geschichte einer Frau aus dem Mittelalter. Über diesen Fund hinaus erlauben Überreste im Zahnstein Erkenntnisse – von Ernährungsgewohnheiten bis hin zu Mikrobiom und Immunsystem. Eine Frau, die im Mittelalter nahe des Klosters Dalheim begrab...

Es ist schwer was los auf unserem Kontinent:Europa wählt. Sogar die Briten! Zumindest war das der Stand beim Schreiben dieser Kolumne.Europe talks. Behauptet die Wochenzeitung Die Zeit, die diese Initiative ins Leben gerufen hat. Dabei trafen sich politisch Andersdenkende über Ländergrenzen hinweg zu Diskussionen. Schlägereien blieben aus.Europa ist die Antwort. Zumindest in der Wahlwerbung der SPD; aber die ist bekanntlich so verzweifelt, dass wir lieber nicht wissen wollen, was die Frage war.Auch ich war neulich in Sachen Europa unterwegs, nämlich beim „2nd Meeting Editors-in-Chief ChemPubSoc Europe Membership Magazines/Newsletters“. Eingelassen wurde jeder, der den Veranstaltungstitel mit nur einem Versuch richtig aussprechen konnte.Zum Glück nur ein Scherz – sonst hätte niemand teilnehmen können –, doch in der Tat ist der sperrige Name ChemPubSoc Europe ein Hauptgrund dafür, dass dieser Publikationsverbund seit Jahren ein Wahrnehmungsproblem beklagt. Doch dass 16 europäische Fachgesellschaften es seit den 1990er Jahren geschafft haben, ihre nationalen Egoismen über Bord zu werfen und jahrzehntealte Traditionszeitschriften zu vereinen, ist eine epochale Leistung. Zu European Journal of Inorganic und Organic Chemistry gesellten sich bald darauf Chemistry: A European Journal und die Zeitschriften der ChemXChem-Reihe, ein wahrhaft europäischer Zusammenschluss.Doch wie Diskussionen über den Krümmungsgrad von Gurken einem den europäischen Binnenmarkt verleiden, so dämpft der Zungenbrecher ChemPubDings den Enthusiasmus über die Errungenschaft eines europäischen Chemiezeitschriftenprojekts.Vielleicht können handfeste Gründe ChemPubSoc Europe sexy machen? Ab Sommer veröffentlichen deutsche Autoren im Zuge der Einigung von Wiley-VCH mit dem Projekt „Deal“ kostenlos open access in deren Journalen [Nachr. Chem. 2019, 67(2), 7]. Und der GDCh-ChemPubSoc-Europe-Publikationswettbewerb [Nachr. Chem. 2019, 67(3), 106] ist natürlich auch ein Anreiz zum Gewinnen.Apropos gewinnen: Die Lösungen der Elementerätsel im letzten Heft waren Uran und Tenness. Wer Wolfram und Oganesson getippt hat (die jeweils häufigste Falschantwort), bekommt in diesem Heft auf den Seiten 57 und 65 neue Chancen. Alle anderen auch. Viel Spaß beim Weiterrätseln.Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Artikel

Zeitkapsel Zahnstein

Blaues Pigment

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...