Benjamin List, Chemienobelpreisträger des letzten Jahres über Preise, Konkurrenz und Redlichkeit in der Wissenschaft sowie Ideen, die ihren Weg in die Welt finden.
Nachrichten aus der Chemie: Der Nobelpreis ist das einzige, mit...
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Der diesjährige Chemienobelpreis geht zu gleichen Teilen an Carolyn R. Bertozzi, Morten P. Meldal und K. Barry Sharpless für „die Entwicklung der Klick-Chemie und der bioorthogonalen Chemie“.
Mit der Auszeichnung der Klick-Chemie und der bioorthogonalen Chemie würdigt das Nobelpreiskomitee einen Reaktionstyp, mit dem sich spezifische Moleküle verknüpfen lassen – unabhängig von ihrer Größe und Komplexität und sogar in lebenden Zellen und Organismen.
Die drei Laureaten: Caroyln Bertozzi, Morton Meldal und Barry Sharpless. Grafik: Ill. Niklas Elmehed, Nobel Prize Outreach
Den Begriff Klick-Chemie prägte im Jahr 2001 Barry Sharpless (The Scripps Research Institute, La Jolla, USA).1) Er beschreibt den Aufbau komplexer Moleküle aus kleineren Untereinheiten durch einfache, zuverlässige Chemie, ähnlich wie zwei Legosteine durch „Klicken“ miteinander verbunden werden. Diese Art Chemie folgt dem Vorbild der Natur, in der Kohlenstoff-Heteroatom-Bindungen häufiger vorkommen als Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen. Das Konzept eignet sich vor allem, um Heteroatombindungen zu knüpfen.
Für Klick-Reaktionen stellte Sharpless strenge Kriterien auf: Modulare Baueinheiten sollen in leistungsfähigen, selektiven Reaktionen mit hohen Ausbeuten unter physiologischen Bedingungen stabile Produkte liefern. Dabei sollen sie keine oder nur wenige, leicht abtrennbare Nebenprodukte erzeugen. Die Reaktionsbedingungen sollen einfach sein, idealerweise in Gegenwart von Sauerstoff und Wasser. Zu solchen Reaktionsklassen zählen nach Sharpless‘ Annahme 1,3-dipolare Cycloadditionen, Diels-Alder-Reaktionen, nukleophile Substitutionen oder Ringöffnungsreaktionen gespannter heterocyclischer Elektrophile wie Epoxiden.1)
Während die Klick-Chemie im Jahr 2001 nur als Konzept eingeführt wurde, entdeckten Barry Sharpless und der dänische Chemiker Morton Meldal (Universität Kopenhagen) im Folgejahr unabhängig voneinander fast gleichzeitig die kupferkatalysierte [3+2]-Cycloaddition von Aziden und primären Alkinen (Abbildung S. 9, oben ).2,3) Diese verläuft im Gegensatz zu der von Rolf Huisgen (Ludwig-Maximilian-Universität München) in den 1960er Jahren beschriebenen 1,3-dipolaren Cycloaddition stereoselektiv und bei Raumtemperatur.4) Diese Reaktion – nach kürzester Zeit eine Standardreaktion in chemischen Laboratorien – gilt als Kernstück der Klick-Chemie und bescherte Barry Sharpless seinen zweiten Chemienobelpreis.
Etwa zur gleichen Zeit entwickelte Carolyn Bertozzi ein ähnlich bahnbrechendes Konzept selektiver Reaktionen. Sie wollte durch grundlegendes Verstehen pathologischer Ursachen auf molekularer Ebene neue Diagnostika und Therapeutika für die Medizin schaffen.
Hierbei faszinierten sie seit Beginn ihrer Karriere – insbesondere seit ihrem Postdoc von 1993 bis 1995 bei Steve Rosen an der University of California in San Francisco – Kohlenhydratstrukturen, die auf der Oberfläche von Zellen protein- und lipidgebunden vorkommen, die Glykane.
Vor allem beschäftigte sie die Frage, welche Glykanbausteine auf verschiedenen Zellen vorkommen und wie diese sich bei Krankheiten verändern. Methoden, diese Zucker an der Zelloberfläche in lebenden Zellen oder Tieren zu markieren und zu untersuchen, gab es in den späten 90er Jahren kaum. Auch heute ist eine detaillierte Charakterisierung immer noch schwierig.
Carolyn Bertozzi vermutete damals, dass dieses Problem chemisch lösbar sei. Einen entscheidenden Impuls lieferte ein Zusammentreffen Mitte der 90er Jahren mit dem im Jahr 2016 verstorbenen deutschen Mediziner und Glykobiologen Werner Reutter (Freie Universität Berlin) auf einer Konferenz in Southampton, an der Bertozzi damals noch als Postdoktorandin teilnahm.5) Wie sie von Reutter erfuhr, tolerieren Enzyme der Biosynthese unnatürliche Zuckerbausteine wie die von Reutter vorrangig verwendeten N-Acyl-Mannosaminderivate. Die entsprechenden Sialinsäurederivate lassen sich in Glykane an der Zelloberfläche einbauen.6)
Diese Erkenntnis brachte Bertozzi auf die Idee, Mannosaminderivate mit chemischen Gruppen zu versehen, die nach Umwandlung in Sialinsäuren auf der Zelle selektiv chemische Reaktionen eingehen. Für eine solche Chemie in biologischen Systemen gäbe es ähnlich wie bei Sharpless spezifische Voraussetzungen:
Die Reaktanden müssen biologisch inert sein und Reaktionen bei geringen Konzentrationen unter nativen biokompatiblen Bedingungen ermöglichen. Zusätzlich müssen sie selektiv sein, ohne Nebenreaktionen mit natürlich vorkommenden funktionellen Gruppen wie Aminen, Alkoholen, Carbonsäuren oder Phosphaten einzugehen. Diese Orthogonalität zum biologischen System inspirierte Bertozzi zu einem Begriff, der aus der chemisch-biologischen Forschung nicht mehr wegzudenken ist: die bioorthogonale Chemie.7)
Nach der heute etablierten Definition soll die Entstehung einer kovalenten Bindung zwischen den Reaktanden, den bioorthogonalen Reportern, rasch erfolgen – also schnell genug, dass man in lebenden Zellen das Experiment (Klicken und Mikroskopieren) machen kann, bevor die Proteine dem natürlich Turnover unterliegen –, und idealerweise sollte ein bioorthogonaler Reporter durch Engineering in das biologische System einbringbar sein.
Für ihr erste Markierung metabolisch modifizierter Zucker auf der Zelloberfläche nutzte die Ende der 1990er Jahre noch junge Bertozzi-Gruppe an der Universität Berkeley Hydrazon- und Oximkondensationen mit Hydrazid-Biotin-Sonden, die mit Wasser kompatible Reaktionsbedingungen erlauben.8) Hydrazonreaktionen waren aufgrund des benötigten leicht sauren pH-Werts und der Nebenreaktionen mit anderen Carbonylgruppen jedoch nicht optimal für lebende Systeme.
Eine bioorthogonale Reaktion entsprechend der definierten Kriterien braucht zwei funktionelle Gruppen, die selektiv miteinander reagieren und kein Bestandteil biologischer Systeme sind. Hier erwies sich ein Azid als ideal: Es ist biologisch inert und trotzdem reaktiv. Zudem wird es aufgrund des geringen sterischen Anspruchs in der Sialinsäure-Biosynthese toleriert.
Als Reaktionspartner für Azide identifizierte Bertozzi Phosphine. Jedoch erwies sich die klassische Staudinger-Reaktion als ungeeignet, da das entstehende Aza-Ylid in Wasser hydrolysiert (Abbildung S. 9 Mitte, A). Wird ein Methylester als elektrophile Falle in das Phosphin eingebaut, lässt sich das nukleophile Aza-Ylid durch eine intramolekulare Cyclisierung und Bildung einer stabilen Amidbindung abfangen. Dies ermöglicht, eine Sonde unter bioorthogonalen Bedingungen kovalent mit Azid-Glykanen zu verknüpfen (Abbildung S. 9 Mitte, B).9) Diese Reaktion wurde unter dem Namen Staudinger-Ligation bekannt und ermöglichte später, Sialinsäuren in Mäusen nichtinvasiv und in vivo sichtbar zu machen.10)
Ein Nachteil der selektiven Staudinger-Bertozzi-Ligation ist die Reaktionsgeschwindigkeit, die zu gering für die Visualisierung dynamischer Prozesse ist: Die Staudinger-Bertozzi-Ligation braucht mehrere Stunden. Im Idealfall dauert eine solche Reaktion unter einer Stunde, besser wenige Minuten. Die Lösung kam in Form der eingangs beschriebenen 1,3-dipolaren Cycloaddition: Durch Ausnutzen von Ringspannung in einem cyclischen Alkin lassen sich Azide ohne toxische Additive oder Metallkatalysatoren direkt mit Aziden umsetzen: eine direkte Übertragung der Huisgen-Chemie auf bioorthogonale Reaktanden. Nach diesem Prinzip reagieren in einer kupferfreien Klick-Chemie cyclooctinbasierte Sonden mit azidmodifizierten Sialinsäuren an der Zelloberfläche unter biokompatiblen Bedingungen (Abbildung S. 9, unten).11)
Fluorsubstituierte Cyclooctine verbesserten die Kinetik der Reaktion weiter und ermöglichten In-vivo-Imaging in Zebrafischen.12,13) Später entwickelte Joe Fox (University Delaware) das Feld weiter. Er publizierte die erste bioorthogonale Reaktion von Tetrazinen mit Cycloalkenen basierend auf einer Diels-Alder-Reaktion mit inversem Elektronenbedarf (bei der also das Dien elektronenarm und das Alken elektronenreich ist), die noch schneller abläuft.14) Die neuen Tetrazin-Verfahren klicken sogar im Sekundenbereich, was etwa für Superresolution-Mikroskopie gebraucht wird.
„Das Anwendungspotenzial der Klick-Chemie und deren Erweiterung im Feld der bioorthogonalen Chemie ist über die Jahre zu einem komplexen Bild gewachsen, in dem nun alle Teile des Puzzles vorhanden sind.“ So begründet Olof Ramström, ein Mitglied des Nobelpreiskomitees, die Vergabe des Preises an genau dieses Forschungsfeld und diese drei herausragenden Wissenschaftler in diesem Jahr. Es ist vermutlich den aktuellen Herausforderungen des Gesundheitssystems und nicht zuletzt der Covid-19-Pandemie zuzuschreiben, dass ein Forschungsfeld der Chemie Anerkennung findet, das maßgeblich zum besseren Verständnis biologischer Phänomene und dabei insbesondere von Glykanen beigetragen hat.
Mit der bioorthogonalen Chemie auf Basis der Klick-Chemie wurden diese Strukturen erstmals zugänglich gemacht und haben unser Verständnis von Krankheitsbildern erweitert.
Die adaptierbare Chemie wird mittlerweile weit über die Glykobiologie hinaus eingesetzt und dient dazu, bioaktive Moleküle, Proteine, DNA und RNA zu erforschen sowie Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADCs) für die Krebstherapie herzustellen. Außerdem finden Klick-Reaktionen routinemäßig Anwendungen in chemischen Laboren und ermöglichen materialwissenschaftliche Anwendungen, etwa zur Funktionalisierung von Oberflächen und Polymeren.
Die Autoren dieses Spotlights gehen davon aus, dass die Bedeutung hochselektiver bioorthogonaler oder Klick-Reaktionen noch wachsen wird und wir in Zukunft weitere Anwendungen in den molekularen Wissenschaften bewundern werden. Dafür brauchte es die wissenschaftlichen Leistungen der hier porträtierten Protagonisten, besonders aber auch die Fähigkeit Carolyn Bertozzis, die Bedeutung ihrer Forschung mitreißend zu vermitteln und damit Wissenschaftler:innen zu inspirieren. Vermutlich jeder Zuhörer eines Bertozzi-Vortrags wird hier zustimmen, im Fall des Autors Christian Hackenberger war es die GDCh-Liebig-Lectureship Bertozzis im Jahr 2002 während seiner Doktorarbeit. Seitdem hat ihn die bioorthogonale Chemie nicht losgelassen.
Die besondere Begabung Carolyn Bertozzis als Mentorin erlebte die Autorin Ulla Gerling-Driessen während ihres Postdoktorats an der Stanford-Universität. Dort spürte sie Bertozzis Motivation, einen nützlichen Betrag für die menschliche Gesundheit zu leisten. Es verwundert daher kaum, dass Carolyn Bertozzi bereits mehr als 250 Nachwuchswissenschaftler:innen aller Absolventenstufen ausgebildet hat.
Wie sehr sie als Mentorin geschätzt wird, zeigte sich am Abend der Bekanntgabe des Chemienobelpreises, als gegen 18 Uhr kalifornischer Zeit etwa 130 ihrer ehemaligen Mitarbeiter:innen, Doktorand:innen und Postdocs aus allen Zeitzonen in einem Zoom-Meeting zusammenkamen, um mit ihr auf den Nobelpreis anzustoßen.
Viele der ehemaligen Mentees und Zeitzeugen haben das Prinzip der bioorthogonalen Chemie in den Aufbau der eigenen Forschungsprofile und Arbeitsgruppen mitgenommen und tragen so dazu bei, dieses Forschungsfeld zu erweitern.
Für Ulla Gerling-Driessen ist Carolyn Bertozzi ein großes Vorbild – sowohl wissenschaftlich als auch in ihrer Rolle als Mentorin, Frau und Mutter sowie wegen ihres Einsatzes für Diversität in den Mint-Fächern. Gerling-Driessen war von 2016 bis 2019 Postdoc bei Carolyn Bertozzi und konnte dort sowohl wissenschaftlich als auch über Führungsqualitäten viel lernen. Heute forscht Gerling-Driessen als Nachwuchsgruppenleiterin im Team von Laura Hartmann an der Universität Düsseldorf. Mit ihrem Team verwendet sie bioorthogonale Chemie, um fehlerhafte Glykosylierung in seltenen Generkrankungen und in Krebs besser zu verstehen.Carolyn Bertozzi (links) mit Ulla Gerling-Driessen im Labor in Stanford. Foto: L. A. Cicero
Christian Hackenberger, Professor an der Humboldt-Universität Berlin und Leiter der Abteilung Chemische Biologie II am Leibniz-Forschungsinstitut für molekulare Pharmakologie, kennt Bertozzi seit 20 Jahren. Deren geniale Arbeit habe nicht nur generell Generationen von Chemikern inspiriert, mit selektiven chemischen Werkzeugen die Forschung in Biologie und Materialwissenschaften voranzubringen, sondern auch ihn persönlich: Mit seiner Gruppe entwickelt er bioorthogonale Verfahren, insbesondere auf Basis der Staudinger-Reaktion, für die Synthese natürlicher Proteinmodifikationen und die Erzeugung pharmakologisch relevanter Protein- und Antikörperkonjugate gegen Krebs, Alzheimer und virale Infektionen.Das Selfie von Christian Hackenberger und Carolyn Bertozzi entstand im November 2018 im Büro der Preisträgerin, als Hackenberger ein Seminar in Stanford gab und Bertozzi seine Gastgeberin war.
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