Industrie + Technik

Prof.Dr.

Was gilt als Start-up in der chemischen Industrie? Eine einheitliche Definition und Erhebungsmethode sollen dabei helfen, solche Unternehmen zu erkennen.
Unternehmensgr&uuml;ndungen in der chemischen Industrie tragen zur Innovationskraft ganzer <xref rid="nadc20224119176-fig-0001" ref-type="fig">Wertsch&ouml;pfungsketten</xref> bei. Sie gelten als wichtig, um Probleme etwa im Klima- und Umweltschutz oder beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft zu l&ouml;sen.
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<figcaption><label>Abb. 1: </label>garrykillian/Adobe Stock</figcaption>
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Versucht man das Gr&uuml;ndungsgeschehen der deutschen chemischen Industrie zu analysieren, unterscheiden sich Datenquellen schon bei der Zahl der Gr&uuml;ndungen teilweise um das Zwanzigfache. Innovative Start-ups sind dabei schwierig zu identifizieren.
Die Folgen sind wenige empirisch gesicherte Erkenntnisse &uuml;ber das Gr&uuml;ndungsgeschehen. Daher fehlen M&ouml;glichkeiten, F&ouml;rderma&szlig;nahmen f&uuml;r Start-ups der chemischen Industrie ausreichend zu bewerten.1) Hier ist ein Vorschlag, Start-ups in der Chemiebranche einheitlich zu erfassen. Die Erhebungsmethode entstand in einem Projekt an der Hochschule Fresenius zwischen September 2020 und Februar 2021.
<h2>Vier Quellen &ndash; vier Zahlen</h2>
Zu den untersuchten Quellen z&auml;hlen das Statistische Bundesamt, das Institut f&uuml;r Mittelstandsforschung Bonn, BCNP Consultants und das Mannheimer Unternehmenspanel des Leibniz-Zentrums f&uuml;r Europ&auml;ische Wirtschaftsforschung (ZEW).2-5) Der Vergleich der Daten (<xref rid="nadc20224119176-fig-0002" ref-type="fig">Abbildung</xref> 1) und deren offengelegter Erhebungsmethoden ergibt Unterschiede, etwa bei der Definition einer Unternehmensneugr&uuml;ndung: Stammt sie aus einer Hochschule oder nicht? Gilt der Innovationsgrad als relevant oder ist er zu ignorieren?
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<figcaption><label>Abb. 2: </label>Unternehmensneugr&uuml;ndungen in der chemischen Industrie in Deutschland in den Jahren 2015 bis 2017. Quellen: BCNP Consultants, Institut f&uuml;r Mittelstandsforschung (IfM) Bonn, Mannheimer Unternehmenspanel (MUP), Statistisches Bundesamt (Destatis)</figcaption>
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Lediglich BCNP wollte ausdr&uuml;cklich innovative Start-ups identifizieren.2) Allerdings basiert die Erhebung nach eigener Aussage auf der h&auml;ndischen Recherche durch Experten und nicht auf einer standardisierten Analyse von Unternehmensdatenbanken.
Wir wollten nun eine standardisierte Erhebungsmethode f&uuml;r Start-ups aus den High-Tech-Bereichen entwickeln und begannen mit der chemischen Industrie.
<h2>Welche Daten nutzen?</h2>
Eine Grundlage f&uuml;r eine standardisierte Analyse des Gr&uuml;ndungsgeschehens in der chemischen Industrie ist eine klare Abgrenzung der Chemiebranche von anderen. Zudem ist eine Datenbasis wichtig, die alle in Deutschland gegr&uuml;ndeten Unternehmen eines Jahrs erfasst.
Das Statistische Bundesamt klassifiziert die deutschen Wirtschaftszweige (WZ2008) und erm&ouml;glicht es so, die Chemiebranche abzugrenzen. Dabei entspricht die Abteilung 20 der chemischen Industrie.
In Deutschland gegr&uuml;ndete Unternehmen eines Jahrs erfasst das ZEW als Mannheimer Unternehmenspanel (MUP). Dieses ist deutschlandweit die umfangreichste Datenbasis dazu.7) Zweimal j&auml;hrlich &uuml;bermittelt die Unternehmensgruppe Creditreform dem ZEW einen Komplettabzug ihrer Datenbank f&uuml;r wissenschaftliche Zwecke. Creditreform erfasst alle Unternehmen in Deutschland, die in einem &bdquo;ausreichenden Ma&szlig;e&ldquo; wirtschaftsaktiv sind. Das MUP bildet die Grundgesamtheit der Unternehmen in Deutschland ab &ndash; inklusive Kleinstunternehmen und selbstst&auml;ndiger Freiberufler.
Die statistische Einheit des MUP ist das rechtlich selbstst&auml;ndige Unternehmen. Um die Unternehmensdaten als analysef&auml;higes Panel und insbesondere f&uuml;r das Bestimmen der j&auml;hrlichen Gr&uuml;ndungs- und Schlie&szlig;ungszahlen nutzbar zu machen, durchlaufen die Daten am ZEW Aufbereitungsprozesse: Fehleintr&auml;ge bereinigen, Mehrfacherfassungen erkennen, Existenzstatus ermitteln, der Hochtechnologie- und Wissensintensit&auml;tssystematik zuordnen.
Die Datenbank enth&auml;lt danach derzeit Informationen zu mehr als 9 Millionen Unternehmen. Zurzeit sind davon zirka 3,3 Millionen deutschlandweit im Markt.6,7)
<h2>F&uuml;nf Kriterien</h2>
Die vom ZEW zur Verf&uuml;gung gestellte Liste aller in einem Jahr gegr&uuml;ndeten Unternehmen der Abteilung 20 des WZ2008 enth&auml;lt keine Spezifikation der Unternehmen zu ihrem Innovationspotenzial.
Alle Unternehmen zu befragen, wurde verworfen. Erstens w&auml;re eine vollst&auml;ndige Erhebung mit hoher Wahrscheinlichkeit unm&ouml;glich, da nicht alle Unternehmen f&uuml;r ein Interview oder eine Befragung zur Verf&uuml;gung stehen. Zweitens w&auml;re der Aufwand einer solchen Erhebungsmethode an Zeit und Kosten enorm und im Rahmen des Forschungsprojekts nicht m&ouml;glich gewesen.
Daher war eine Methode notwendig, die sich jederzeit unabh&auml;ngig von den Unternehmen auf Basis &ouml;ffentlich verf&uuml;gbarer Daten durchf&uuml;hren l&auml;sst. Auf Rat von Experten der Gr&uuml;nderszene sowie nach Literatur- und Datenbankenanalysen2&ndash;5) ergaben sich f&uuml;nf Kriterien verteilt auf zwei Bl&ouml;cke (<xref rid="nadc20224119176-fig-0003" ref-type="fig">Abbildung</xref> 2). Anhand dieser Kriterien lassen sich innovative von nicht innovativen Unternehmen unterscheiden.
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<figcaption><label>Abb. 3: </label>Einschlusskriterien und Vorgehensmodell, um Gr&uuml;ndungen der chemischen Industrie zu klassifizieren. Ein innovatives Unternehmen ist eines, das die Basiskriterien und entweder mindestens ein Kriterium aus Block I oder mindestens zwei Kriterien aus Block II erf&uuml;llt.</figcaption>
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<h2>Neu gegr&uuml;ndet und chemisch</h2>
Die Basiseinschlusskriterien sind: &bdquo;neu gegr&uuml;ndet im aktuellen Jahr&ldquo; und &bdquo;zugeh&ouml;rig zur chemischen Industrie nach WZ2008 Abteilung 20&ldquo;. Anschlie&szlig;end wird eingeschlossen, wer entweder Block I oder II der Einschlusskriterien erf&uuml;llt.
F&uuml;r Block I gilt: Unternehmen werden dann eingeschlossen, wenn das Unternehmen &bdquo;Forschung und Entwicklung&ldquo; als einen Unternehmenszweck im Handelsregister oder auf der Webseite eingetragen hat. Mindestens ein Kriterium muss erf&uuml;llt sein.
F&uuml;r Block II gilt: Unternehmen werden dann eingeschlossen, wenn
<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>
das Unternehmen ein Patent beim Europ&auml;ischen Patentamt (EPA) oder Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) eingetragen hat und/oder
<list-item></list-item>
eine:r der Gesch&auml;ftsf&uuml;hrer:innen oder eine:r der Gesch&auml;ftsinhaber:innen ein Patent beim EPA oder DPMA angemeldet hat und/oder
<list-item></list-item>
&bdquo;Entwicklung&ldquo; als ein Unternehmenszweck im Handelsregister eingetragen ist.



Mindestens zwei Kriterien aus Block II m&uuml;ssen erf&uuml;llt sein.
Hat ein Unternehmen die Kriterien aus beiden Bl&ouml;cken gleichzeitig erf&uuml;llt, wurde es nicht gez&auml;hlt, um Doppelz&auml;hlungen zu vermeiden.
Schlie&szlig;lich wurde die Methode mit einer von BCNP zur Verf&uuml;gung gestellten Unternehmensliste getestet. F&uuml;r diese hatten Experten innovative Unternehmensgr&uuml;ndungen der chemischen Industrie identifiziert. Alle so getesteten Unternehmen hat die Methode eindeutig erfasst und als innovative Gr&uuml;ndungen der chemischen Industrie identifiziert.
<h2>Realistisches Bild</h2>
82 bis 91 Prozent der im jeweiligen Jahr neu gegr&uuml;ndeten Unternehmen der chemischen Industrie sind nach den hier vorgestellten Kriterien keine innovativen Unternehmen, also nicht forschungs- oder entwicklungsorientiert. Der Anteil innovativer Gr&uuml;ndungen betr&auml;gt entsprechend 9 bis 18 Prozent (<xref rid="nadc20224119176-fig-0004" ref-type="fig">Abbildung</xref> 3). Die von uns ermittelten Zahlen liegen f&uuml;r die Jahre 2016 und 2017 um zirka 30 Prozent &uuml;ber den von BCNP ermittelten und zwischen 80 bis 84 Prozent unter denen des IfM Bonn.
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<figcaption><label>Abb. 4: </label>Anteil innovativer Gr&uuml;ndungen der Jahre 2016 bis 2020 in der chemischen Industrie nach den Kriterien aus Abbildung 2. Datenbasis: MUP</figcaption>
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Da sich die erweiterten Kriterien des Blocks II auch auf Patente beziehen und diese erst mit einer Verz&ouml;gerung von einem Jahr nach Einreichen beim Patentamt ver&ouml;ffentlicht werden, ist in den Jahren AJ&ndash;1 und AJ&ndash;2 (AJ = Aktuelles Jahr) mit dem Untersch&auml;tzen der entsprechenden Zahlen zu rechnen.
Die von uns vorgeschlagene Methode eignet sich, ein Bild des Gr&uuml;ndungsgeschehens der chemischen und weiterer Industrien zu liefern, das realistischer ist als das blo&szlig;e Z&auml;hlen etwa durch das ZEW. Sie verwendet dazu &ouml;ffentlich zug&auml;ngliche Daten und Einschlusskriterien und l&auml;sst sich damit auch von Nichtexperten regelm&auml;&szlig;ig und mit &uuml;berschaubarem Aufwand durchf&uuml;hren.
Da die einzelnen Unternehmen durch die Analyse identifiziert werden, ist es dar&uuml;ber hinaus m&ouml;glich, jede Kohorte auch im Detail zu untersuchen, etwa auf Herkunft (Universit&auml;t, Forschungsinstitut, Industrie), regionale Verteilung, Forschungs- und Innovationsgebiete, Mitarbeiterzahlen, Finanzierung oder Rechtsform. Mit solchen Basisdaten lie&szlig;en sich Gr&uuml;ndungen in der chemischen Industrie wirkungsorientiert f&ouml;rdern.
<h2>Der Autor und die Autorin</h2>
Den Beitrag haben Stephan Haubold und Buket Calhanoglu verfasst. Der promovierte Chemiker Haubold ist Professor f&uuml;r Wirtschaftschemie an der Hochschule Fresenius in Idstein. Er engagiert sich als Gutachter, Berater und Coach f&uuml;r Start-ups. Calhanoglu ist seit Jahresbeginn beim in Irland ans&auml;ssigen Unternehmen Icon in Mannheim. Sie studierte Molekularbiologie in Mainz und Wirtschaftschemie an der Hochschule Fresenius. Die Autoren danken Sandra Gottschalk vom ZEW Mannheim f&uuml;r die freundliche Unterst&uuml;tzung.
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<ul class="references">
<li>1 R. Sternberg, Deutsche Gr&uuml;ndungsregionen, LIT Verlag Berlin 2006, 1&ndash;23</li>
<li>2 <a href="https://destatis.de" target="_blank" rel="noopener">destatis.de</a></li>
<li>3 <a href="https://ifm-bonn.org/statistiken/gruendungen-und-unternehmensschliessungen" target="_blank" rel="noopener">ifm-bonn.org/statistiken/gruendungen-und-unternehmensschliessungen</a>, 14.4.2021</li>
<li>4 <a href="https://chemistry-compass.eu" target="_blank" rel="noopener">chemistry-compass.eu</a>, 12.4.2021</li>
<li>5 M. Almus, D. Engel, S. Prantl, in M. Fritsch, R. Grotz, Das Gr&uuml;ndungsgeschehen in Deutschland. Darstellung und Vergleich der Datenquellen, Physica-Verlag Heidelberg 2002, 79&ndash;102</li>
<li>6 Statistisches Bundesamt, Klassifikation der WZ, SFG Servicecenter Fachverlage Wiesbaden 2008</li>
<li>7 J. Bersch, S. Gottschalk, B. Mueller, M. Niefert, The Mannheim Enterprise Panel (MUP) and Firm Statistics for Germany, ZEW Discussion Paper No. 14&ndash;104, Mannheim 2014</li>
</ul>

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