Gesellschaft Deutscher Chemiker

Artikel

Lebensmittelchemie 2024

Nachrichten aus der Chemie, September 2024, S. 54-61, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Lebensmittelchemie schützt die Verbraucher und gewährleistet authentische, hochwertige und sichere Lebensmittel, Kosmetika und Bedarfsgegenstände. Dabei nimmt sie bewusst Perspektiven etwa der analytischen Chemie, der Ernährungswissenschaften oder der Ökotoxikologie ein. So entsteht ein immer feineres Bild, wie unsere Lebensmittel zusammengesetzt sind und wie ihre Inhaltsstoffe physiologisch wirken. Zudem rücken neue Kontaminanten in den Fokus, die aus den Rohstoffen stammen oder während Verarbeitung und Lagerung der Lebensmittel entstehen.

Lipidanalytik und Lebensmittelauthentizität

Lipide sind nicht nur für den Nährwert von Lebensmitteln wichtig, sondern auch für deren sensorische Eigenschaften. Lipidanalytik ist in den letzten Jahren wichtiger geworden. Dabei werden häufig nicht-zielgerichtete, holistische Analysen eingesetzt: Sie liefern große Datenmengen und finden in dieser Form in vielen Lebenswissenschaften Anwendung. Damit lassen sich nicht nur medizinische oder biologische Fragen klären, sondern auch Prozesse verstehen und optimieren. Zudem eignen sich diese Analysen, um die Authentizität und Sicherheit von Lebensmitteln zu bestimmen und zu gewährleisten.1)

Analysemethoden

Die häufigsten Lipidomics-Analysemethoden basieren auf Massenspektrometrie (MS) und werden mit Chromatographie kombiniert. Für nicht-zielgerichtete Analysen ist hochauflösende Massenspektrometrie wichtig. Denn die dabei gemessene Masse und die MS/MS- Fähigkeiten moderner Orbitrap- oder Quadrupol-Flugzeitmassenspektrometrer(qTOF-MS)-Systeme erleichtern, einzelne Lipide zu identifizieren.

Für zielgerichtete quantitative Analysen sind klassische Applikationen mit Triple-Quadrupol immer noch der Goldstandard, was Sensitivität und Präzision angeht. Weil die meisten komplexen Lipide kaum flüchtig sind, kommen in der Regel flüssigchromatographische Methoden zum Einsatz. Je nach Frage variieren die Ausführungsarten:

So trennt die Umkehrphasen-Chromatographie an beispielsweise C8- oder C18-Säulen die Lipide vorrangig nach Kettenlänge und Doppelbindungszahl der Fettsäureketten.

Polare stationäre Phasen werden für überkritische fluide Chromatographie (super critical fluid chromatography, SFC) oder hydrophile Interaktionschromatographie (hydrophilic interaction chromatography, HILIC) eingesetzt. Sie erlauben, die Lipidklassen zu trennen etwa Fettsäuren, Sterole oder Triacylglyceride –, während sie Vertreter einzelner Klassen nur unzureichend trennen.

Für die Analyse spezifischer Lipidklassen eignet sich auch die Gaschromatographie. Einige der wichtigsten Techniken und den prinzipiellen Ablauf einer Lipidanalyse zeigt Abbildung 1. Die größten Schwierigkeiten bei der Analyse: Datenauswertung, verlässliche Identifizierung der einzelnen Analytmoleküle und chromatographische Trennung von isobaren – und somit massenspektrometrisch oft kaum unterscheidbaren – amphiphilen Lipiden.

https://media.graphassets.com/HMOqRywQOyzSapzqBAtb
Schritte der Lipidanalyse in Lebensmitteln und anderen Matrizes.

Was sich klären lässt

Die Daten aus Non-target-Analysen helfen, Fragen aus der Lebensmittelchemie zu beantworten. Dazu zählt unter anderem die Charakterisierung von Prozessen und wie diese die Zusammensetzung beeinflussen – etwa Lipidoxidation und die daraus entstehenden Verbindungen. Auch die Untersuchung von Rückständen in archäologischen Proben gehört dazu, womit sich Koch- und Ernährungsweisen der Vergangenheit rekonstruieren lassen.

Darüber hinaus lässt sich mit Non-target-Analysen bestimmen, ob ein Lebensmittel echt ist oder ob es enthält, was die Verpackung verspricht. Das interessiert vor allem Verbraucher:innen und die Lebensmittelindustrie, um die Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln zu gewährleisten. Schließlich ist das Verfälschen von Lebensmitteln ein seit der Antike bekanntes Problem.2) Für die Analyse kleiner Moleküle sind Lösungen bereits erhältlich; mit ihnen lässt sich beispielsweise bestimmen, ob ein Honig mit Zuckerwasser gestreckt ist und woher er stammt.

Mit Lipiden lässt sich zum Beispiel auch die Fischspezies mit Direkteinlass-HRMS ermitteln.3) Dazu erzeugt ein iKnife, also ein Elektroskalpell, bei Berührung mit dem Fischgewebe lipidreiche Dämpfe, die direkt mit Rapid-Evaporative-Ionisation-qTOF-MS analysiert werden.

Aber auch lipidarme Lebensmittel wie grüner Kaffee und Getreide haben unterschiedliche Lipidprofile.4,5) In Kaffee lässt sich anhand des Triacylglyceridprofils sowie der βN-alkanoyl-5-hydroxytryptamide zwischen Arabica- und Robusta-Sorten unterscheiden. Und in Getreiden eignen sich Alkylresorcine für eine Unterscheidung einzelner Sorten.6)

Lipidoxidation

In den letzten Jahren stand die ernährungsphysiologische Rolle der Lipide im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei wurden mehrere Lipidklassen identifiziert, die – vermutlich oder erwiesenermaßen – positiv auf die menschliche Gesundheit wirken. Ihre spezifischen Wirkungsweisen sind dabei immer besser verstanden worden.

Zu diesen Lipiden gehören etwa pflanzliche Sterole oder bestimmte mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Wie sich mehr und mehr zeigt, sind diese Substanzen oft nur eingeschränkt stabil; ihre Strukturen ändern sich durch Oxidation während der Lagerung, Verarbeitung oder Zubereitung von Lebensmitteln. Dabei verlieren sie nicht nur ihre ursprünglichen positiven Bioaktivitäten: Die entstandenen Oxidationsprodukte können unerwünschte Wirkungen haben.7) So beeinträchtigen sie etwa den Geschmack und das Aroma der Lebensmittel sowie letztlich deren Qualität und Sicherheit.

Eine Schwierigkeit liegt nun darin, diese Oxidationsprodukte analytisch zu erfassen. Denn jedes einzelne im Lebensmittel vorhandene Lipid kann etliche primäre und sekundäre Oxidationsprodukte bilden (Abbildung 2). Das Produktspektrum hängt dabei von der Lipidzusammensetzung ab, von den Umgebungsbedingungen wie Licht und Sauerstoff sowie der Aktivität bestimmter Enzyme.8) Dabei sind nicht nur Positions- und geometrische Isomere (cis/trans) zu betrachten, sondern auch Enantiomere. Die Bedeutung dieser Strukturfeinheiten zeigt sich beispielsweise bei den Lipidmediatoren (Oxylipinen), die im menschlichen Körper zirkulieren. Hier hängen die biologischen Aktivitäten von der exakten Struktur ab.

https://media.graphassets.com/qM0NLtrSwmxU4Ar2YSVy
Fettsäureprofil eines frischen Sonnenblumenöls. Oben: Bestimmung nach Umesterung durch Gaschromatographie gekoppelt mit Massenspektrometrie (GC-MS), unten: nach thermischer Belastung, wobei mehrfach ungesättigte Fettsäuren (18:2 Kohlenstoff:Doppelbindung) abgebaut werden und oxidierte Fettsäuren entstehen, etwa Oxofettsäuren (grüne Rauten), ω-Dicarbonsäuren (blaue Dreiecke), Epoxyfettsäuren (gelbe Kreise) oder Hydroxyfettsäuren (rote Donuts). Die oxidierten Fettsäuren wurden zusätzlich durch Festphasenextraktion in zwei Fraktionen angereichert.

Bei Lebensmitteln ist die genaue Strukturanalyse zum einen entscheidend, um Lebensmittelsicherheit und -qualität abzuschätzen. Zum anderen lassen sich damit die vorherrschenden Mechanismen der Lipidoxidation erkennen, was ermöglicht, lebensmitteltechnisch entgegenzusteuern. Zur gezielten und ungezielten Analyse des Epi-Lipidoms, also der Gesamtheit der oxidierten und anderweitig modifizierten Lipide, dienen vorrangig die beschriebenen chromatographischen und massenspektrometrischen Verfahren. Als neue Technik zeigt die Ionenmobilitätsspektrometrie großes Potenzial.9)

Lipide als Marker vergangener Ernährung

Angesichts der Oxidationsempfindlichkeit von Lipiden mag es überraschen, dass einige von ihnen über Jahrtausende und sogar Millionen Jahre überdauern. Dies trifft üblicherweise auf chemisch relativ resiliente Strukturen zu, etwa gesättigte Fettsäuren oder Alkohole. Als molekulare Fossile bieten sie Einblicke in frühere Ernährungsformen: In der organischen Rückstandsanalytik etwa werden keramische Fragmente, wie sie zu tausenden bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden, auf Lipidspuren untersucht. Die Lipide stammen aus den Lebensmitteln, aus denen sie während des Kochens in die poröse Keramik übergegangen sind und dort über Jahrtausende konserviert wurden (Abbildung 3).10)

https://media.graphassets.com/yCKtBhzQ8eXqHqMTOw6i
Ablauf der organischen Rückstandsanalytik: von der ursprünglichen Aufnahme der Lipide (links) über archäologische Funde (Mitte) und Analyse (rechts) zur Rekonstruktion der verwendeten Ressourcen.

Durch detaillierte Analyse der Lipidmoleküle und ihrer Isotopenmuster lässt sich rekonstruieren, welche Ressourcen verwendet wurden. Dies gewährt einen Einblick in die Ernährungsgewohnheiten der Zeiten, aus denen schriftlich nichts überliefert ist.

In den letzten Jahren fanden dabei vermehrt moderne Verfahren der Lipidanalytik und -omics Anwendung: hochauflösende Massenspektrometrie, kombinierte GC-MS- und LC-MS-Ansätze sowie chemometrische Verfahren.11,12) Dadurch sind die enthaltenen Lipide auch dann identifizierbar, wenn nur wenige Nanogramm pro Gramm Keramik vorliegen. In den nächsten Jahren wird zu klären sein, wie sich moderne Kontaminanten erkennen sowie robuste Referenzdaten generieren lassen und woran es liegt, dass manche Lipide in den Keramiken erhalten bleiben, andere aber nicht.

Simon Hammann, Sven W. Meckelmann

Spurenelemente – Biomarker und alternative Quellen

Ohne essenzielle Spurenelemente (SPE) wie Eisen, Zink, Kupfer und Selen funktionieren etliche biologische Prozesse nicht. Ein Ungleichgewicht dieser Mikronährstoffe begünstigt Entzündungen, Infektionen und Krebs.13) Die zugrundeliegenden Prozesse zu klären ist eine der aktuellen Aufgaben lebensmittelchemisch Forschender.

Besonders eine unzureichende Zufuhr, aber auch erhöhtes Alter, Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts und eine primär pflanzenbasierte Ernährungsweise fördern einen Mangel an Fe, Zn und Se. Mehr und mehr Menschen wollen sich nachhaltig sowie klimafreundlich und daher pflanzenbasiert ernähren; gleichzeitig wird die Bevölkerung in Europa immer älter. Daher wird es künftig schwierig, alle Menschen mit ausreichend SPE zu versorgen. Das gilt neben den für Mangelernährung und hidden hunger bekannten Gebieten auch für den globalen Norden. Es bedarf daher Strategien, um eine adäquate SPE-Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Eine Möglichkeit sind mit SPE angereicherte Insekten und Hefen, denn die Nachfrage nach alternativen Protein- und SPE-reichen Nahrungsmitteln steigt (Abbildung 4).

https://media.graphassets.com/VLpmH5GfRy2CLpV0a2xd
Charakterisierung von mit Spurenelementen (SPE) angereicherten Hefen und Insekten als vielversprechende organische SPE-Quellen.

Spurenelementquellen: Insekten und Hefen

In den letzten Jahren wurden Gelbe Mehlwurmlarven, die Wanderheuschrecke, Grillen und Getreideschimmelkäfer in der EU als Novel Food zugelassen. Sie dürfen zu Lebensmitteln verarbeitet und als Futtermittel eingesetzt werden. Damit die EFSA weitere Insekten als Lebensmittel zulässt, ist zunächst zu klären, ob diese mit Pathogenen und Schwermetallen belastet sind – und wenn ja, wie stark.14)

Unseren Studien zufolge steigert eine Anreicherung der Insekten mit SPE ihren SPE-Gehalt, gleichzeitig sinkt der Gehalt an toxischen Elementen wie Cadmium. Dies erhöht ihr Anwendungspotenzial im Lebens- und Futtermittelsektor.14)

Insekten lassen sich über ihr Futter überwiegend gut mit SPE anreichern. Wie gut die SPE im Menschen während der Verdauung freigesetzt und absorbiert werden, scheint aber stark von der jeweiligen Insektenspezies abzuhängen und davon, ob SPE-bindende Komponenten wie Chitin vorliegen.14)

Insekten werden in Europa als Lebensmittel überwiegend in Form von Proteinisolaten oder eingearbeitet in Produkte wie Nudeln, Riegel und ähnliches konsumiert. Daher muss künftig näher untersucht werden, wie die Verarbeitung die Bioverfügbarkeit der SPE beeinflusst. Zudem wird wichtig werden, welchen Einfluss die SPE-Versorgung der Insekten unter den Anzuchtbedingungen der Industrie hat und wie sie sich in der zu erwartenden Massenproduktion auf die Gesundheit der Insekten auswirkt. Dies ist in weiteren Studien zu prüfen.

SPE-angereicherte Hefen sind eine weitere Alternative, um die Bevölkerung mit SPE zu versorgen. Sie sind kostengünstig, einfach und schnell mit Biomasse herzustellen; ihre Protein- und Vitamingehalte sind hoch. In der EU sind Se-angereicherte Hefen bereits verfügbar; Zn-Hefen sind noch nicht zugelassen. Hierfür sind Studien zur chemischen Charakterisierung der Zn-Spezies erforderlich, die den Anteil an organischen Zn-Aminosäure- oder -Protein-Komplexen klären sowie den an anorganischen Zn-Phosphat- oder -Sulfatspezies. Studien – nach intestinalem Verdauvorgang und Absorption der Zn-Hefe – zeigen eine vielversprechende Zn-Biozugänglichkeit und -Bioverfügbarkeit aus der Hefenmatrix (Abbildung 4).15)

Prävention und Biomarker

Um Gesundheit zu erhalten und Krankheiten vorzubeugen, sollte ein Mangel an SPE früh erkannt werden. Die DFG-Forschungsgruppe TraceAge versucht daher, einen SPE-Fingerabdruck zu erstellen, Biomarker zum Screening der humanen SPE-Versorgung zu etablieren und zu klären, wie sich die essenziellen SPE auf zellulärer Ebene während des Alterns und Erkrankungen gegenseitig beeinflussen. Einige wichtige Erkenntnisse gab es zur Interaktion der Se- und Cu-Homöostase bei Stoffwechselerkrankungen:16,17) Wie Schwarz et al. zeigen, verhindert die Speicherung von Kupfer in der Leber, wie sie etwa bei Morbus Wilson auftritt, den Export des Selenoproteins P aus den Leberzellen (Hepatozyten) und senkt dadurch dessen Serumkonzentrationen.17) Das kann für den Rest des Körpers bedeuten: Wenn so viel Cu gespeichert ist, steht Se nicht für Stoffwechselvorgänge zur Verfügung, sondern bleibt in der Leber gefangen. Wie diese Ergebnisse verdeutlichen, lassen sich Cu- und Se-Homöostase durch den Gesundheitsstatus und genetische Faktoren modulieren.

Zudem wurden vielversprechende SPE-Serummarker für Cu und für Zn etabliert. Die für Cu basieren auf der Erfassung labil gebundenen und austauschbaren Kupfers (exchangeable Cu),16) die für Zn auf der Analyse des freien Elements.18) Beide Metallspezies sind nicht fest an Proteine gebunden, gelten daher als schnell für Zellen verfügbar und biologisch aktiv und bilden vermutlich die Cu- und Zn-Homöostase empfindlich ab.

Diese Serummarker finden sich bei allen Menschen, sind aber deutlich verändert bei solchen, die beispielsweise an Morbus Wilson oder Covid-19 erkrankt sind. Dies verdeutlicht, wie wichtig diese Marker sind – einerseits in der Diagnostik und andererseits, um den Zusammenhang zwischen SPE-Status und Erkrankungen zu ermitteln.16)

Maria Maares

Gefahr durch Algentoxine

Fisch ist eine wichtige Quelle für Proteine und Nährstoffe wie langkettige, mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren. Während die Gesamtproduktionsmenge an Fisch dem halbjährlichen Bericht der Vereinten Nationen zufolge immer weniger wächst (+0,6 % im Jahr 2023 verglichen mit 2022), steigt die Aquakulturproduktion weiterhin.19) Ihr wird eine wesentliche Rolle bei Hungerbekämpfung und Gesundheitsförderung zugeschrieben. Sie steht aber auch in der Kritik, da die eingesetzten Antibiotika Mensch und Umwelt belasten und zu Resistenzen beitragen.

Eine Gefahr für die Aquakultur sind schädliche Algenblüten (harmful algal blooms, HABs). Diese werden durch Mikroalgen – mikroskopisch kleine Organismen – ausgelöst. Dies geschieht entweder durch einen Verdrängungseffekt, wenn die Mikroalgen massenhaft auftreten, oder wenn sie Toxine (Phykotoxine, Algentoxine) produzieren.

Algenblüten können in Seen vorkommen, in Brackwasser, in Meeresgewässern und in der Aquakultur mit Kreislaufsystemen und sind eine erhebliche Bedrohung. Sie treten immer häufiger in immer größerem Ausmaß auf, begünstigt durch Einflussfaktoren wie höhere Wassertemperaturen oder menschengemachte übermäßige Anreicherung des Wassers mit Nährstoffen (anthropogene Eutrophierung).20) Auch das Ballastwasser von Schiffen ist eine wesentliche Verbreitungsquelle.

Die Umweltfaktoren, die die Blütendynamik antreiben, sind nicht vollständig bekannt. Das erschwert, Vorhersagemodelle zu entwickeln. Dennoch bringen Mikroalgen nicht nur Negatives mit sich: Als Teil des Phytoplanktons sind sie im marinen Ökosystem wesentlich etwa als Nährstoff für Tiere. Zudem sind sie für den Kohlendioxidabbau und damit für die Sauerstoffproduktion weltweit von Bedeutung.

Analysemethoden

Zu den Phykotoxinen, die primär für den Menschen giftig sind, gehören Domoinsäure und Saxitoxine. Für sie gibt es Analysemethoden, und teilweise lassen sie sich sogar an Bord eines Schiffs mit LC-MS analysieren.21) Limitierend sind in diesem Zusammenhang die Verfügbarkeit und die hohen Kosten kommerzieller Standards.

Bei den primär fischtoxischen (ichthyotoxischen) Substanzen sind die Analysemethoden zur Identifizierung und Quantifizierung der verantwortlichen Toxine begrenzt. Oft ist nur der verursachende Organismus bekannt, nicht aber die verantwortlichen chemischen Verbindungen oder der genaue toxische Mechanismus. Diese Verbindungen zu identifizieren und zu reinigen ist schwierig, unter anderem wegen des Haftens der Moleküle auf Oberflächen, der Größe der Moleküle, die für die Strukturaufklärung zu groß sind, und weil schon Kleinstmengen hohes toxisches Potenzial haben.

Mechanismus der Schädigung

Viele fischtoxische Verbindungen haben gemein, dass sie auflösende (lytische) Substanzen bilden, die vor allem das empfindliche Kiemengewebe der Fische irreparabel schädigen und oft zum Erstickungstod führen. Zu den wichtigsten weltweit verbreiteten marinen Arten gehören die Dinoflagellate der Gattungen Alexandrium, Karenia und Karlodinium, die Raphidophyten Chattonella und Heterosigma sowie die Haptophyten Chrysochromulina und Prymnesium.19)

HABs können die gesamte Fischpopulation eines betroffenen Gebiets innerhalb weniger Tage ausrotten. So kamen beim Fischsterben im Fluss Oder in Polen und Deutschland im Sommer 2022 (Abbildung 5) schätzungsweise 1000 Tonnen Fische sowie Schnecken und Muscheln um.22) Verursacher war Prymnesium parvum. Diese Mikroalge ist eigentlich eine Brackwasseralge, konnte aber durch eine Besonderheit gedeihen: Da die Bergbauindustrie Abwässer in den Fluss leitete und es sehr trocken war, stieg lokal der Salzgehalt in der Oder. Die hohe Nährstoffkonzentration ließ die Algen wachsen.23)

https://media.graphassets.com/OQsjnkWpSbarNZE71sa5
Fischsterben im Fluss Oder im Sommer 2022 in Deutschland und Polen. Foto: Luc De Meester/IGB

Im Fall von P. parvum heißen die Ichthyotoxine Prymnesine. Erstmals wurden Prymnesin-1 und Prymnesin-2 in den 1990er Jahren beschrieben.24) Mittlerweile sind mehr als 50 Prymnesine durch LC-MS charakterisiert. Sie bestehen aus einem Polyethergrundgerüst mit einer primären Aminogruppe und ein bis vier Chloratomen. Dazu kommen bis zu drei Zuckereinheiten, die aus Pentose- oder Hexose-Zuckern oder beiden bestehen.

Eingeteilt werden sie nach der Zahl der Kohlenstoffatome im Rückgrat in Typ-A-, Typ-B- und Typ-C-Prymnesine (91, 85 beziehungsweise 83 Kohlenstoffatome, Abbildung 6).25) Das zytotoxische Potenzial ist A > C > B und liegt im niedrigen bis mittleren nanomolaren Bereich (zum Beispiel ein Typ-A-Isolat 4,0 ± 0,2 nmol · L–1, Typ C 9,8 ± 0,8 nmol · L–1 beziehungsweise Typ B 100 ± 11 nmol · L–1).26)

https://media.graphassets.com/feyzZFS6SYiZuUxsunvP
Grundstruktur von Typ-A- und Typ-B-Prymnesinen (oben bzw. unten), der von der Mikroalge P. parvum produzierten fischschädigenden Gifte (Ichthyotoxine). Unterschiede zwischen A und B in blau und rot. Die Grundstruktur von Typ C ist noch nicht vollständig geklärt. Typ A enthält ein, zwei oder drei Chloratome; Typ B ein oder zwei Chloratome, wobei C-1 immer chloriert ist.

Jeder P.-parvum-Stamm generiert nur Prymnesine eines Typs, aber teilweise mehr als zehn unterschiedliche Analoga.25) Standards dieser Analoga zu charakterisieren und zu produzieren ist Voraussetzung für quantitative Analysemethoden, ist aber bislang schwierig. Um sichere Lebensmittel zu gewährleisten, ist dies aber genauso wichtig, wie weitere ichthyotoxische Verbindungen anderer Mikroalgenarten zu ermitteln.

Elisabeth Varga

Drei Fragen an den Autor und Koordinator: Simon Hammann

Ihre Forschung in 140 Zeichen?

Die Eigenschaften, Reaktivitäten und Reaktionsprodukte von Lipiden in Lebensmitteln und darüber hinaus.

Welcher Trend ist in den letzten zwölf Monaten aufgekommen, den Sie so nicht erwartet haben?

Generative KI ist mit Wucht in Forschung und Lehre angekommen (man denke an die mittlerweile berüchtigte Ratten-Abbildung),i) und wir müssen nun lernen, richtig damit umzugehen und unseren Umgang damit regelmäßig überprüfen.

Was brauchen Sie heute im Beruf, was Sie im Studium nicht gelernt haben?

Man muss die für die Erforschung von Neuem essenzielle Neugierde mitbringen, Dinge wie Frustrationstoleranz, Resilienz und soziale Aspekte (Netzwerken mit Kolleg:innen, Leitung einer Arbeitsgruppe) auf dem Weg lernen. Ein Austausch mit anderen über all dies lohnt immer.

i) doi: 10.3389/fcell.2023.1339390

Simon Hammann, Jahrgang 1987, ist seit März 2024 Professor für Lebensmittelchemie und Analytische Chemie in Hohenheim. Seine Schwerpunkte sind Lipide und Lipidoxidationsprodukte in Lebensmitteln; seit seinem Postdoktorat in Bristol auch archäologische Proben. Er studierte Lebensmittelchemie an der Universität Hohenheim, wo er auch promovierte. Von 2019 bis 2024 war er Juniorprofessor in Erlangen. Im Jahr 2023 erhielt er den Werner-Baltes-Preis der Lebensmittelchemischen Gesellschaft.https://media.graphassets.com/tbxSOdiQRf2JRDnwoqQ4

Die drei Fragen wählen die Autor:innen aus einem redaktionell erstellten Fragenkatalog.

Drei Fragen an die Autorin: Maria Maares

Welche Erkenntnis der letzten zwölf Monate war für Ihre Forschung besonders wichtig?

Dass das Spurenelement Zink essenziell für die Synthese und Komposition, besonders die O-Glykosylierung, des Schleims im Magen-Darm-Trakt (intestinaler Mukus) ist.

Was würden Sie gerne entdecken oder herausfinden?

Ich möchte entschlüsseln, wie sich eine veränderte Spurenelement-Homöostase – insbesondere von Zink und Selen – auf die Zusammensetzung des (intestinalen) Mukus auf molekularer Ebene auswirkt, und die Folgen für entzündliche Erkrankungen besser verstehen.

Was brauchen Sie heute im Beruf, was Sie im Studium nicht gelernt haben?

Als Wissenschaftlerin sind Neugierde, Erfindungsgeist, Durchhaltevermögen und Resilienz unerlässlich und im Studium nicht erlernbar. Zudem war mir als Studentin nicht bewusst, wie fruchtbar und essenziell es für die Forschung sein kann, mit Wissenschaftler:innen unterschiedliche Gebiete zu kooperieren.

Maria Maares, Jahrgang 1989, ist Vertretungsprofessorin für Lebensmittelchemie an der Universität Potsdam und im Jahr 2024 an der Universität Lille tätig. Ihre Schwerpunkte sind Spurenelemente, insbesondere Zink, deren Rolle für das Mukus-O-Glycome und die Erforschung alternativer organischer Zink-Quellen. Sie studierte und promovierte an der TU Berlin und war Postdoktorandin in der Forschungsgruppe Trace Age.https://media.graphassets.com/s4cmc17zTZqPDZHNlQo9

Die drei Fragen wählen die Autor:innen aus einem redaktionell erstellten Fragenkatalog.

Drei Fragen an den Autor: Sven W. Meckelmann

Ihre Forschung in 140 Zeichen?

Lipide und deren Metaboliten besser verstehen, um personalisierte Medizin zu fördern und die Authentizität von Lebensmittel zu bestimmen.

Was sind derzeit Ihre Hauptforschungsprojekte?

Die Entwicklung einer neuen Heart-Cut-LC-MS-Methode zur Bestimmung von Sterolen, um den Sterol-Metabolismus in Krebsarten besser zu verstehen. Zudem entwickeln wir Methoden zur schnelleren Bestimmung von Metaboliten sowie neue Extraktionsmethoden, die „grüne“ Lösungsmittel nutzen.

In welchem Gebiet erwarten Sie in den nächsten zwölf Monaten die größten Entwicklungen und warum?

Die Geschwindigkeit, mit der Anwendungen der Künstlichen Intelligenz entwickelt und eingesetzt werden, ist atemberaubend. Dieser Trend wird in den nächsten Monaten und Jahren anhalten und insbesondere die Auswertung großer und komplexer Datensätze revolutionieren.

Sven W. Meckelmann, Jahrgang 1984, arbeitet seit 2016 an der Universität Duisburg-Essen, seit 2021 als akademischer Rat im Arbeitskreis von Oliver J. Schmitz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Charakterisierung von Lipiden in Lebensmitteln und bei krankheitsbedingten Stoffwechselveränderungen. Er studierte und promovierte an der Bergischen Universität Wuppertal und absolvierte ein Postdoktorat in Cardiff (UK).https://media.graphassets.com/heYLhq7cSSGqys5aNaYe

Die drei Fragen wählen die Autor:innen aus einem redaktionell erstellten Fragenkatalog.

Drei Fragen an die Autorin: Elisabeth Varga

Was würden Sie gerne entdecken oder herausfinden?

Ich würde gerne zur Lebensmittelsicherheit beitragen, indem ich mit einem internationalen, interdisziplinären Team herausfinde, warum es zu gewissen Algenblüten kommt und wie wir deren Auftreten künftig einschränken können. Denn es wird vermutlich nicht möglich sein, sie zu verhindern.

Ihre Forschung in 140 Zeichen?

Auf den Spuren natürlicher Toxine – LC-MS-Analytik und In-vitro-Toxizität von Biotoxinen im interdisziplinären und -nationalen Kontext.

In welchem Gebiet erwarten Sie in den nächsten zwölf Monaten die größten Entwicklungen und warum?

In der Prymnesium/Prymnesin-Forschung. Durch die Oder-Katastrophe ist in Deutschland und Polen viel Geld in die Erforschung dieser Mikroalgenart und deren Toxine geflossen, und neue Projekte wurden bewilligt. In den nächsten Jahren werden wir die Früchte dieser Forschungen ernten können. Leider braucht es eine Katastrophe und damit höhere Priorität, um Forschung in diesem Bereich zu ermöglichen.

Elisabeth Varga, Jahrgang 1985, ist seit September 2023 Assistenzprofessorin für Analytische Chemie an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Ihre Schwerpunkte sind Kontaminantenanalytik (insbesondere Mykotoxine) und fischtoxische Algentoxine. Sie absolvierte das Masterstudium „Safety in the Food Chain“ und promovierte an der Universität für Bodenkultur Wien; es folgten mehrere Postdoktorate, unter anderem in Dänemark.https://media.graphassets.com/zGEShCFwQx6pXvuSOx5e

Die drei Fragen wählen die Autor:innen aus einem redaktionell erstellten Fragenkatalog.

  • 1 Z. Tietel, S. Hammann, S. W. Meckelmann, C. Ziv, J. K. Pauling, Compr. Rev. Food Sci. Food Saf. 2023, 22, 4302
  • 2 K. Robson, M. Dean, S. Haughey, C. A. Elliott, Food Control. 2021, 120, 107516
  • 3 M. de Graeve, N. Birse, Y. Hong et al., Food Chem. 2023, 404, 134632
  • 4 A. C. R. Silva, R. Garrett, C. M. Rezende, S. W. Meckelmann, J. Food Compos. Anal. 2022, 111, 104587
  • 5 S. Schneider, S. Hammann, H. Hayen, J. Agric. Food Chem. 2023, 71, 11263
  • 6 S. Hammann, A. Korf, I. D. Bull, H. Hayen, L. J. E. Cramp, Food Chem. 2019, 282, 27
  • 7 S. A. Vieira, G. Zhang, E. A. Decker, J. Americ. Oil Chem. Soc. 2017, 94, 339
  • 8 K. M. Schaich, Challenges in Elucidating Lipid Oxidation Mechanisms. In: Lipid Oxidation: Elsevier 2013, S. 1–52
  • 9 K. M. Da Silva, M. Wölk, P. Nepachalovich et al., Anal. Chem. 2023, 95, 13566
  • 10 S. Hammann, D. J. Scurr, M. R. Alexander, L. J. E. Cramp, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2020, 117, 14688
  • 11 S. Hammann, R. R. Bishop, M. Copper et al., Nat. Commun. 2022, 13, 5045
  • 12 R. Vykukal, A. Gabiger, L. Cramp, S. Hammann, TrAC – Trend. Anal. Chem. 2024, 117668
  • 13 J. Bornhorst, A. P. Kipp, H. Haase, S. Meyer, T. Schwerdtle, TrAC – Trend. Anal. Chem. 2018, 104, 183
  • 14 C. Keil, M. Maares, N. Kröncke, R. Benning, H. Haase, Sci Rep. 2020, 10, 20033
  • 15 M. Maares, C. Keil, L. Pallasdies et al., J. Trace Elem. Med. Biol. 2022, 71, 126934
  • 16 T. S. Chillon, M. Tuchtenhagen, M. Schwarz et al., J. Trace Elem. Med. Biol. 2024, 84, 127441
  • 17 M. Schwarz, C. E. Meyer, A. Löser et al., Nat. Commun. 2023, 14, 3479
  • 18 W. Alker, T. Schwerdtle, L. Schomburg, H. A. Haase, Int. J. Mol. Sci. 2019, 20
  • 19 Food and Agriculture Organization of the United Nations FAO, Food Outlook 2023. t1p.de/yp0oh
  • 20 A. H. Daranas, M. Norte, J. J. Fernández, Toxicon. 2001, 39, 1101
  • 21 D. M. Anderson, A. D. Cembella, G. M. Hallegraeff, Ann. Rev. Mar. Sci. 2012, 4, 143
  • 22 J. Köhler, E. Varga, S. Spahr et al., doi: 10.21203/rs.3.rs-3792221/v1 (Preprint)
  • 23 G. Free, W. Van de Bund, B. Gawlik et al., Publications Office of the European Union 2023, doi: 10.2760/067386
  • 24 T. Igarashi, M. Satake, T. Yasumoto, J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 8499
  • 25 S. B. Binzer, D. K. Svenssen, N. Daugbjerg et al., Harmful Algae 2019, 81, 10
  • 26 E. Varga, H.-C. Prause, M. Riepl et al., Arch. Toxicol. 2024, 98, 999

Wissenschaft + ForschungTrendberichte

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...

Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.