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„Meine Eltern wissen immer noch nicht genau, was das Konstrukt Uni ist“

Nachrichten aus der Chemie, Mai 2025, Seite 27, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

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Würden Sie heute mit dem Studium anfangen, bestünden Ihre Kommiliton:innen je zur Hälfte aus Studierenden mit Akademiker- und Nichtakademiker-Eltern. Klingt fair, allerdings sind es in Deutschlands Grundschulen dreimal so viele Nichtakademikerkinder wie solche, bei denen zumindest ein Elternteil einen Studienabschluss hat.1) Und auf jeder Ausbildungsstufe dünnt sich der Anteil der Nichtakademikerkinder aus.2)

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Für Arbeiterkinder und deren Eltern ist die Universität (hier der Campus des MIT in Cambridge) mitunter ein krummes Konstrukt. Fotos: Alevtina (oben), JStock (unten) / Adobe Stock

Hendrik Jonas ist seit dem Jahr 2021 promovierter Chemiker, und er ist Arbeiterkind: Seine Mutter arbeitet als Kassiererin bei Aldi, sein Vater war vor der Rente Schichtleiter in einem Lager. Er ist also Teil der 1,8 Prozent aller Nichtakademikerkinder mit Doktortitel. Mit Akademikereltern steht der Zähler bei 5,4 %.1) In seiner Klasse konnte er als Erster lesen, und Rechnen war auch kein Problem. „Nach der Grundschule war es trotzdem Zufall, dass ich auf das Gymnasium gekommen bin. Meine Eltern waren selbst auf Realschulen, also fanden sie, ich wäre da auch gut aufgehoben.“ Nur weil zufällig die Orientierungsstufe abgeschafft wurde, die sie für ihn vorgesehen hatten, kam die Option Gymnasium zur Sprache. Eine seiner Tanten war auf demselben Gymnasium, wo er später landete. „Daher wussten meine Eltern: ‚Das kriegt er hin.‘“

Akademikerkinder profitieren von den Menschen in ihrem Umfeld, die als Vorbilder herhalten und das Studium entmystifizieren. Bei Jonas‘ Eltern war das anders. Er meint: „Sie wissen immer noch nicht genau, was das Konstrukt Uni ist – sie stellen sich das wie eine weiterführende Schule vor.“ Stattdessen verhalfen ihm Zufälle zur Unikarriere.

Bei einem Berufstest in der Mittelstufe kristallisierten sich für ihn technische Assistenzberufe heraus. Seine andere Tante ist medizinisch-technische Assistentin, meinte jedoch, er solle sich das überlegen, schließlich müsse man für die Ausbildung zahlen. Und wenn er sowieso Geld ausgebe, könne er auch gleich studieren. Sie organisierte ihm ein Praktikum am Institut für Neurophysiologie in Münster, bei dem er einem Biologiestudenten erzählte, dass auch er in Bio gut sei. Dieser behauptete, mit diesem Studium könne man nur Biolehrer werden, und Jonas glaubte das. Also lieber Biochemie? Zur selben Zeit hatte er eine Englisch-Nachhilfelehrerin – zufällig Chemiestudentin. Sie erklärte ihm, Biochemie sei Teil des Chemiestudiums, und ein reines Biochemiestudium sei weniger flexibel. Das Chemiestudium dagegen gäbe einen Einblick in alle Fachrichtungen. „Sie war mir in ihrer Karriere immer ein paar Jahre voraus, und ich konnte mich an ihrem Weg entlanghangeln.“ Dass sie seinen Werdegang so stark beeinflusst hat, meint er, wisse sie vermutlich gar nicht.

Ebenfalls von seiner Nachhilfelehrerin hörte er erstmals davon, dass der Staat Kredite fürs Studium verteilt – derzeit maximal 664 Euro (992 Euro, wenn man nicht mehr bei den Eltern wohnt). Zu seinen Finanzen im Studium sagt Jonas: „Von meinen Eltern habe ich außer für Klamotten kein Geld bekommen. Sie erwarteten einfach, dass ich neben dem Studium arbeite. Hätte ich Geld gebraucht, hätten sie mir aber welches gegeben.“ Geld verdiente er jedes Wochenende beim Kellnern, anders seine Kommiliton:innen: Nur von einer Kommilitonin weiß er, die ebenfalls arbeitete. Fächerübergreifend arbeiten 67 Prozent der Nichtakademiker-Studierenden, 7 Prozentpunkte mehr als unter denen mit studierten Eltern. Das Motiv unterscheidet sich jedoch: Zwei Drittel der Arbeiterkinder brauchen den Nebenjob unbedingt zum Finanzieren des Lebens – bei der Hälfte der Akademikerkinder ist es Bonus.3)

Dass die Arbeit neben dem Studium seiner Karriere geschadet haben könnte, glaubt Jonas nicht. Er sagt: „Der Job hat mir Spaß gemacht, ich hätte bestimmt mehr für das Studium machen können, aber wen interessieren die Noten von damals? Dafür habe ich an Menschenkenntnis dazugewonnen.“ Auch sein Elternhaus empfindet er überhaupt nicht als Nachteil. Als er sechzehn Jahre alt war, habe ihn sein Vater das erste Mal zu dessen Arbeit mitgenommen, und ab da habe er Ferienjobs gemacht. „Wenn Leute mit Mitte zwanzig bei ihrem ersten Arbeitsvertrag klagen, Arbeit sei so schwer, denk‘ ich mir, Geld kriegt man eben nicht umsonst.“ LB

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