Gesellschaft Deutscher Chemiker

Trendbericht Biochemie 2022

Späte Funktionalisierung mit Biokatalysatoren aus Naturstoffsynthesen

Nachrichten aus der Chemie, Juli 2022, S. 62-65, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Über spezialisierte Enzyme, Affinitätsselektionsmethoden, um bioaktive Substanzen zu entdecken, hochauflösende Strukturanalyse von Proteinkomplexen und die Kombination von Bio- und Photokatalyse.

Der diesjährige Trendbericht umfasst vier Teilbeiträge: Der Abschnitt „Späte Funktionalisierung mit Biokatalysatoren aus Naturstoffsynthesen“ beschäftigt sich mit der Frage, wie sich funktionelle Gruppen gezielt in Moleküle einführen lassen, ohne auf langwierige Schutzgruppenstrategien rückgreifen zu müssen. Dabei können spezialisierte Enzyme helfen, die vielfach in natürlichen Synthesewegen von Naturstoffen vorkommen. Es gibt einige Beispiele, wie sich diese Enzyme in der chemischen Synthese nutzen lassen.

Im Abschnitt „Bioaktive Substanzen entdecken: von Display-Methoden zu selbstkodierten Substanzbibliotheken“ geht es darum, neue bioaktive Substanzen zu identifizieren – das ähnelt manchmal der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Affinitätsselektionsmethoden beschleunigen diesen Prozess, indem sie Milliarden Substanzen gleichzeitig screenen. Selbstkodierte Substanzbibliotheken erweitern die Möglichkeiten und Substanzklassen.

Der Abschnitt „Strukturbiologie an der Schnittstelle zwischen Mensch und Mikrobe“ behandelt Interaktionen. Mikroben interagieren mit unserem Körper sowohl auf symbiotische als auch auf pathogene Art. Proteinkomplexe sind das Bindeglied zwischen Körper und Mikroben und daher ein wichtiges Ziel für therapeutische Interventionen. Für diese ist hochauflösende Strukturanalyse der Interaktionsfläche von entscheidender Bedeutung.

Und im Abschnitt „Enzymatische Photokatalyse“ geht es um die Kombination von Biokatalyse und Photokatalyse. Sie eröffnet neue Möglichkeiten für nachhaltige Synthesestrategien, denn Lichtanregung erweitert das Spektrum enzymatischer Reaktionen. Kürzlich entwickelte Photoenzyme erlauben unter anderem stereoselektive Radikalreaktionen. Eine Auswahl wird präsentiert.

Späte Funktionalisierung mit Biokatalysatoren aus Naturstoffsynthesen

Naturstoffe in Pflanzen, Pilzen, Bakterien und Archaeen sind reich an funktionellen Gruppen. Diese werden durch spezialisierte Enzyme installiert, oft gegen Ende des Synthesewegs.

Auch in der medizinischen Chemie ist das gezielte Einführen funktioneller Gruppen wichtig, um die gewünschten biologischen und pharmakologischen Eigenschaften von Molekülen zu erreichen. Hierbei ist es oft schwierig, eine hohe Regio- und Stereospezifität zu erzielen, und es sind Umwege über Schutzgruppen nötig. Um Synthesewege effizienter und nachhaltiger zu machen, suchen und nutzen Wissenschaftler zunehmend Enzyme als biologische Katalysatoren für diese Syntheseschritte. Gerade Synthesewege von Naturstoffen sind hierbei wahre Schatzkisten an Enzymen, die die gewünschte Aktivität aufweisen.

Beim Heben dieses Schatzes gibt es drei wesentliche Hürden: das Priorisieren der Enzymkandidaten für eine Charakterisierung der Funktion, das Untersuchen der Enzymaktivität in vitro und die Optimierung der Enzymaktivität für die gewünschte Anwendung (Abbildung). Dieser Artikel zeigt Lösungsansätze der letzten drei Jahre.

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Entdecken neuer Enzyme für biokatalytische Anwendungen in der medizinischen Chemie. Das Darstellen von Enzymfamilien als Netzwerke erleichtert die Auswahl und die Priorisierung von Kandidaten für Aktivitätsstudien. Strukturanalysen, Mutagenese und Prozessoptimierung ermöglichen Anwendungen.

Von Aminosäuresequenzen zu neuen Enzymfunktionen

Durch die stetig sinkenden Preise für Genomsequenzierung wächst die Zahl der sequenzierten Genome und mit ihr die Zahl der in silico identifizierten Gene, die für potenzielle Biokatalysatoren kodieren. Verlässliche Vorhersagen der Enzymeigenschaften, wie Substratpräferenzen oder Produktspezifitäten, sind jedoch schwierig. Über die letzten Jahre kristallisierte sich ein bestimmter Bioinformatikansatz heraus: Dabei wird aus einem groß angelegten, paarweisen Sequenzvergleich homologer Enzyme oder ganzer Enzymfamilien ein Ähnlichkeitsnetzwerk (sequence similarity network, SSN) erstellt. Das SSN wird in Untergruppen (Cluster) mit ähnlichen oder identischen Enzymfunktionen zerlegt. Werden nun bereits experimentell charakterisierte Enzyme in dem Netzwerk kartiert, lassen sich auch in großen Datensätzen schnell komplexe Sequenzverwandtschaften analysieren und Kandidaten für die experimentelle Charakterisierung wählen.

Beispielsweise wurde kürzlich die Familie der Flavin-abhängigen Halogenasen (FDHs) untersucht, um Kandidaten mit neuen Substratpräferenzen und Regioselektivitäten für die präzise Halogenierung mit Chlor oder Brom zu identifizieren.1) Fisher und Coautor:innen kartierten bekannte FDHs in einem Netzwerk von 3975 Sequenzen und wählten 128 Enzyme aus verschiedenen Clustern, um sie an zwölf Modellsubstraten wie substituierten Phenolen, Anilinen und Indolen zu untersuchen. Auf diese Weise ermittelten sie 39 aktive Enzyme, die sie anschließend an größeren, oft polycyclischen Substraten testeten. Sie entdeckten Enzyme mit hervorragenden Eigenschaften, etwa einem hohen Expressionsniveau in Escherichia coli und hohen Enzymaktivitäten, aber auch Enzyme mit komplementären Regioselektivitäten.1)

Komplementär dazu analysierten Jeon und Team die Untergruppe der bakteriellen, Tryptophan-spezifischen FDHs genauer.2) Mit einer stochastischen Nachbarschaftsanalyse (t-SNE) und experimenteller Charakterisierung identifizierten sie feste Sequenzmotive in der aktiven Tasche, die die Substrat- und Regiospezifität bestimmen.2)

Die Enzyme aus beiden Studien lassen sich nun konkret für Anwendungen als Biokatalysatoren untersuchen, während die Sequenzanalyse zudem wichtige Anhaltspunkte für noch gezieltere Studien innerhalb der Enzymfamilie liefert.

Um gezielt Methylgruppen an phenolischen Molekülen zu installieren, charakterisierten Haslinger und Coautor:innen Sauerstoff-gerichtete Methyltransferasen (OMTs) aus einem SSN von etwa 16 000 OMTs.3) Mit einem neuen Schnelltestverfahren wählten sie aktive Enzyme aus, die sie dann in einem rekombinanten Biosyntheseweg in E. coli einsetzten. Durch Anwenden des SSNs konnten sie ein breites Spektrum an Enzymen aufgrund von globaler Sequenzähnlichkeit wählen, obwohl bestimmte Sequenzmotive unterschiedlich waren, etwa die Reste der aktiven Tasche.3) Künftig lassen sich nun die Wirkungen dieser subtilen Sequenzunterschiede auf die Enzymaktivität untersuchen.

Für die asymmetrische oxidative Dearomatisierung von Azaphilonen suchten Pyser und Coautor:innen in einem SSN flavinabhängiger Monooxygenasen nach Enzymen, die (R)-Konfigurationen hervorbringen.4) Basierend auf ihren Experimenten mit Enzymen aus dem Netzwerk machten sie Sequenzmotive aus, die die Regio- und Enantiospezifität der Reaktion beeinflussen. Mit den neu identifizierten, komplementären Enzymen sind nun natürliche und unnatürliche Azaphilone chemoenzymatisch herstellbar.4)

Da groß angelegte Sequenzvergleiche grundsätzlich dazu dienen, Enzymfamilien sichtbar zu machen und deren Funktionen vorherzusagen, gibt es zudem viele Anwendungsbeispiele, die sich nicht auf das Einbringen funktioneller Gruppen beziehen, sondern auf primäre Stoffwechselwege5) oder Enzyme, die ein Naturstoffgrundgerüst herstellen6). Besonders die Weiterentwicklung von Webtools zur Erstellung von SSNs, wie das der Enzyme Function Initative (efi.igb.illinois.edu/efi-est/), erleichtert den Zugang zu dieser Methode und kann dazu beitragen, Enzymkandidaten für (chemo-)enzymatische Anwendungen bioinformatisch zu entdecken.

Di-Eisen-Enzyme in vitro

Oft gestalten sich Charakterisierung und Anwendung der Enzymkandidaten als schwierig – vor allem, wenn komplexe Kofaktoren involviert und keine homologen Enzyme bereits charakterisiert sind. Dies betrifft sowohl die In-vitro-Rekonstitution der Enzymreaktionen als auch die Strukturaufklärung als Basis für Mutagenesestudien. Besonders bei Eisen-abhängigen Enzymen aus Naturstoffbiosynthesewegen gibt es hierfür etliche Beispiele.

So ließ sich erst letztes Jahr die erste Kristallstruktur der aufstrebenden Superfamilie von Häm-Oxygenase-ähnlichen Di-Eisen-Oxidasen und -Oxygenasen mit instabilen Metallokofaktoren lösen, in der die aktive Tasche mit intaktem Di-Eisen-Kofaktor dargestellt ist.7) Dies gelang nur, indem das Team die Kofaktordynamik in die Kristallisationsstrategie einbezog. Damit ist die Grundlage für die Zuordnung enzymatischer Funktionen dieser neuen Proteinfamilie geschaffen.

Das kristallisierte Enzym, SznF, ist entscheidend in der Biosynthese des Naturstoffs und Krebsmedikaments Streptozotocin, da es den N-Nitrosourea-Pharmakophor zusammensetzt.7,8)

Rieske-nicht-Häm-abhängige Oxygenasen in vitro

Fortschritte gab es auch bei der Untersuchung Rieske-nicht-Häm-abhängiger Oxygenasen (ROs). Diese Enzyme sind wichtig für die späte Funktionalisierung von Sekundärmetaboliten, beispielsweise die späte oxidative Modifizierung der paralytischen Toxine von Schalentieren.9) Eine umfassende Strukturanalyse und Mutagenese zeigt nun, wie die beiden ROs SxtT und GxtA unterschiedliche Proteinregionen nutzen, um die ortsspezifische Selektivität ihrer katalysierten Monohydroxylierungsreaktionen zu beeinflussen.10) Diese neuen Erkenntnisse ermöglichen, diese Enzyme als Biokatalysatoren zu entwickeln, um damit nicht native paralytische Toxinanaloga für pharmakologische Studien herzustellen.

Zudem präsentierte Schmidts Gruppe ein lichtgetriebenes System zur Bereitstellung von Elektronen für Modell-ROs in E. coli, das den teuren Kofaktor NAD(P)H ersetzen kann.11) Diese Arbeit ist richtungsweisend für die Anwendung von ROs als Biokatalysatoren.

Cytochrom-P450 und Halogenasen in vitro

Auch in der Familie der Cytochrom-P450-Enzyme ist eine Untergruppe für nicht natürliche oxidative Kreuzkupplungen zur Biarylbindungsbildung nun besser untersucht.12) Basierend auf der natürlichen Funktion des bekannten Enzyms, KtnC, entwickelte ein Forscherteam durch semirationales Proteindesign eine Enzymvariante, die die gewünschte Reaktivität, ortsspezifische Selektivität und Atroposelektivität für mehrere nicht natürliche Kreuzkupplungen besitzt. Zudem wurde mit einem SSN die natürliche Reaktivität nah verwandter Enzyme untersucht und kartiert. Dies ermöglicht, effiziente biokatalytische Prozesse für Biaryle zu entwickeln.

Mit einem ähnlichen Ansatz zeigten Loiseleur, Buller und Kolleg:innen, wie kraftvoll computergestütztes Proteindesign ist, um eine α-Ketoglutarat-abhängige Halogenase (WelO5*) für die späte Funktionalisierung der komplexen und chemisch schwierig zu derivatisierenden Makrolide Soraphen A und C als potente Antimykotika zu optimieren.13) Solche selektiven Halogenierungen sind zur späten Funktionalisierung von Naturstoffen wichtig, da sie die biologische Aktivität und Wirksamkeit stark beeinflussen.

α-Ketoglutarat-abhängige Enzyme katalysieren auch andere synthetisch interessante Reaktionen. Wie Houk und Gulder zeigen, hat die α-Ketoglutarat-abhängige Dioxygenase AsqJ aus der Biosynthese des Naturstoffs Viridicatin neben ihrer natürlichen Funktion – der Umsetzung von Benzodiazepin-Substraten zu Chinolonen – auch eine bis dahin unentdeckte katalytische Aktivität.14) Diese lässt sich über die Art der Substituenten im Benzodiazepinediongrundgerüst ansteuern und erlaubt so, Chinazolinone biokatalytisch herzustellen.

Nachwort

Die Logik der Biosynthese zeigte sich erst vor etwa 25 Jahren mit den Fortschritten in der Genomik. Seitdem deckten Forschende erstaunliche neue Enzymmechanismen auf, die sich bisher chemisch nicht imitieren lassen. Biosynthetische Enzyme wurden (fast ausschließlich) lange Zeit untersucht, um biochemische Mechanismen zu erkennen. Das neu gewonnene Wissen dient Forschenden nun zunehmend dazu, mit biosynthetischen Enzymen als Biokatalysatoren Naturstoffe herzustellen.

  • 1 B. F. Fisher, H. M. Snodgrass, K. A. Jones, M. C. Andorfer, J. C. Lewis, ACS Cent. Sci. 2019, 5, 1844–1856
  • 2 J. Jeon, J. Lee, S.-M. Jung et al., mSystems 2021, 6(3):e0005321
  • 3 K. Haslinger, T. Hackl, K. L. J. Prather, Cell Chem. Biol. 2021, 28, 876–886.e4
  • 4 J. B. Pyser, S. A. Baker Dockrey, A. Rodríguez Benítez et al., J. Am. Chem. Soc. 2019, 141, 18551–18559
  • 5 T. M. M. Stack,K. N. Morrison, T. M. Dettmer et al., J. Am. Chem. Soc. 2020, 142, 1657–1661
  • 6 H. Meinert, D. Yi, B. Zirpel et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2021, 60, 16874–16879
  • 7 M. J. McBride, S. R. Pope, K. Hu et al., Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 2021, e2015931118
  • 8 T. L. Ng, R. Rohac, A. J. Mitchell, A. K. Boal, E. P. Balskus, Nature 2019, 566, 94–99
  • 9 A. L. Lukowski, D. C. Ellinwood, M. E. Hinze et al., J. Am. Chem. Soc. 2018, 140, 11863–11869
  • 10 J. Liu, J. Tian, C. Perry et al., Nat. Commun. 2022, 13, 255
  • 11 F. Feyza Özgen, M. E. Runda, B. O. Burek et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2020, 59, 3982–3987
  • 12 L. E. Zetzsche, J. A. Yazarians, S. Chakrabarty et al., Nature 2022, 603, 79–85
  • 13 J. Büchler, S. H. Malca, D. Patsch et al., Nat. Commun. 2022, 13, 371
  • 14 M. Einsiedler, C. S. Jamieson, M. A. Maskeri et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2021, 60, 8297–8302

Die Autorinnen

Kristina Haslinger ist seit 2020 Assistenzprofessorin an die Universität Groningen, Niederlande. Dort arbeitet ihre Gruppe unter anderem an natürlichen und rekombinanten Naturstoffsynthesewegen in Mikroorganismen. k.haslinger@rug.nl

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Sandy Schmidt ist seit 2020 mit einem Rosalind-Franklin-Stipendium Assistenzprofessorin an der Universität Groningen. Dort arbeitet sie unter anderem an eisenabhängigen Enzymen für die Wirkstoffsynthese. s.schmidt@rug.nl

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