Gesellschaft Deutscher Chemiker

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„Es muss kein emotionaler Striptease sein“

Nachrichten aus der Chemie, Mai 2025, S. 24-26, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Unsere Arbeit kann uns psychisch belasten, und unsere mentale Gesundheit kann unsere Leistungsfähigkeit beeinflussen. Psychotherapeutin Nora Dietrich hat mit den Nachrichten aus der Chemie über Stressfaktoren in der Chemiekarriere, Selbstfürsorge und Fehlerkultur gesprochen. Wie können Arbeitgebende und -nehmende für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz sensibilisieren und diese fördern?

Nachrichten aus der Chemie: Welche psychischen Belastungen sehen Sie in den verschiedenen Karrierestufen von Chemiker:innen?

Nora Dietrich: In Deutschland erkrankt pro Jahr etwa jede vierte Person psychisch. Studierende und Promovierende haben dabei ein sechsmal höheres Risiko, an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken als die Gesamtbevölkerung. Oft sind das High-Performer, die ein hohes Leistungsverständnis und einen hohen Anspruch an sich selbst haben. Das akademische System verstärkt diese Leistungsmuster und profitiert auch von ihnen.

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Foto: Alina Atzler

Scheitern ist keine Option.

Genau. Und wenn man nach der Doktorarbeit in der Wissenschaft bleiben möchte, geht es weiter: Publikations- und Leistungsdruck, man muss sich ständig beweisen. Nachwuchsforschende vergleichen sich und haben oft Selbstzweifel. Denn die Vergleiche hinken: Wir sehen nur die publizierten Arbeiten. Alle, die es nie bis zur Veröffentlichung schaffen, gehen unter. Wir beobachten bei Nachwuchswissenschaftler:innen vermehrt das Imposter-Syndrom: Sie haben das Gefühl, eigentlich nichts zu können und damit bald aufzufliegen.

Und in der chemischen Industrie?

In Unternehmen sind Stressfaktoren ein hoher Workload, enge Deadlines und fehlende Wertschätzung, monetär und zwischenmenschlich. Dazu kommen ständige Unterbrechungen und ein so voller Kalender, dass man glaubt, die eigentliche Arbeit nicht schaffen zu können: Wir kommunizieren auf drölf Plattformen, sitzen täglich in acht Meetings und sammeln To-Dos. Der Leistungsdruck steigt und wir vergessen, für uns selbst zu sorgen.

Wie lässt sich denn Selbstfürsorge mit ambitionierten Zielen in Einklang bringen?

Grenzen sind die Wurzel für Selbstfürsorge. Wir müssen reflektieren: Wozu kann ich Nein sagen? Wieso stelle ich meine Leistung im Job über andere Lebensbereiche? Will ich Anerkennung, Liebe, Geld, Absicherung? Leistung und Gesundheit sind kein Widerspruch, aber die innere Haltung muss stimmen. Pausen machen uns zum Beispiel leistungsfähiger.

Und wie kann ich die im Alltag einhalten, auch unter Zeitdruck und mit knappen Deadlines?

Mit der Pomodoro-Technik zum Beispiel: 90 Minuten arbeiten, fünf bis zehn Minuten Pause. Und das wirklich planen. Oder mit Habit-Stacking: Vielleicht habe ich gerade keine Zeit, einen halbstündigen Spaziergang zu machen. Aber ich kann spazieren gehen und währenddessen ein Telefonat erledigen oder mit einer Kollegin brainstormen. Wir können uns auch gegenseitig erinnern: Du bist gerade im Tunnel, warst du überhaupt mal auf der Toilette, hast du etwas gegessen? Komm, wir holen uns gemeinsam einen Kaffee.

Wie steht es in unserer Arbeitswelt um die Fehlerkultur, und wie beeinflusst sie die mentale Gesundheit?

Wir stehen mit unserer Fehlerkultur der OECD zufolge auf dem vorletzten Platz, hinter uns kommt nur Singapur (Anm. der Red.: Die OECD ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.) Bei uns sind Fehler nicht ok, wir sind perfektionistisch. Das erzeugt Angst und Druck. Wenn ein Fehler passiert ist, ist die erste Frage: Wer war es? Nicht: Was haben wir daraus gelernt, wie können wir das beim nächsten Mal verhindern?

In der Forschung braucht man ja auch Fehlexperimente, um zum Ergebnis zu kommen.

Genau, Innovation kommt durch Fehler: Think like a scientist. Allerdings denken nicht mal Scientists wie Scientists, weil Fehler schambehaftet sind. Wir müssen von einer Fehler- zu einer Lernkultur kommen. Kritisches Feedback tut nicht nur weh, sondern ist ein Evolutionsbeschleuniger.

Und positives Feedback?

Genauso. Wir müssen auch weg von: Nicht geschimpft ist genug gelobt. Oder generalisiertem Lob wie „gut gemacht“. Lob sollte konkret sein, damit wir daraus lernen.

Welche Rolle spielen Hierarchien beim Feedback?

Feedback sollten wir in alle Richtungen geben: Kolleg:innen, Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Führungskräfte bekommen oft wenig Feedback, vor allem kritisches, weil ihre Mitarbeitenden Angst vor negativen Konsequenzen haben oder sich denken: Du musst mir doch sagen, was ich wie machen soll. Aber eine Führungskraft muss ja auch verstehen, wie sie führen soll, damit ihre Mitarbeitenden sich gut fühlen.

Welche Tipps haben Sie da speziell für Promovierende, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Betreuer:innen stehen?

Zuerst einmal ist es eine eher irrationale Angst, dass jemand nicht offen ist für Kritik. Professor:innen haben im Zweifel selbst schwierige Promotionszeiten durchlebt und sollten offen sein fürs Lernen. Aber das kommt natürlich auf die betreuende Person an. Es kann auch sein, dass es negative Konsequenzen hat, wenn man Kritik äußert. Es hilft, das vorher zu evaluieren: War ich in Situationen dabei, in denen die Person kritisiert wurde? Wie hat sie reagiert? Wie sehr erleichtert es mein Leben, wenn ich mich traue, kritisches Feedback zu äußern? In jedem Fall sollte man sich auf ein solches Gespräch gut vorbereiten und konkrete Beispielsituationen nennen können, um sich sicher zu fühlen.

Werden psychische Störungen in der Arbeitswelt immer noch stark stigmatisiert?

Ja. Wir sprechen zwar mehr und mehr über Burnout, Stress, Depression oder Angst, gerade seit Corona. Allerdings ist das Stigma immer noch extrem: 60 Prozent aller Arbeitnehmenden haben im Job noch nie über mentale Gesundheit gesprochen, 50 Prozent aller Führungskräfte erkundigen sich nicht nach dem Befinden ihrer Mitarbeitenden. Aber es sollte in Ordnung sein, sich verletzlich zu zeigen.

Und wie schaffen Unternehmen den Schritt dahin?

Zuerst mal müssen Organisationsleitungen ihre Mitarbeitenden explizit einladen, über mentale Gesundheit zu sprechen. Das Zweite ist Selbstoffenbarung. Wir alle warten nur darauf, dass sich jemand verletzlich zeigt, damit wir auch sagen können, dass es uns schlecht geht. Im Idealfall macht das eine Führungskraft, aber jede:r kann damit beginnen, es muss ja kein emotionaler Striptease sein. Wir können zum Beispiel sagen, dass wir gerade nicht gut schlafen und deswegen weniger leistungsfähig sind.

Und was lässt sich in belastenden Phasen dann tun?

Toll ist es, wenn Unternehmen ein Employee-Assistance-Programm haben, bei denen Betroffene anonym und schnell professionelle Hilfe von externen Berater:innen bekommen, Coaching oder Therapie. Vorbeugend helfen Seminarangebote zu Burnout, Stress, Wellbeing oder Sport- und Bewegungsangebote. Außerdem ist es wichtig, dass Führungskräfte sensibilisiert sind und wissen, wie sie mit belasteten Personen reden und diese unterstützen.

Es gibt auch Programme, die Lai:innen zum Thema mentale Gesundheit schulen. Was halten Sie davon, und können Unternehmen davon profitieren?

Mentale Gesundheit ist eine Kompetenz, die wir lernen müssen, und die wenigsten von uns haben das. In solchen Programmen lernt man Gesprächsführung mit einer belasteten Person und welche Ressourcen es gibt, die die Person unterstützen können. Mental Health First Aid (MHFA) ist zum Beispiel ein tolles Programm. Allerdings sind die Geschulten keine professionellen Fachkräfte. Wenn sie dann von anderen eine Last bekommen, müssen sie auch damit umgehen, brauchen Inter- und Supervision. Für Unternehmen kann das ein Puzzleteil für mentale Gesundheit sein, aber nicht das einzige.

Sollte ich meinem Arbeitgeber von psychischen Erkrankungen erzählen?

Das ist eine individuelle Entscheidung. Rein arbeitsrechtlich muss man das nicht. Eine von zehn Personen erfährt Diskriminierung, nachdem sie ihre Diagnose geteilt hat. Trotzdem kann es Betroffenen helfen, wenn Arbeitgeber und Kolleg:innen wissen, dass sie gerade nicht so belastbar sind. Auf sag-ichs.de gibt es einen Selbst-Test, der dabei unterstützt, die richtige Entscheidung zu treffen.

Im Zuge ihrer Ausbildung zur Ersthelferin für mentale Gesundheit vernetzte sich Nachrichten-Redakteurin Katharina Käfer mit Mental-Health-Botschafterin Nora Dietrich auf der Karriereplattform LinkedIn.

Zur Person: Nora Dietrich

Nora Dietrich ist Psychotherapeutin, Coach und Autorin. Sie setzt sich für eine Arbeitswelt ein, die nicht auf Kosten der mentalen Gesundheit geht, sondern diese fördert. Im Kern ihrer Arbeit steht die Frage: Was brauchen wir, um unser Bestes zu geben – und trotzdem dabei gesund zu bleiben? Sie will Arbeit menschlich, nachhaltig und für alle gesünder machen. Als Gründerin und Co-Geschäftsführerin von Between People unterstützt sie Organisationen dabei.

Wenn Dietrich nicht gerade schreibt oder recherchiert, verbringt sie Zeit mit ihrem kleinen Sohn, in Gesprächen oder beim Sport – denn sie weiß: Ein gesundes Leben braucht mehr als nur Arbeit.https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cma243ss45d3706uf9u033cehMental Health at Work von Nora Dietrich. Vahlen 2025. ca. 250 Seiten, brosch. ca. 24,99 Euro. ISBN 978–3–8006–7557–9

Ihr Buch Mental Health at Work erscheint im Juni 2025. Es ist eine Mischung aus persönlichen Einblicken in die Komplexität des Lebens und praxisnahen Strategien für Unternehmen und Führungskräfte, die mentale Gesundheit nicht nur diskutieren, sondern aktiv in ihre Strukturen integrieren möchten.

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