Gesellschaft Deutscher Chemiker

Meinungsbeitrag

Tangiert mehr als peripher

Nachrichten aus der Chemie, Mai 2025, Seite 85, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Anfang März war ich mit meiner Familie in Berlin. Am Samstag wollten wir einkaufen und Kaffee trinken gehen. Pech – überall verschlossene Türen: Der Internationale Frauentag am 8. März ist Feiertag in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.

Ein Bekannter wünschte mir per Messenger „Alles Gute an die Betroffenen“. Ein Freund schrieb, er verstehe, woher dieser Tag komme und der sei ja leider auch immer noch notwendig. Was aber daraus gemacht würde, nämlich ein Tag Aufmerksamkeit und dann 364 Tage kein Thema mehr, fände er befremdlich.

Er hat recht. Und das ist auch der Grund, warum in diesem Heft ich hier schreibe und nicht wie üblich der Chefredakteur. Das bisschen Feierei gleicht die lebenslange Scheiße nicht aus. Der Weltfrauentag, ein feministischer Kampftag? Da kann ich nur lachen. Was Frauen wollen, sind Gleichstellung der Geschlechter, sexuelle Selbstbestimmung, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und faire Arbeitsteilung. Was Frauen bekommen, sind Blumen. Außerdem natürlich: ein schlechtes Gefühl eingeredet (wenn wir uns abweichend von der Norm verhalten) sowie Rechte und Kompetenzen abgesprochen (letztmals vor wenigen Wochen, als ein Autor einen von mir redigierten Text erst akzeptierte, als der Chef den gleichen Text in seinem Namen schickte). Ach ja, und nicht zu vergessen die sexuellen Übergriffe (erstmals mit 14, ein Freund meines Vaters).

Betroffen bin aber nicht nur ich – als weiße, deutschstämmige, studierte, heterosexuelle Cis-Frau in Deutschland bin ich sogar ziemlich privilegiert. Betroffen sind auch Männer, die gerne Elternzeit nähmen, exzellente Wissenschaftlerinnen, die ihre Karriere aufgeben, um Angehörige zu pflegen, oder Menschen, die sich nicht trauen, ihre Sexualität oder ihre nicht heteronormativen Beziehungen öffentlich zu machen. Weitere diskriminierte Menschen: Personen mit „nicht deutschen“ Namen, Männer in Frauenberufen, kinderlose Frauen – oder andersherum: Frauen mit „zu vielen“ Kindern. Und und und. Es braucht also keinen feministischen Kampftag. Es braucht einen Gleichstellungskampftag. Für alle.

Wir haben uns in Berlin dann das Reststück der Mauer angeschaut. Die DDR hat sich Zeit ihres Bestehens geweigert, den Zweck dieses Bauwerks offen auszusprechen. „Antifaschistischer Schutzwall“ hieß es offiziell, in Wahrheit sollte die Mauer die eigenen Leute einsperren. Und machen wir es nicht ähnlich bei gesellschaftlicher Diskriminierung? „Es ist doch schon so vieles besser geworden“ oder „Das muss man aushalten“ heißt es oft. Nein. Wir müssen die Mauern in unseren Köpfen einreißen. Und dafür gilt es zuerst einzusehen, dass es sie gibt.

Im Interskriptum schreibt normalerweise Chefredakteur Christian Remenyi. Aber dies hier ist ja das Schlaglichtheft Chancengleichheit. Also bekommt diesmal jemand anderes die Chance – nämlich Chefin vom Dienst Eliza Leusmann.

Wissenschaft + ForschungSchlaglicht Chancengleichheit

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